Soziale Innovation messbar und planbar machen
Soziale Innovationen müssen weder besonders teuer noch extrem zeitaufwendig sein. Das ist ein Fazit des zweijährigen Projekts "Portal für soziale Innovationen in der Alternshilfe" am Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), das aus Mitteln der Deutschen Fernsehlotterie gefördert wurde. Vielmehr kommt es darauf an, in kleinen, aber andauernden Lernprozessen die eigenen Haltungen, Strukturen und Prozesse kritisch auf den Prüfstand zu stellen, in den Dialog zu treten und Perspektiven auszutauschen, Mitstreiter:innen zu gewinnen und neue Wege zu gehen. Dieser Prozess bedeutet weitaus mehr, als nur dem Trend sozialer Innovation zu folgen. Er muss als wichtiger Auftrag gemeinwohlorientierter Organisationen oder Projekte betrachtet werden. Bei der Entwicklung sozialer Innovationen geht es um nicht weniger als um die Realisierung der Menschenrechte, der Teilhabe, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, für die jede gemeinnützige Organisation Verantwortung trägt.
Ein Instrument für soziale Innovation
Im Rahmen des PosIA-Projekts wurde ein Tool vermittelt, das Projekte und Organisationen befähigt, soziale Innovationen umzusetzen, und Förderorganisationen hilft, innovative Projekte zu erkennen oder zu beraten. Der PosIA-Index (Index Soziale Innovation für das Altern) ist das Ergebnis einer vierjährigen Entwicklungsarbeit am KDA und gefördert aus Mitteln der Deutschen Fernsehlotterie.
Die Entwicklung des PosIA-Index wurde wissenschaftlich begleitet. Über 200 innovative Projekte wurden ausgewertet, und der Index selbst wurde mehrfach validiert. Begleitende Materialien dazu wurden in Testphasen mit Fachpersonen aus dem Feld der Pflege, der kommunalen Verwaltung, aus Start-ups und Plattformen entwickelt und angepasst. In diesen Lernprozessen mit Akteur:innen aus der Praxis hat sich gezeigt, dass das Tool vielseitig ist, es Freude macht, damit zu arbeiten, und dass es das Potenzial hat, Lösungswege nicht nur anzuzeigen, sondern hilfreich zu begleiten.
Der PosIA-Index bietet einen Katalog von Leitfragen, mit dem der Ist-Zustand von Projekten analysiert werden kann. Zugleich projiziert er positive Zukunftsbilder und bietet Orientierung, um Projekte und Prozesse mit einer hohen Innovativität zu entwickeln. Dem Index liegt ein tiefes Verständnis für komplexe Zusammenhänge zugrunde, und er stellt auf der Basis eines Indikatorensystems ein neues Instrument zur Verfügung, mit dem die Erkenntnisse aus der Gestaltung von komplexen Systemen praktisch umgesetzt werden können. Weder reduziert das Instrument dabei die Komplexität des Problems, noch gibt es eine einfache Lösung vor. Für das Verständnis sozialer Innovationen gilt hierbei, dass Neues nicht automatisch besser ist. Entscheidend ist vielmehr, an welchen Zielen sich Innovationen orientieren, mit welcher Haltung sie umgesetzt werden, dass sie von Zufällen, vom Unvorhersehbaren beeinflusst werden, dass sie in Netzwerken stattfinden und Synergien entspringen.
Ziel und Mission
Das Grundgerüst des PosIA-Index bilden zwölf Merkmale der sozialen Innovation für das Altern. Sie können als Handlungsfelder verstanden werden, die zur Sicherung der Menschenwürde im Alter(n), das heißt laut Sozialgesetzbüchern der Teilhabe, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit, führen. Das stärkt zugleich die Gesundheit alternder Menschen ganzheitlich auf physischer, psychischer und sozialer Ebene. Der PosIA-Index will darüber hinaus zur Stärkung der planetaren Gesundheit und globalen Solidarität beitragen.
Die zwölf Merkmale (siehe Kasten rechts) lassen sich nicht schablonenartig auf immer dieselbe Weise umsetzen. Sie werden von Mitarbeiter:innen und Führungskräften gemeinsam mit den Zielgruppen, zum Beispiel den Gästen von Einrichtungen, in gemeinsamen Lernprozessen gestaltet. Je nach Kontext und Bedarfen entstehen so Schritt für Schritt individuelle Wege, die ein einzigartiges Bild prägen.
Anwendung und Nutzen
Im Gegensatz zur üblichen Praxis, die Wirkung von Projekten erst im Nachhinein zu messen, ermöglicht der PosIA-Index, die soziale Innovativität eines Projekts bereits im Anfangsstadium einzuschätzen, Stärken und Entwicklungspotenziale zu erkennen. Er bietet Wirkungsmessung im Vorhinein. Dies gibt Projekten die Chance, von Beginn an sozial innovative und wirksame Lösungen zu entwickeln. Der Index ist speziell auf die Thematik des Alter(n)s zugeschnitten, lässt sich aber auch auf andere Zielgruppen übertragen. Das Tool ist in zwei Versionen verfügbar: ein Kerntool mit 74 Fragen und ein ausführliches Tool mit 232 Fragen. Obwohl es auf den ersten Blick komplex und zeitaufwendig erscheinen mag, hat es sich in der Praxis als handhabbar und nützlich erwiesen. Trotz der vielen Kriterien ermöglicht es eine schnelle Auswertung.
Praxisbeispiele und Erfahrungen
Verschiedene Projekte und Organisationen aus den Testphasen des PosIA-Projekts wenden den Index bereits erfolgreich an. Mehrere Organisationen setzen ihn ein, um sich selbst zu evaluieren und innovative Lernprozesse anzuregen oder um andere Organisationen zu beraten. Einige Akteur:innen haben rückgemeldet, sich durch den PosIA-Index inspiriert und motiviert zu fühlen, soziale Innovationen umzusetzen oder laufende Projekte zu prüfen. Die Sächsische Generationenagentur hat den Index erstmals als Bewertungsinstrument für die Qualifizierungsrunde eines Jury-Votings für den ALVI-Award (Alters-Vielfalts-Preis für Generationenarbeit in Sachsen 2024) eingesetzt. Dabei wurden die darauf basierenden Projektbögen sowohl der Jury als auch den Projektträgern zur Verfügung gestellt und eine mehrstufige Bewertungsmethode entwickelt. Mit dem Index wurde das Auswahlverfahren objektiv, transparent und lernintensiv. Die Preisvergabe profitierte von den klaren Kriterien, insbesondere dem Merkmal "Alternsbilder neu gestalten", und führte zu einem umfassenden und reflektierten Prozess für alle Beteiligten. »
Ein anderes Projekt der Alters-Institut gGmbH in Kooperation mit dem SONG-Netzwerk, das darauf abzielt, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz in Langzeitpflegeeinrichtungen zu verbessern (LIFE - Lebensqualität durch integrative Forschung und evidenzbasierte Entwicklung), nutzt derzeit den PosIA-Index für die Erstellung von Assessments, um zu messen, wie sich Gesundheit und Wohlbefinden von Menschen mit Demenz und die Arbeitsbedingungen in den beteiligten Pflegeeinrichtungen erhöht.
Mitmachen
Der PosIA-Index ist kostenfrei verfügbar und kann auf der Website des Kuratoriums Deutsche Altershilfe heruntergeladen werden (http://kda.de/posia_index). Das Team hinter dem PosIA-Index lädt alle Interessierten ein, das Tool auszuprobieren und die Mission weiterzutragen. Für weitere Informationen und Unterstützung bei der Anwendung des PosIA-Index wenden Sie sich bitte per E-Mail an info@posia.org
Wie soziale Innovationen in der Praxis umgesetzt werden können
Zwölf Merkmale der sozialen Innovation für das Alter(n)
1. Bilder vom Alter(n) neu gestalten. Hinterfragen Sie herkömmliche und oft negativ konnotierte Alter(n)sbilder und ersetzen Sie diese durch vielfältige, realistische Darstellungen.
2. Die Perspektive wechseln. Berücksichtigen Sie die Sichtweisen und Erfahrungen älterer Menschen und beziehen Sie ihre Perspektiven in die Gestaltung von Projekten und Maßnahmen ein.
3. Den Zusammenhalt stärken. Binden Sie Menschen jeden Alters mit ihren Stärken und Ressourcen in gesellschaftliche Aufgaben ein und fördern Sie damit den Generationenzusammenhalt und das solidarische Gemeinschaftsgefühl.
4. Barrieren abbauen. Bauen Sie physische, soziale und digitale Barrieren ab und schaffen Sie damit eine inklusivere und zugänglichere Umgebung.
5. Selbstwirksamkeit erfahren. Fördern Sie Gestaltungsmöglichkeiten, die
ältere Menschen ermutigen, eigene Ideen zu entwickeln und selbstbestimmt zu handeln.
6. Resilienz entwickeln. Stärken Sie die Fähigkeit Einzelner und von Gemeinschaften, mit Krisen umzugehen.
7. Handeln aus Überzeugung. Ermöglichen Sie es, dass Mitarbeiter:innen und alle Beteiligten aus innerer Überzeugung handeln und sich für Werte einsetzen, die die Selbstbestimmung und Würde alternder Menschen schätzen und fördern.
8. Für Werte einstehen. Setzen Sie sich für grundlegende Werte wie Menschenwürde, Teilhabe und Selbstbestimmung ein - auch gegen Widerstände!
9. Miteinander lernen. Entwickeln Sie Lernprozesse, tauschen Sie sich aus zwischen verschiedenen Generationen und Gruppen, um gemeinsame Ziele zu erreichen.
10. Bereit sein für Veränderung. Bleiben Sie flexibel und offen für Veränderung und neue Herausforderungen, um sich immer wieder an neue Bedingungen anzupassen und Veränderungen mitzugestalten.
11. Neue soziale Räume hervorbringen. Schaffen Sie neue, inklusive, soziale Räume, in denen alternde Menschen aktiv teilnehmen und sich engagieren können.
12. Wissen verbreiten. Teilen und verbreiten Sie ihr Wissen und Ihre Erfahrungen, damit Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden können.