Das Friedensprojekt Europa braucht frischen Wind
Die europäische Integration und die Gründung der heutigen Europäischen Union (EU) sind eines der erfolgreichsten politischen Friedensprojekte der vergangenen Jahrzehnte. Mit dem "erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte" und der "stabilisierende[n] Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens"1 begründete daher das norwegische Nobelkomitee die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die EU.
Entstanden ist die heutige EU aus den Erfahrungen zweier Weltkriege, die ihren Ursprung beide in Europa nahmen. Um Versöhnung zwischen den europäischen Völkern anzuregen und einen weiteren Krieg zwischen den "Erbfeinden" Deutschland und Frankreich unmöglich zu machen, schlug der französische Außenminister Robert Schuman 1950 vor, die kriegswichtigen Industrien Kohle und Stahl gemeinschaftlich zu verwalten. Die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" war die erste in einer Reihe supranationaler Institutionen, die durch eine enge wirtschaftliche Verflechtung ihrer Mitgliedstaaten Frieden und Wohlstand sicherstellen sollten. Bis heute hat die Europäische Union trotz ihrer komplexen Strukturen, langwierigen Diskussionen und Kompromisse gewährleistet, dass Konflikte innerhalb ihrer Grenzen friedlich und auf demokratische Weise gelöst werden. Doch kann die Europäische Union mit ihrer derzeitigen Politik auch in einer Welt sich überschneidender Krisen und erstarkender rechtsradikaler Strömungen weiterhin eine Garantin für Frieden innerhalb der EU und für ihre Nachbarstaaten sein?
Der Deutsche Caritasverband arbeitet mit seiner Kontaktstelle Politik Europa in Brüssel und gemeinsam mit dem europäischen Caritas-Netzwerk Caritas Europa sowie weiteren Partnern intensiv daran mit, das Friedensprojekt Europäische Union zu erhalten und zu gestalten. Die Caritas ist überzeugt, dass nur gemeinsam eine friedliche, lebenswerte Zukunft in Europa gesichert werden kann. Grundlage der Zusammenarbeit in Europa muss dabei Respekt gegenüber den verschiedenen politischen und sozialen Systemen, Solidarität untereinander und mit den Schwächeren, aber auch die uneingeschränkte Anerkennung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit sein.
EU-Politik muss sich der großen sozialen Unterschiede annehmen
Während der Deutsche Caritasverband von der Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit der Europäischen Union insgesamt zutiefst überzeugt ist, so ist die aktuelle Politik der EU aus Sicht der Caritas in vielen Bereichen kritik- und verbesserungswürdig. Noch immer gibt es in Europa innerhalb der und zwischen den EU-Mitgliedstaaten große Unterschiede, was den Lebensstandard und die soziale Absicherung der Menschen angeht. Diese Unterschiede können zu gesellschaftlichen Spaltungen innerhalb Europas, aber auch zu unfreiwilliger EU-Binnenmigration führen.
Um hier entgegenzuwirken, müssen weitgehende Mindeststandards für soziale Sicherungssysteme in der EU eingeführt werden. Dabei strebt die Caritas keine Vereinheitlichung der nationalen Systeme an, sondern eine europaweite Grundlage und Verständigung darüber, wie ein menschenwürdiges Leben in allen EU-Mitgliedstaaten sichergestellt werden kann. In der 2024 endenden Legislaturperiode hat die EU mit einer verbindlichen Mindestlohnrichtlinie bereits einen wichtigen Schritt gemacht. Nun fordert der DCV, diesen Weg mit einer rechtsverbindlichen Rahmenrichtlinie für nationale Grundsicherungssysteme weiterzugehen. Auch die 2022 vom Rat angenommene Europäische Strategie für Pflege und Betreuung muss in allen Mitgliedstaaten umgesetzt und insbesondere die Situation von Live-in-Pflegenden und Wanderpflegekräften sowie informell Pflegenden verbessert werden. Mobile EU-Arbeitskräfte aller Branchen benötigen faire und rechtssichere Beschäftigungsbedingungen, um ihre Freizügigkeitsrechte in Anspruch nehmen zu können.
Solidarität und Wahrung der Menschenrechte müssen auch die Grundlage für den Umgang der EU mit geflüchteten Menschen sein. Dabei braucht es eine Neuausrichtung der EU-Asylpolitik. Die europäischen Erstaufnahmeländer müssen entlastet und das Gemeinsame Europäische Asylsystem muss an den Bedürfnissen der Schutzsuchenden ausgerichtet werden. Der individuelle Flüchtlingsschutz sowie angemessene Aufnahmebedingungen und vergleichbare Verfahrens- und Qualitätsstandards in den Mitgliedstaaten müssen gewährleistet sein. Zudem müssen legale, sichere Einwanderungsmöglichkeiten in die EU für Menschen jedes Bildungsstandes und jedweder Herkunft ausgebaut werden.
Zur Angleichung der Lebenschancen hat die Europäische Union mit ihrer Kohäsionspolitik ein mächtiges Umverteilsystem geschaffen, das langfristig ausgerichtet sein und präventiv wirken soll: Mit Strukturfonds wie dem Europäischen Sozialfonds fördert die EU Projekte in allen Regionen der EU, wobei jedoch weniger entwickelte Regionen mehr Gelder zugewiesen bekommen als stärker entwickelte. Auch die Caritas profitiert in zahlreichen Projekten in Deutschland von diesen europäischen Fördergeldern. Aus ihrer Sicht ist es unverzichtbar, dass die Kohäsionsfonds und insbesondere der Europäische Sozialfonds finanziell stark aufgestellt sind, dass sie in allen Regionen investieren kann und die Beantragung und Abrechnung der Gelder radikal vereinfacht wird.
Mehr in Austausch und direkte Begegnung investieren
Zugleich muss mehr in direkte Begegnungen der Menschen in Europa über die Landesgrenzen hinweg investiert werden, etwa über die Stärkung des Programms "Erasmus+". Nur so kann die EU mit ihren Förderprogrammen weiterhin zum Frieden in Europa beitragen.
In Zukunft wird Friedenssicherung weltweit noch stärker davon abhängen, wie wir mit Entwicklungen im digitalen Bereich umgehen. Die EU übt eine weltweit führende Rolle beim Regulieren der Digitalisierung aus. Maßgeblich für einen fairen digitalen Wandel ist für die Caritas, allen Menschen digitale Teilhabe zu ermöglichen. Dies beinhaltet unter anderem auch eine "mehrkanalfähige" Verwaltung, die digital wie analog erreichbar ist. In der EU muss hierfür neben dem flächendeckenden Ausbau einer modernen Infrastruktur verstärkt in den Aufbau digitaler Kompetenzen investiert werden. Unerlässlich ist auch die gemeinwohlorientierte Nutzung gesellschaftlich relevanter Daten, zum Beispiel durch die Schaffung eines europäischen Sozialdatenraums.
Auch der Umgang mit der Klimakrise entscheidet weltweit, aber auch innerhalb Europas darüber, ob Frieden langfristig gesichert werden kann. Konsequenter Klimaschutz bekämpft Armut und Ungleichheit, da auf jeder Ebene die Ärmsten von der Klimakrise am stärksten betroffen sind. Der Deutsche Caritasverband setzt sich daher gegenüber der EU dafür ein, dass die Maßnahmen des europäischen Grünen Deals umgesetzt und verstärkt werden. EU-Vorgaben zur Energieeffizienz, auch im Gebäudesektor, sind von entscheidender Bedeutung für einen gerechten Übergang. Auch die Veränderung der Mobilität trägt in erheblichem Maße dazu bei, dass die EU ihre Klimaziele erreicht. Bus- und Bahnverbindungen müssen europaweit ausgebaut und die Taktung erhöht werden. Gleichzeitig muss der öffentliche Personennahverkehr günstiger gestaltet werden. Die Europäische Union muss gezielt Finanzmittel für die Mobilitätswende bereitstellen und klimaschädliche Subventionen von Mitgliedstaaten beanstanden.
Um den Frieden innerhalb Europas langfristig zu sichern, müssen alle Menschen in Europa an politischen Entscheidungen beteiligt und ihre Wünsche und Hoffnungen, aber auch Ängste und Sorgen ernst genommen werden. Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 6. bis 9. Juni 2024, dessen Abgeordnete die Bürgerinnen und Bürger der EU vertreten, sind entscheidend dafür, welche Richtung die EU in den nächsten Jahren einschlagen wird. Je mehr Menschen sich an den Wahlen zum EU-Parlament beteiligen, desto stärker ist die einzige direkt gewählte Institution der Europäischen Union und desto eher kann das Demokratiedefizit der EU ausgeglichen werden.
Populistische Strömungen treiben die gesellschaftliche Spaltung voran
Populistische und europafeindliche Strömungen in allen EU-Mitgliedstaaten treiben die Spaltung der europäischen Gesellschaften voran und gefährden Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa. Mit ihrer Vision einer friedlichen, solidarischen und sozialen EU setzt sich die Caritas für ein Gelingen des europäischen Friedensprojektes ein. Deshalb entwickelt der Deutsche Caritasverband derzeit ein Forderungspapier anlässlich der Europawahlen 2024, in dem neben seiner Vision von Europa konkrete Forderungen aufgestellt werden, welche Initiativen die EU innerhalb ihrer gesetzgeberischen Kompetenzen in der Legislaturperiode 2024-2029 unbedingt angehen und umsetzen muss. Zusammengenommen sind diese Vorschläge alles Schritte hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Teilhabe und Solidarität mit den Menschen in Europa. All diese Schritte führen langfristig dazu, dass die Europäische Union auch in Zukunft den vielen sich überlagernden Krisen standhalten kann und Frieden sichert.
1. Der Wortlaut der Begründung des Nobelkomitees ist hier nachzulesen: www.tagesschau.de/ausland/friedensnobelpreis-eu-ts-102.html
Zukunft mit jungen Geflüchteten
Frieden: zu Hause, in Europa, weltweit
Wo Not ist, hat auch größtmögliche Hilfe zu sein
Teilhabe erfahren – Unterstützung evaluieren
Soziale Arbeit mit „grüner“ Technik
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