Im schlimmsten Fall reicht eine Weinbrandbohne
"Im schlimmsten Fall reicht schon eine Weinbrandbohne", sagt Lena Göckener. Es müssen in der Schwangerschaft nicht mal ein oder mehrere Gläser Sekt oder Bier sein. Die Sozialpädagogin erarbeitet gerade mit einer halben Stelle im Projekt "Sicher im Bauch - gib FASD keine Chance" Materialien und eine Unterrichtsreihe, um auf die Problematik der "Fetalen Alkoholspektrumsstörung" (FASD) aufmerksam zu machen. Die Aktion Lichtblicke macht dieses bundesweit bislang einmalige Projekt des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) in Bocholt möglich.
Neu ist das Problem nicht, aber immer noch weithin unbekannt in seiner Dimension und der Notwendigkeit, in der Schwangerschaft auf Alkohol komplett zu verzichten: "Es geht nicht um keinen, sondern wirklich gar keinen Alkohol", sagt Anne Bollrath-Koltermann, die die Schwangerschaftsberatung des SkF koordiniert: "In der Beratung ist das immer Thema". Da kann es noch rechtzeitig sein.
Zu 100 Prozent vermeidbar
Weil es zu häufig zu spät ist, haben "praktisch all unsere Dienste mit den Folgen zu tun", erklärt SkF-Geschäftsführerin Angelika Nordmann-Engin. Dabei "ist dies eine Behinderung, die wir zu 100 Prozent vermeiden können". Weil der Genuss von Alkohol gesellschaftlich weit verbreitet und vielfach noch in Maßen in der Schwangerschaft akzeptiert ist, hat Lena Göckener für ihre Unterrichtsreihe erschreckende Zahlen zusammen getragen: Von 10.000 Kinder entwickeln 177 das "Vollbild" FASD, 80 Prozent von ihnen können nicht selbständig leben.
Darüber hinaus gibt es viele Abstufungen dieser Behinderung, die häufig nicht erkannt oder erst spät diagnostiziert werden. Nach Schätzung bekommen 90 bis 95 Prozent der Menschen mit FASD eine Fehldiagnose, meist ADHS oder Autismus. "Deswegen galten 2018 nur rund 300.000 Menschen als betroffen", sagt Lena Göckener. Die Dunkelziffer aber liege bei 1,5 Millionen.
Es gebe zwar schon Materialien zur Aufklärung, doch die seien wenig attraktiv für die Zielgruppe, so Nordmann-Engin. Der SkF wolle sich auch aus seiner reichhaltigen Erfahrung in der sexualpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen schon an Schüler wenden. Lena Göckener ist deshalb mit ihrer Unterrichtsreihe in eine Gesamtschule und eine Berufsschule gegangen und hat ihr Konzept dort getestet.
Das Gehirn funktioniert anders
Eigentlich wollte sie bereits im Mai in die Klassen gehen, aber dieser Plan hatte sich nach dem Start des Projekts im März wegen Corona gleich wieder erledigt. Aber Göckener hat die Zeit genutzt und eine achtteilige Serie erarbeitet, mit der sie zum FASD-Tag am 9. September in den Sozialen Medien auf Facebook und Instagram gestartet ist. In selbst produzierten Videos beleuchtet sie das Thema von verschiedenen Seiten. Neben den Fakten kommen auch Betroffene und Pflegeeltern von FASD-Kindern zu Wort. Erklärt wird zudem, wie anders das Gehirn eines Menschen mit FASD funktionieren kann. Dazu gibt es Tipps, wie man Schwangere darauf hinweisen kann, wenn sie Alkohol trinken, ohne gleich einen Konflikt auszulösen.
Ein vergleichbares Konzept gibt es nach dem Wissen von Angelika Nordmann-Engin bislang nicht. Ziel ist deshalb, die in dem auf ein Jahr angelegten Projekt erarbeiteten Materialien sowohl in der Diözese Münster über die Schwangerschaftsberatungen als auch bundesweit zu verbreiten. Die Geschäftsführerin ist dankbar, dass die Aktion Lichtblicke dies mit 30.000 Euro möglich macht.
Lena Göckener ist das Thema ein Herzensanliegen. Sie arbeitet weiterhin mit einer Viertelstelle in der Büngern-Technik der Caritas Bocholt. Die Folgen des Alkoholkonsums zur falschen Zeit hat sie dort ständig vor Augen. Für sie gilt ebenso wie für Anne Bollrath-Koltermann: "Eigentlich muss man sich im gebährfähigen Alter beim Konsum von Alkohol ständig der Gefahr bewusst sein, ein FASD-Kind zu gebären".