Caritas steht für Frieden und Versöhnung
Philipp Spalek/Caritas international
Das Agendathema des Deutschen Caritasverbandes für das Jahr 2024 lautet: "Caritas in Kriegs- und Krisenzeiten - Für Frieden und Versöhnung". Die aktuelle politische Bedeutung des Themas ist offensichtlich. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie es zu einem freien Wohlfahrtsverband in Deutschland passt, der seine Tätigkeitsschwerpunkte in der Hilfe für Kinder- und Jugendliche, Familien, alte Menschen, Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen setzt. Auf den ersten Blick hat nur die Auslandshilfe Caritas international mit Kriegen und deren Folgen zu tun.
Der erste Schritt, sich dem Thema zu nähern, wirft einen Blick auf Szenen einer Geschichte der Caritas in Kriegs- und Krisenzeiten. Der zweite auf die Bedeutung von Kriegen, Friedens- und Versöhnungsbemühungen für die Caritas.
Caritas in Kriegs- und Krisenzeiten
Die Gründung des Deutschen Caritasverbands erfolgt zur Zeit des Deutsches Kaiserreichs. Die Ära des Reichskanzlers Otto von Bismarck war wenige Jahre vorher zu Ende gegangen und Wilhelm II. zog die Regierungsgeschäfte an sich. In dieser Zeit rief Lorenz Werthmann am zweiten Caritastag in Köln zur Gründung des Caritasverbandes auf.1 Prälat Lorenz Werthmann war ein Mann des katholischen Milieus seiner Zeit. Offen für die Ideen der Christianisierung der Kolonien und einer deutschnational gefärbten Billigung des Ersten Weltkrieges, setzte er sich mit einem vielschichtigen Hilfsangebot für die Kriegsopfer ein, die zurückgebliebenen Familien, die Kinder und die verwundeten Soldaten.
Mitten in den Schrecken des Ersten Weltkriegs im Jahr 1916 sprachen die deutschen Bischöfe dem Caritasverband die Anerkennung aus. Es war die massenhafte Anzahl der Verstümmelten, der Toten. Es waren die Erlebnisse des Krieges, die viele in die Alkoholsucht trieben. Die sogenannte "Trinkerfürsorge" für die rückkehrenden traumatisierten Soldaten gehörte zu den Hauptaufgaben der jungen Caritasverbände. Die Caritas in Frankfurt kümmerte sich um Erholungsaufenthalte für unterernährte Kinder2, und in Dresden versuchte man, Vormundschaften für die Waisen des Kriegs zu finden.
Viele Schritte bis zur Integrationsarbeit
Mit der Gleichschaltung sämtlicher Verbände zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt zu Beginn der 1930er-Jahre kam es zum Verbot und zur Unterdrückung von Sozialinitiativen, die nicht nationalsozialistisch geleitet waren. Die Caritas war, trotz erheblicher Einschnitte, nicht vollständig davon betroffen.3 So konnte sie beispielsweise 1944 im Bistum Rottenburg nach der Bombardierung der Städte Nothilfen bereitstellen. Deutschlandweit sammelten Caritas und Diakonie Millionen von Kontaktdaten. Der Kirchliche Suchdienst entstand.4 In Bayern wurde ein Anwachsen der Bevölkerung von sieben auf 9,3 Millionen verzeichnet. Flüchtende wurden in Massenunterkünfte zusammengeführt. Ehrenamtliche verteilten die ausländischen Hilfen. Die Vermittlung von Arbeit musste organisiert werden. Ein Beispiel aus der Bahnhofsmission in Würzburg an einem Tag im November 1948: 3960 Tagesdurchgänge, 6466 Übernachtungen, 2217 Frühstücke, 2671 Mittag- und Abendessen.5
Die 1921 gegründete Caritas-Auslandshilfe konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihr internationales Netzwerk aufbauen.6 Beim ungarischen Volksaufstand 1956 wurden Hilfstransporte für die 200.000 Flüchtenden organisiert.7 Wenige Monate nach dem Ende des achtjährigen Algerienkriegs gründete sich 1962 die dortige Caritas. Mit den Boatpeople aus Vietnam kamen Kriegsflüchtende vom anderen Ende der Welt nach Deutschland und Österreich. Die Caritas Österreich rief 1980 zur Aktion Pfarr-Patenschaft auf. Obwohl zu Beginn nur eine Zahl von 100 Flüchtenden seitens der Behörden zugelassen waren, entwickelte sich daraus die erste größere Integrationsinitiative, die von einer zivilgesellschaftlichen Gruppe ins Leben gerufen wurde.8
Der Libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, die Islamische Revolution 1979 im Iran und der Militärputsch 1980 in der Türkei führten dazu, dass die Zahl der Asylbewerbungsverfahren in der Bundesrepublik erstmals auf über 100.000 stieg.9 Neue Migrations- und Integrationsdienste entstanden. Zum Beispiel das zusammen mit dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen ins Leben gerufene Caritas Therapiezentrum für Menschen nach Folter und Flucht in Köln.
Mit den Jugoslawienkriegen kam der Krieg in den 1990er-Jahren zurück nach Europa. Fluchtbewegungen aus den Konfliktgebieten Syrien und dem Irak sowie aus Eritrea und Somalia bestimmten in den letzten zehn Jahren die Migrations- und Integrationsarbeit der Caritas in Deutschland.10 Als Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine versucht die Hilfebörse der Caritas im Jahr 2022, mit einer Online-Karte die Initiativen vor Ort sichtbar zu machen.
Warum diese Aneinanderreihung von Szenen? Sie zeigen, dass der Krieg und vor allem die Folgen des Kriegs in der Geschichte der Caritas nie über längere Zeit verschwunden waren. Der Krieg war in unterschiedlichen Formen immer wieder präsent. Eine Geschichte der Caritas in Deutschland ohne die Brutalität des Kriegs gibt es nicht.
Caritas für Frieden und Versöhnung
Was bedeutet nun die Auseinandersetzung mit Krieg und Krisen, mit Frieden und Versöhnung für die Caritas heute? Von ihrem Selbstverständnis her kann sie das nur im Horizont dessen beantworten, was sie ist: eine christliche Institution in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft. Ihre Position ist Teil einer Tradition. Dass diese enorm vielschichtig ist, überrascht nicht.11 Trotzdem fällt bei näherem Hinsehen Grundsätzliches auf. Für die christlich-jüdische Tradition ist nicht der Krieg das anzustrebende Ziel von Gesellschaften, sondern das, was im Hebräischen mit "Shalom" und im Griechischen mit "Eirene" ausgedrückt wird. Für das Christentum lässt sich an zwei Passagen festmachen, was damit gemeint ist: Das Matthäusevangelium schildert einen Jesus aus Nazareth, der zu Beginn seines öffentlichen Auftretens sein Programm vorstellt und auf einem Berg sitzend appelliert: "Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden" (Mt 5,9). Und Paulus formuliert in mehreren Briefen (1 Kor 14,33; 2 Kor 13,11; Phil 4,9; 1 Thess 5,23) und am Schluss seines umfangreichen Briefs nach Rom (Röm 15,33) den Grund dieses Motivs: "Der Gott des Friedens aber sei mit euch allen!" Die, die sich Christinnen und Christen nennen wollen, glauben an einen Gott des Friedens. Sie sagen das, weil der Ursprung ihrer Existenz, also der Gott Jesu Christi einer ist, der sich als Frieden realisiert.12
Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg
Die biblisch inspirierte Lesart des Friedens trifft in etwa die Bedeutung dessen, was den positiven Frieden im Gegensatz zum negativen ausmacht.13 Der positive Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Ein wesentlicher Punkt besteht darin, die Auslöser für inner- und intergesellschaftliche Konflikte zu minimieren.14 Hier verortet sich der Beitrag der Caritas. In der Satzung des Deutschen Caritasverbands heißt es, dass es ihm und seinen Mitgliedern "vorrangig" darum geht, sich für "Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden weltweit einzusetzen" (§ 6 Abs. 1). Mit Blick auf das Aufgabenprofil bedeutet dies, dass die Caritas nicht allgemein auf die Themen Krieg, Krisen, Frieden und Versöhnung schaut. Für vieles ist sie gar nicht zuständig: Ihre Aufgabe ist es weder, zwischenstaatliche Reparationszahlungen zu organisieren, noch trifft sie Entscheidungen über Waffenlieferungen, weder betreibt sie einen internationalen Gerichtshof, noch schützt sie mit Truppen bedrohte Minderheiten.
Was heißt das jetzt für den Alltag der Verbände, Trägerschaften und Einrichtungen? Zuallererst heißt es, sich klar darüber zu werden, dass der Krieg und seine Folgen nicht nur offensichtlich, sondern auch verborgen in den Einrichtungen und Diensten präsent sind: Offensichtlicher tritt er in der Integrations- und Migrationshilfe, in der Suchtberatung und -therapie sowie der Wohnungslosigkeit zutage. Verborgener bleibt er in der Altenhilfe, in der die Generation, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt hat, betreut wird. Verborgener bleibt er bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die vor Jahren aus Kriegsgebieten nach Deutschland kamen. Verborgener bleibt er in den Kindertageseinrichtungen, in denen Kinder noch keine Sprache haben, und die Eltern keine Sprache für die erlebten Grausamkeiten finden.
Am Anfang dieses Beitrags stand die Frage, wie die Jahreskampagne zur Caritas passt. Jetzt ist zu sagen: Der Krieg und die Frage, wie mit ihm und seinen Folgen umzugehen ist, war nie über längere Zeit aus dem Alltag der Caritas verschwunden. Der Auftrag, sich für Frieden einzusetzen, gehört zu den theologischen Grundthemen und dem satzungsgemäßen Zweck der Caritas.
Im aktuellen Agenda-Papier "Frieden beginnt. Mit uns. Mit dir. Mit mir." heißt es: "Die verbandliche Caritas will hier Mitstreiterin sein, Vermittlerin, Dolmetscherin, Türöffnerin; sie kann Raum für Begegnung zur Verfügung stellen und sie kann selbst ein Beispiel sein für faire Auseinandersetzung." (S. auch neue caritas Heft 20/2023, S. 31 ff.) Die Jahreskampagne soll Räume organisieren, in denen der Wirklichkeit des Krieges die virtuelle Distanz genommen wird, in denen Krieg mit dem verbunden wird, was es in den meisten Fällen heißt: Lebenszäsuren in den Biografien von Bewohner:innen, Klient:innen, Kolleg:innen. Es braucht diese Räume, um den Krieg und die Krisen auf neutralem Boden zum Thema der Auseinandersetzung machen zu können. Und zwar mit der Grundregel des verletzungsfreien Streits um Deutungen mit Argumenten: jener Form, gewaltfrei Konflikte zu lösen.
1. Vgl. Maurer, C.: Der Caritasverband zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des caritativen Katholizismus in Deutschland. Freiburg i. Br., 2008, S. 45-75. Henkelmann, A.: Der Weg in den Wohlfahrtsstaat. Die Entwicklung der Caritas im langen 19. Jahrhundert. In: Stiegemann, C. (Hrsg.): Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart. Petersberg, 2015, S. 306-315, S. 310-314.
2. Vgl. Reimer, K.: Von der katholischen Armenfürsorge zum Unternehmen Nächstenliebe. Geschichte des Caritasverbandes Frankfurts. Ein Beitrag zur Frankfurter Sozialgeschichte. Göttingen, 2019, S. 100-102.
3. Vgl. Zell, P: Jeder Mensch ist uns der Liebe wert. Benedict Kreutz als zweiter Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Würzburg, 2016, S. 145-147.
4. Vgl. Plaum, B.: Der Caritasverband für das Erzbistum Paderborn 1915-2015. In: Caritasverband für das Erzbistum Paderborn (Hrsg.): 100 Jahre - 100 Orte der Caritas im Erzbistum Paderborn. Paderborn, 2015, S. 228.
5. Vgl. Eder, M.: Helfen macht nicht ärmer. Von der kirchlichen Armenfürsorge zur modernen Caritas in Bayern. Altötting, 1997, S. 512/513.
6. Vgl. Schneider, B.: Barmherzigkeit - institutionalisierte Fürsorge - Armut und Armenfürsorge in der neueren Geschichte des deutschen Katholizismus. In: Speelman, W. M.; Hilsbein, A.; Schmies, B.; Schimmel, T. M. (Hrsg.): Armut als Problem und Armut als Weg. Münster, 2017, S. 135-168, S. 154/155. Deutscher Caritasverband/Caritas international: Woher wir kommen, wohin wir gehen. 101 Fragen zum Jubiläum. Freiburg i. Br., 2021, S. 4-10.
7. Vgl. Kiss, R.: Aus Ungarn nach Bayern. Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956-1973. Regensburg, 2022, S. 127/128.
8. Vgl. Stieber, G.: Migration und Zwangsmigration in Österreich. In: Karner, S.; Mikoletzky, L. (Hrsg.): Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck, 2008, S. 101-113, S. 110.
9. Vgl. Oltmer, J.: Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München, 2010, S. 56.
10. Vgl. Deutscher Caritasverband: Miteinander leben. Positionen des Deutschen Caritasverbandes zu Migration und Integration. Freiburg i. Br., 2022, S. 3.
11. Vgl. Kunz-Lübcke, A.; Mayordomo, M.: Frieden und Krieg. Gütersloh u. a., 2022, S. 7-11.
12. Vgl. Justenhoven, H.-G.: The Concept of Just War in Christianity. In: Tamer, G.; Thörner, K. (Hrsg.): The Concept of Just War in Judaism, Christianity and Islam. Berlin u. a., 2021, S. 43-91, S. 91/92.
13. Vgl. Schockenhoff, E.: Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt. Freiburg i. Br., 2018, S. 503-509. Körbs, P.: Einordnung der päpstlichen Botschaften zu den Weltfriedenstagen. In: Merkl, A.; Körbs, P.; Koch, B. (Hrsg.): Die Friedensbotschaften der Päpste. Von Paul VI. bis Franziskus. Freiburg i. Br., 2022, S. 51-124, S. 83-89.
14. Vgl. Cahill, L. S.: Blessed Are the Peacemakers: Pacifism, Just War, and Peacebuilding. Minneapolis, 2019, S. 312-324. Hawksley, T.: Peacebuilding and Catholic Social Teaching. Notre Dame, 2020, S. 203-232.
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