Versorgung im ländlichen Raum: Das Modell „IstZeitPflege“
Weite Wege, zunehmender Fachkräftemangel, unzureichende Infrastruktur und demografische Veränderungen: Die Herausforderungen der ambulanten Pflege im ländlichen Raum gefährden die qualitativ hochwertige Versorgung. Pflegekräfte, Pflegebedürftige und Pflegedienste stehen vor immensen Aufgaben. Ein "Weiter-so" in bisherigen Systemen ist nicht die Lösung.
Um die Situation nachhaltig zu verbessern, bedarf es innovativer Ansätze, wie von der Caritas Hochrhein seit 2019 erfolgreich mit der "IstZeitPflege" erprobt. Eine individuelle Planung der Pflege und Abrechnung nach tatsächlich dafür benötigter Zeit erlaubt eine flexible, bedarfsorientierte Versorgung. Die Einsätze werden passgenauer und effizienter, zudem sind alle Beteiligten zufriedener. Mittlerweile haben die Sozialstationen Dreisamtal und Oberes Bregtal das Modell übernommen. Der Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg arbeitet an der Verbreitung der "IstZeitPflege", um die Herausforderungen der ambulanten Pflege im ländlichen Raum zu meistern:
Weite Wege und fehlende Infrastruktur
Im ländlichen Raum sind die Entfernungen zwischen den Haushalten der Pflegebedürftigen oft groß. Das erhöht Fahrtzeiten und -kosten und führt dazu, dass nur eine begrenzte Zahl an Klientinnen und Klienten pro Tag versorgt werden kann. Die vielerorts fehlende Infrastruktur, wie beispielsweise öffentliche Verkehrsmittel, erschweren die Mobilität von Pflegekräften zusätzlich.
Fachkräftemangel
Der Fachkräftemangel trifft ländliche Regionen besonders hart. Pflegekräfte ziehen häufig in urbane Gebiete, wo sie bessere Karrierechancen vermuten, kürzere Wege und eine umfangreichere soziale Infrastruktur vorfinden. Viele ambulante Dienste in ländlichen Gebieten sind deshalb nicht in der Lage, alle Anfragen zu bedienen. Das wiederum führt zu einer stärkeren Belastung der pflegenden An- und Zugehörigen.
Demografischer Wandel
Der demografische Wandel trifft besonders ländliche Gebiete, da junge Menschen verstärkt abwandern. Der steigende Anteil älterer Menschen erhöht die Nachfrage nach Pflegeleistungen und überlastet die bereits knappen Ressourcen. Gleichzeitig können weniger An- und Zugehörige eine unterstützende Rolle übernehmen.
Finanzierung und ungleiche Verteilung
Die Finanzierung der ambulanten Pflege ist häufig nicht auf die spezifischen Herausforderungen ländlicher Gebiete ausgerichtet. Pflegeleistungen werden in der Regel pauschal abgerechnet, ohne die zusätzlichen Kosten für längere Fahrtwege oder den erhöhten Zeitaufwand in dünn besiedelten Regionen zu berücksichtigen.
Statt pauschaler Vorgaben tatsächliche Zeit abrechnen
Die "IstZeitPflege" bietet für diese Herausforderungen einen zukunftsweisenden Ansatz. Statt nach pauschalen Zeitvorgaben für einzelne Pflegehandlungen wird die tatsächlich aufgewendete Zeit erfasst und abgerechnet. Dies bringt mehrere Vorteile mit sich:
◆ Bedarfsorientierte Pflege: Pflegekräfte wollen und sollen zufrieden mit ihrer Tätigkeit und ihrem Beruf sein und dabei Wertschätzung erfahren. Im Modell der "IstZeitPflege" können sie die Pflege besser auf Prävention und Rehabilitation ausrichten und eigenverantwortlich agieren. Sie bekommen einen Rahmen, in dem sie ihre Fachlichkeit ausspielen können - das Herzstück der "IstZeitPflege". Auf gesellschaftlicher und politischer Ebene werden die Professionalität und die Bedeutung der ambulanten Pflege anerkannt.
◆ Sachgerechte Refinanzierung: Die Anerkennung der tatsächlichen Pflegezeiten und auskömmliche Stundensätze durch Einzelverhandlungen sorgen für eine bessere Refinanzierung der entstehenden Kosten.
◆ Optimierung der Ressourcen: Durch die präzise Dokumentation können Einsätze effizienter geplant werden, was besonders in Regionen mit langen Fahrtwegen von Vorteil ist. Im Rahmen der "IstZeitPflege" wird genau eruiert, wo es die professionelle Pflege tatsächlich braucht, wo auch andere Unterstützungsformen greifen oder die Pflegebedürftigen in die Lage versetzt werden können, wieder selbstständiger zu werden.
Zusätzliche Lösungsansätze zur Stärkung der Pflege auf dem Land
Neben der "IstZeitPflege" können weitere Maßnahmen dazu beitragen, die ambulante Pflege im ländlichen Raum zu stärken:
Digitalisierung und Telepflege
Digitale Technologien wie Telepflege und mobile Pflegesoftware ermöglichen eine effizientere Organisation der Pflege und reduzieren den Bedarf an physischen Hausbesuchen. Pflegekräfte könnten beispielsweise Gesundheitsdaten der Klientinnen und Klienten aus der Ferne überwachen oder Videoanrufe nutzen, um An- und Zugehörige anzuleiten. Pflegekassen und Leistungserbringerverbände haben hierzu eine Anlage zum Rahmenvertrag über ambulante pflegerische Versorgung gemäß § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg vereinbart: die Leistungserbringung unter Einsatz von Telekommunikationstechnik im Rahmen eines Erprobungszeitraums vom 1. Januar 2024 bis 31. Dezember 2025. Werden Leistungen im Sinne der Anleitung, Beratung und Beaufsichtigung erbracht, können auch analoge und digitale Telekommunikationstechniken wie Telefon, Messengerdienste oder Videodienste zum Einsatz kommen. Die Leistung wird dann über (Video-)Telefonie oder in Videokonferenzen durchgeführt. Der Einsatz von Telekommunikationstechniken erfolgt ausschließlich auf Wunsch der Versicherten und wird als ergänzende Maßnahme zur aufsuchenden Versorgung in der Häuslichkeit gesehen.
Förderung der Fachkräftegewinnung
Gezielte Anreize wie finanzielle Förderprogramme, kostenfreie Weiterbildungen oder die Bereitstellung von Wohnraum könnten Pflegekräfte dazu bewegen, sich im ländlichen Raum niederzulassen.
Regionale Vernetzung
Eine stärkere Kooperation zwischen Pflegediensten, Ärztinnen und Ärzten, Apotheken und sozialen Einrichtungen könnte Synergien schaffen. Dies würde nicht nur Doppelarbeit und -strukturen vermeiden, sondern auch die Betreuung der Klientinnen und Klienten verbessern.
Ambulante Pflege auf dem Land braucht innovative Lösungen
Die ambulante Pflege im ländlichen Raum benötigt dringend innovative und flexible Lösungen, um den wachsenden Herausforderungen gerecht zu werden. Die "IstZeitPflege" stellt hierbei einen vielversprechenden Ansatz dar, da sie eine realistische und faire Organisation der Pflege ermöglicht und die Bedarfe der Pflegebedürftigen in den Mittelpunkt stellt. Auch zur Fachkräftegewinnung ist dieses Modell sehr gut geeignet, da Pflegekräfte in ihrer Fachlichkeit gestärkt werden und selbstverantwortlich arbeiten können.
Ambulante Pflege ist aufgrund der Abrechnung in Leistungsmodulen häufig mit Zeitdruck verbunden. Die festgelegten Leistungen umfassen eng definierte Tätigkeiten - unabhängig davon, ob die Klientinnen und Klienten dabei in diesem Moment Unterstützung benötigen. Für jedes Modul wird ein fixer Betrag von der Pflegekasse gezahlt. Unabhängig davon, wie viel Zeit tatsächlich gebraucht wird, kann immer nur der gleiche Betrag in Rechnung gestellt werden. Das kann dazu führen, dass Pflegekräfte immer schneller arbeiten müssen, um eine Kostendeckung zu erreichen. Diese Arbeitsverdichtung ist ein oft genannter Grund für den Ausstieg aus dem Pflegeberuf.
Doch gerade in der Pflege ist Zeit ein wertvolles Gut. Deshalb ist die "IstZeitPflege", bei der die tatsächlich erbrachte Zeit abgerechnet wird, die eine Pflegekraft mit der Versorgung verbringt, so gleichermaßen interessant für Klientinnen, Klienten und Mitarbeitende. Benötigt eine Person zum Beispiel nur Hilfestellung beim Duschen und Kämmen, kann sich aber selbst die Zähne putzen, wird auch nur die für diese Hilfe benötigte Zeit berechnet. Die Pflegekräfte entscheiden eigenverantwortlich und in Abstimmung mit den Klientinnen und Klienten, welche Maßnahmen benötigt werden. Es kann flexibel nach Tagesform entschieden werden, wie viel Zeit bei einem Besuch benötigt und was gemacht wird. Diese Individualität ist im Modell mit Leistungsmodulen so nicht vorgesehen.
Bei der "IstZeitPflege" werden keine Zeiteinheiten, sondern individuelle Maßnahmen vereinbart. Aufgrund der Maßnahmenplanung werden Zeitbedarfe für die Tourenplanung und die Kostenvoranschläge kalkuliert. Abgerechnet wird später die jeweils tatsächlich benötigte Zeit. Durch das passgenaue Zuschneiden der Maßnahmen und die Ausrichtung auf Rehabilitation und Prävention sowie den Fokus auf Schulung und Anleitung können Kapazitäten frei werden für Pflegebedürftige, die bisher keine Versorgung haben.
In Kombination mit Digitalisierung, einer besseren Vernetzung der Akteure und gezielten Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung kann die "IstZeitPflege" dazu beitragen, die ambulante Pflege zu stärken und zukunftsfähig zu machen. Nur durch ein Bündel solcher Maßnahmen kann es gelingen, die Lebensqualität und Versorgung der Pflegebedürftigen zu sichern und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte nachhaltig zu verbessern.