Gesund werden ist möglich, aber nicht leicht
Psychisch zu erkranken ist nicht das Problem. Das geschieht vielen Menschen, jede und jeder wird mal im Leben aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht und deshalb behandlungsbedürftig. Und die meisten Menschen werden auch wieder gesund, mit Therapien und Hilfen oder sogar von allein.
Das Problem ist: psychisch krank zu sein. Denn diese Krankheiten sind schwer auszuhalten. Dazu tragen einige Faktoren bei: erstens der individuelle. Da wird mir bewusst, dass es mir schlecht geht, dauerhaft und oft, ohne dass Anlass oder Ursache erkennbar sind. Kein Husten und Schnupfen, kein gestauchter Fuß.
Je mehr man unter der getrübten Stimmung leidet, umso mehr zieht man sich zurück. Was sollen denn die anderen denken? Kann ich so überhaupt arbeiten gehen? Und kann mir mein Arzt, meine Ärztin überhaupt helfen, ich habe ja nichts? Ich fühle mich nur so schlecht, dass ich grad sterben möchte.
Erschwerende Reaktionen aus dem Umfeld
Der soziale Aspekt ist fast spiegelbildlich angelegt. Was, der oder die X ist psychisch krank? Verrückt? Durchgeknallt? Verrückt und durchgeknallt soll niemand sein, neben dem man lebt oder mit dem man zusammenarbeitet.
Im Lebenslauf machen sich längere Auszeiten fragwürdig bemerkbar, schon Abbrüche von Ausbildungen oder Korrekturen im Werdegang fallen auf. Am ehesten vertretbar erscheint die Selbstauskunft "Burn-out". Doch eine solche Diagnose ist in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation gar nicht enthalten. Was zeigt, dass unsere Gesellschaft manches lieber nicht wissen will oder gar akzeptiert.
Hilfe ist oft kaum zu finden, und nur nach langer Wartezeit
Der therapeutische Aspekt ist sehr widersprüchlich. Ja, psychische Krankheiten sind meist sogar gut behandelbar und ja, es gibt dafür bestens ausgebildete Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Deutschland. Aber nein, es gibt keine Termine, dafür Wartelisten. Und nein, es gibt nicht genügend Behandlungsangebote, weil die Krankenkassen - so sieht es die Bundes-Psychotherapeutenkammer als deren Berufsverband - die Zulassung von ausreichend Psychotherapiepraxen blockieren: vermutlich aus falsch verstandener Sparsamkeit.
Ja, im Notfall gibt es bei schweren Krisen ambulante Akutbehandlung, wenn auch erst nach drei Wochen (hoffentlich hat die Krise so lange Geduld). Aber die durchschnittliche Wartezeit eines psychisch Erkrankten beträgt drei bis neun Monate, das trifft auf 40 Prozent der Patientinnen und Patienten zu: Es geht also um Menschen, bei denen in einer psychotherapeutischen Sprechstunde festgestellt wurde, dass sie wegen seelischer Erkrankung behandelt werden müssen.
Ja, es gibt natürlich gute Medikamente, die helfen, wenn auch mit Nebenwirkungen, und die kann der Hausarzt, die Hausärztin verschreiben. Aber er oder sie hat vielleicht seit dem Kurs "Psychosomatische Grundversorgung" im Medizinstudium nichts Genaueres mehr über Wesen und Wirkung psychischer Erkrankungen und der Psychopharmaka erfahren.
Und so geht sie dahin, die Zeit, und manchmal auch das Leben. Medien und Öffentlichkeit interessieren sich eher für psychisch kranke Gewalttäter, auch wenn psychotische Erkrankungen nur sehr selten zu gewalttätigen Handlungen führen. Aber man schaut kollektiv eher weg, wenn Menschen mit Depressionen oder Angststörungen sich isolieren oder gar sich selbst schaden. Tatsache ist: Der Ernstfall dieser psychischen Krankheit ist der Tod von eigener Hand.
Macht krank: Unsichtbarkeit durch Corona
Unabhängig von allen persönlichen Problemen der behandlungsbedürftig Erkrankten hat die Corona-Pandemie ihre Situation noch erheblich verschärft. Menschen, die sich durch ihre Krankheit zuvor schon seelisch ausgeschlossen und abgehängt fühlten, wurden nun auch körperlich durch Maßnahmen wie Kurzarbeit, Homeoffice oder Lockdown betroffen. Niemanden sehen, nicht gesehen werden - das war nun auch Teil der allgemeinen Gesundheitsvorsorge, die psychisches Leiden vermehrte.
Die niedergelassenen Psychotherapeut(inn)en meldeten im Januar 2021 rund 40 Prozent mehr Anfragen von Hilfesuchenden als noch ein Jahr zuvor. Und die Wartezeit verlängerte sich für fast die Hälfte auf sechs und mehr Monate.
Wartelisten beim Kinderpsychiater
Besonders zugenommen haben psychische Auffälligkeiten in den letzten Monaten bei Kindern und Jugendlichen: Fast ein Drittel sei davon betroffen, sagt der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte. Niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater(innen) seien so überlaufen, dass sie keine neuen Patient(inn)en mehr auf die Warteliste nähmen, so ein Kollege aus Freiburg: die Wartezeit für Schulkinder auf eine psychotherapeutische Behandlung sei dort auf neun Monate gestiegen.
Und dennoch: Die meisten psychischen Krankheiten sind heute gut behandelbar und verschwinden aus dem Leben der Betroffenen. Wichtig ist es, sie ernst zu nehmen und Hilfe zu suchen - je eher, desto besser. Das tut leider nur jede und jeder fünfte davon Betroffene: Umso wichtiger ist es, die Patienten bei der Suche nach Therapie und Heilung zu unterstützen.
TIPPS
Was man tun kann, wenn man keine Hilfe bekommt
→ Bei Selbst- oder Fremdgefährdung den Notruf wählen (112).
→ Die psychosoziale Beratungsstelle aufsuchen - oder die Telefonseelsorge anrufen (0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222).
→ DieCaritas-Online-Beratung fragen. Hier wird keine Therapie geboten, aber: Man hört Ihnen zu oder antwortet Ihnen online. Und auch das hilft, wenigstens ein wenig.
→Angehörige psychisch erkrankter Menschen finden bundesweit Selbsthilfegruppen.
→Zwölf Stunden dauert der Grundkurs, um "Mental Health First Aider" zu werden: also Erste Hilfe leisten zu können, wenn jemand in einer seelischen Krise ist.
HINTERGRUND-INFO
Krank machend: Erfahrungen auf der Flucht
Nicht nur Kinder und Jugendliche sind besonders gefährdet, psychisch zu erkranken. Geflüchtete Menschen haben auf ihrem Weg oft traumatisierende Erfahrungen gehabt. Die Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer sieht bei fast jedem dritten Flüchtling Anzeichen für eine posttraumatische Belastungsstörung wie Flashbacks, für eine Depression oder andere psychische Erkrankung.
In manchen deutschen Flüchtlingszentren trifft das auf mehr als die Hälfte der Bewohner(innen) zu. Doch nur wenige erhalten eine Diagnose, noch viel weniger eine Behandlung. Dabei wird ihre besondere Schutzbedürftigkeit sogar in EU-Richtlinien festgehalten. Die dafür zuständigen Sozialämter haben aber bei fast jedem zweiten Antrag auf Psychotherapie die Kostenübernahme abgelehnt. Bei gesetzlich Versicherten beträgt die Ablehnungsquote in Deutschland weniger als drei Prozent.