„In dieser Arbeit ist kein Tag wie der andere“
"Olli, trink dein Spezi aus”, ruft Clemens, während er zwei Billardstöcke entgegen nimmt und sorgfältig unter der Theke verstaut. Seine Klassenkameradin Zina wirft derweil schon mal einen prüfenden Blick in die Kasse. Die zwei Dreizehnjährigen haben wie immer freitags von 12 bis 12.50 Uhr Dienst im sogenannten STAuBraum, dem "Schüler*innen-Treff-Abhäng-und-Besprechungsraum" der Jugendhilfe an der IGS Nordend. Auf den blau und rosa gestrichenen Fensterbänken liegen einladend rot-karierte Kissen, das Licht ist gedimmt, an der Wand prangt ein von einer Schülerin gemaltes Bild, auf dem sich zwischen vielen bunten Hunden eine Katze und eine kleine Maus versteckt haben. Das Tischbillard in der Mitte ist jetzt gegen Ende der Pause hin schon verlassen, der Fußballkicker in der Ecke noch in Betrieb. An einem der kleinen Tische am Rande packen drei Jungen Spielkarten ein. "Hier ist man in guter Gesellschaft", sagt Clemens mit einem Blick in den Raum. Warum sie in der Pause hier arbeiten? "Weil es Spaß macht", sagen beide unisono.
Eine andere Profession im Haus haben
Dass sich die zwei ehrenamtlich engagieren, ist ganz im Sinne des Programms. "Schülerinnen und Schüler einzubinden, ist unser Grundprinzip", sagt Dirk Petrat vom dreiköpfigen Jugendhilfe-Team an der IGS Nordend: "Wir ermutigen sie, mitzumachen, und begleiten dabei." Das gilt für die Pausenspielausleihe ebenso wie für das Tutorenprogramm, bei dem Jugendliche aus dem 9. Jahrgang als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für die Fünftklässler geschult werden. Auch DerGrüneDaumen, ein öffentlicher Schulgarten im angrenzenden Günthersburgpark, gehört zu den Projekten, die in den vergangenen zehn Jahren hier entwickelt worden sind. 2011 hat der Caritasverband Frankfurt die Jugendhilfe an der Stadtteilschule für das Nordend und für Bornheim gestartet. Im Lehrerkollegium habe sich seitdem längst die Ansicht durchgesetzt, dass es wichtig sei, eine andere Profession im Haus zu haben, sagt Dirk Petrat, der von Anfang an mit dabei war. Wie seine Kolleginnen Janine Somorowsky und Carina Siegler lobt er die gute Zusammenarbeit und die Einbindung des Teams in allen schulischen Gremien bis hin zu den Gesamtkonferenzen.
Für die eigenen Interessen einstehen
Die besondere Stellung der Jugendhilfe - täglich vor Ort, aber außerhalb des Bewertungssystems - erlaube es, sich intensiv um die Kinder und Jugendlichen zu kümmern, so Petrat. Lehrer und Eltern würden bei Konflikten aktiv mit einbezogen und wenn möglich alle Beteiligten an einen Tisch gebracht. Die Themen sind vielfältig, angefangen bei den Fünftklässlern, die den Übergang und die neue Rolle bewältigen müssen, über Mobbing bis hin zur Berufsorientierung und in den höheren Jahrgängen auch mal Drogenkonsum. Von Seiten des Teams brauche es Geduld, Flexibilität und eine klare Positionierung. In Streitschlichtung und Mediation werde nicht nach Schuld gefragt, aber "körperliche Auseinandersetzungen sind halt schlicht verboten". In einer Schule mit einem Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind alle Angebote, zum Beispiel in den Lernferien, ausdrücklich inklusiv gestaltet. Auch die Schülerin im Rollstuhl soll ganz selbstverständlich mit dabei sein können. Für Kinder mit Beeinträchtigung gelte bei alldem derselbe Grundsatz wie für alle anderen: "Sie fit zu machen, dass sie für ihre Interessen einstehen können", sagt Dirk Petrat.
Erhöhter Beratungsbedarf nach Corona
"Jugendhilfe fördert Teilhabe und Selbstwirksamkeit", unterstreicht Swetlana Kuntz. Die Diplompädagogin leitet und koordiniert beim Caritasverband Frankfurt die Jugendhilfe in der Schule. Die sozialpädagogischen Fachkräfte stellten die Sichtweisen und Potentiale der Schüler und Schülerinnen in den Mittelpunkt. "Jugendhilfe ist dadurch zu einer wichtigen Instanz in der Schule geworden", ist sie überzeugt. Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Bildungserfolg immer noch stark von der sozialen Herkunft abhänge, trage das Programm dazu bei, die Bildungschancen benachteiligter Kinder und Jugendlicher zu erhöhen und ihre sozialen und kreativen Fähigkeiten zu fördern. Zu den Arbeitsschwerpunkten zählen neben Beratung und Begleitung verschiedene Angebote für Klassen und Gruppen, die Mitarbeit in den Kinderschutz-Tandems sowie die Gestaltung von Arbeitsgemeinschaften (AG) und Ferienprogrammen. Sie war selbst sechs Jahre in diesem Bereich in der Schule tätig und kennt die Herausforderungen vor Ort. "In dieser Arbeit ist kein Tag wie der andere." Durch die Corona-Pandemie habe sich der Beratungsbedarf noch einmal deutlich erhöht, sagt sie. Kinder und Jugendliche zeigten psychische Belastungen und die Klassen müssten sich erst wieder zusammenraufen.
Soziales Lernen auf dem Stundenplan
Alexandra Teubner kann das nur bestätigen. Wie funktioniert Freundschaft? Wie gehen wir miteinander um? Nach den Lockdowns müsse das regelrecht neu eingeübt werden, erzählt die Erziehungswissenschaftlerin, die mit Florian Zink und Marie Ewald das Jugendhilfe-Team an der IGS West im Frankfurter Stadtteil Höchst bildet. Sich kennenlernen, Unterschiede und andere Meinungen tolerieren, eine Streitkultur einüben: Diese Themen stehen in der fünften und sechsten Klasse ganz offiziell auf dem Stundenplan. Drei Projekttage Soziales Lernen sind pro Schuljahr fest verankert.
Wenn Kinder von Vereinsamung erzählen
Dass die drei Schweigepflicht zusichern können sowie Transparenz und Mitsprache bei allen weiteren Schritten, sorgt bei Kindern und Jugendlichen für das nötige Vertrauen, um kleine und größere Sorgen loszuwerden. Das können Konflikte untereinander ebenso sein wie die Angst, mit einer schlechten Note nach Hause zu kommen, berichtet Florian Zink. Ermutigt von seinen Freunden habe sich vor einiger Zeit ein Junge an ihn gewandt, der auf dem Heimweg regelmäßig erpresst worden sei, sich aber lange nicht traute, davon zu sprechen. Auch nicht mit seiner Mutter. Inzwischen sei, mit seinem Einverständnis, die Polizei eingeschaltet und der Kontakt zur Familie intensiviert. Gerade im Kinderschutz sei das Team allerdings auch mit Themen konfrontiert, "bei denen wir keine gute Wendung herbeiführen können und das akzeptieren müssen", so Zink. Manches ist belastend, gerade weil es kaum Spielraum für Eingriffsmöglichkeiten gibt, darauf weist Alexandra Teubner hin: "Wenn ein Kind von Vereinsamung Zuhause erzählt, obwohl beide Eltern da sind, und von dem Gefühl, nicht geliebt zu sein, dann nimmt mich das mit."
Rollenbilder im "Raum für Uns"
Im "Mosaik", dem Gruppenraum der Jugendhilfe, ist an diesem Donnerstagvormittag Gewusel angesagt. Sieben Fünftklässler erobern den großen Raum mit der Küchenzeile, an der vor Corona gemeinsam gekocht wurde. Statt auf der von Schülern selbst gezimmerten Sitzecke aus bunt besprayten Holzpaletten nehmen die sechs Jungen und das Mädchen im Stuhlkreis Platz. Sie haben sich für die AG "Raum für Uns" entschieden und wollen ein ganzes Schuljahr lang gemeinsam herausfinden, was "Mädchen* sein und Junge* sein" für sie bedeuten könnte und welche Rollenbilder es gibt. Alle erzählen in der ersten Runde, wie sie heißen, woher sie kommen, nennen Frankfurt, Russland, Marokko und die Türkei. Ein Junge stellt souverän seinen Teilhabeassistenten vor, der ihm helfe, sich besser zu konzentrieren.
Ein Foto als Zeichen der Zuversicht
Über dem Eingang zum "Mosaik" hängt ein Leitfaden, der zum aktiven Einsatz gegen Rassismus, Diskriminierung, Sexismus und jeder anderen Form von Gewalt auffordert. Das hat sich auch die AG engagierter Jugendlicher auf die Fahnen geschrieben, die 2014 mit dem Beitritt zum Netzwerk "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" entstanden ist und seitdem vom Jugendhilfe-Team begleitet wird. Sie hat unter anderem auf das rassistische Attentat in Hanau mit einer öffentlichkeitswirksamen Aktion reagiert. Da immer noch Kinder aus der Schule mit ihren Eltern in Afghanistan festsitzen, wurde jüngst ein Foto der Schulgemeinschaft erstellt, mit drei weißen Platzhaltern und dem Hashtag #wirDENKENanDICH. "Das soll ihnen Kraft, Hoffnung und Zuversicht geben", erklärt Zink.
Ein Junge aus Afghanistan
"Kinder können so viel, wenn man sie lässt und nicht in Bewertungsmuster zwängt", ist sich Florian Zink sicher. Mit dem einen oder anderen seiner ehemaligen "Schützlinge" hat er heute noch Kontakt. So mit dem Jungen aus Afghanistan, dessen Geschichte ihn bis heute "stolz und glücklich" macht. Mit 14 Jahren an die Schule gekommen und alsbald in die Regelklasse gewechselt, entwickelte er sich zu einem erfolgreichen Schüler. Solche Einzelfälle machten Spaß, aber sie arbeite auch sehr gerne mit Klassen zusammen, erzählt Teubner und spricht von dem guten Gefühl, "wenn wir das Problem lösen konnten, mit dem sie sich an uns gewandt haben." Wenn sich die Atmosphäre in einer Klasse ändere, merke man einfach den Unterschied, sagt Marie Ewald und bringt auf den Punkt, was alle drei an ihrer Tätigkeit schätzen: "Es hat einen Sinn, was wir tun."
Der Caritasverband Frankfurt ist an vier Schulen (IGS West, IGS Nordend, Hostatoschule und Kasinoschule) Träger des Förderprogramms Jugendhilfe in der Schule der Stadt Frankfurt. Unter diesem Label wird seit 2006 die Schulsozialarbeit geführt, deren Anfänge in den 1990er Jahren liegen. Auftraggeber ist das Stadtschulamt, das mit unterschiedlichen Trägern kooperiert.
Die Jugendhilfe in der Schule ist eine von rund 100 Einrichtungen und Diensten des Caritasverbands Frankfurt e. V. Er bietet mit mehr als 1.600 Beschäftigten, rund 1.400 Ehrenamtlichen sowie Partnerinnen und Partnern ein großes Netzwerk sozialer Angebote und Hilfen.