Das Altenheim ist nicht das Lebensende
Im Elektro-Seniorenmobil den Flur entlang: Die blonde Fahrerin begleitet ein braun gelockter Hund. Alle paar Meter Halt für einen kurzen Ratsch, wie man in Bayern sagt: "Hallo, schön, dich zu sehen, wie geht’s dir?"
Im Altenheim St. Anton in Gröbenzell wohnt Gabriele Gollong-Back samt Hund John. Als zweite Heimbeirats-Vorsitzende weiß die 75-Jährige, was im Haus passiert - beziehungsweise seit dem Beginn der Coronapandemie nicht mehr: "Es ist noch nicht wieder normal. Aber wir sind froh über die Erleichterungen."
Seit April sind in der Caritas-Einrichtung bei München wieder Gemeinschaftsaktivitäten mit allen rund 100 Bewohner(inne)n im Garten möglich - aber ohne externe Gäste und nur bei gutem Wetter. Singen mit dem Kindergarten von nebenan oder gemeinsame Geburtstagsfeiern sind noch nicht erlaubt, "dabei ist Singen gut für die Lunge", scherzt Gollong-Back. Sie ist nicht mehr die Flinkste auf den Beinen, aber dafür im Kopf. "Wie es mir geht? Man fühlt sich aufgehoben. Ich bin hier zu Hause."
Zwei Monate lang kein Besuch
Von Anfang November bis Ende Dezember 2020 gab es in St. Anton einen großen Corona-Ausbruch. Externe wie Ehrenamtliche oder Angehörige durften während dieser Zeit gar nicht ins Haus. Alle positiv getesteten Bewohner(innen) mussten auf ihren Zimmern bleiben. "Einsam hab ich mich nicht gefühlt, aber ich hab oft gedacht, dass ich das Reden verlerne." Für die Bewohnerin Gollong-Back war es auch kein Trost, als man ab Januar wieder in seiner Wohngruppe zusammenkommen durfte: "Der Erste hört schlecht, der Zweite sieht schlecht und der Dritte interessiert sich nicht."
Inzwischen sitzt Gabriele Gollong-Back an der gedeckten Tafel im großen Speisesaal im Erdgeschoss. 18 Stühle stehen da - so viele Bewohner(innen) dürfen unter den seit April geltenden Bestimmungen zusammenkommen. "Wo willst du die Stimmung herbringen, wenn nur sechs Leute reindürfen, wovon zwei schlafen?", sagt die Bewohnerin salopp. Vor Corona gab es Feste, bei denen der Saal Polonaise tanzte: "Auf einmal konnten selbst die Rollstuhlfahrer tanzen." Das hat sie vermisst.
Grußkarten statt des gewohnten Kuchens
Mit fast 80 Jahren engagiert sich die Gröbenzellerin Edeltraud Hörl im "Café" von St. Anton: Jeden Donnerstag serviert sie zusammen mit zwei weiteren Helferinnen Kaffee und Kuchen. Auch Edeltraud Hörl durfte von November 2020 bis April 2021 nicht ins Haus: Trotzdem hat die Kommunikation mit der Verwaltung immer gut funktioniert, die Anfang des Jahres auch eine Impfung für Hörl organisierte. Aber selbst die Corona-Beschränkungen konnten die Rentnerin nicht vom Ehrenamt abhalten: Edeltraud Hörl hielt telefonisch Kontakt. Mindestens einmal die Woche brachte sie für die Bewohner(innen) Geburtstagskarten vorbei. "Ich habe nur das Personal gesehen und drei Meter Abstand gehalten."
Hörl setzt sich mit einem Stück Kuchen neben Gabriele Gollong-Back an den langen Tisch. Der Winter "war schon krass", da sind sich beide einig. Auch, dass die schlimmen Zeiten jetzt vorbei sind. "Wir hoffen, dass das ganze Haus bald wieder voll ist. Darauf freuen wir uns schon lang."
Jäten, pflanzen und besuchen
Draußen im Garten bückt sich Barbara Heeschen über ein Beet und setzt Blumen. "Die habe ich von einer Freundin bekommen. Mal schauen, was es wird." Sie reibt sich Erde von den Händen und meint verschmitzt: "Die Bewohner und Mitarbeiter beobachten auch, was ich hier mache. Mich kennt man schon als Gärtnerin."
Seit letztem Frühjahr kümmert sich Barbara Heeschen ehrenamtlich um "ihr" Blumenbeet im Garten von St. Anton: "Vor 30 Jahren haben sich die Ordensschwestern um den Garten gekümmert, aber danach hat das niemand wirklich gemacht." Jetzt zupft die gelernte Floristin "nach Lust und Laune" Unkraut, pflanzt Blumen oder sagt den Schnecken im Garten des Altenheims den Kampf an.
Vor der Corona-Pandemie engagierte sich die 78-Jährige im Besuchsdienst des Hauses, ging mit Bewohner(inne)n wöchentlich spazieren oder Kaffee trinken: "Leider ist ,meine' Bewohnerin Ende 2019 verstorben. Wegen der Pandemie habe ich keinen neuen Bewohner bekommen, das muss ja auch passen." Bald will sie wieder Besuchsdienst machen, auch wenn sie bislang erst eine von zwei Impfungen hat.
Angeseilter Leberkäs’: Grüße vom Metzger aus der Heimat
Gartenblick hat auch Erwin Kramny im ersten Stock. Der 90-Jährige sitzt fast reglos auf seinem Bett, aber seine Augen folgen seinem Hund "Alois", der seine Schnauze gierig in die Leckerli-Dose steckt, als Belohnung für gute Führung. Die gibt es von Herrchen Gregor Kramny, der seinem Vater gegenüber sitzt und den Hund im Zaum zu halten sucht.
Mit FFP2-Maske auf dem Gesicht ruft Kramny seinem schwerhörigen Vater zu: "Ich hab dir wieder was vom Metzger mitgebracht!" Trotz der erschwerten Kommunikation ist Gregor Kramny mindestens dreimal die Woche in St. Anton, in der ersten Jahreshälfte kam er sogar fast täglich. Die Pflegekräfte haben ihn darin bestärkt, weiterhin so oft zu kommen. Sein Vater würde sich freuen, auch wenn er es nicht immer zeigen könne.
"Wir haben uns dann einen Aufzug gebaut", erzählt der 60-Jährige und zieht aus der Nachttischschublade ein weißes Seil mit rotem Karabinerhaken. Mit lausbübischem Grinsen hält er den selbst gebastelten Flaschenzug hoch: "Damit haben wir meinem Vater dann Essen vom Metzger raufgezogen." Oben, auf Erwin Kramnys Balkon, wurden Päckchen entgegengenommen. Und die Pflegekräfte haben den alten Herrn mit dem Rollstuhl auf den Balkon geschoben. So konnte man Kontakt halten.
Gregor Kramny lobt die Mitarbeitenden. "Alles, was gesetzlich möglich war, wurde möglich gemacht." Seit Januar 2021 darf Kramny als Angehöriger seinen Vater mit Anmeldung und negativem Corona-Schnelltest wieder im Zimmer besuchen - seit Mai auch mit Hund Alois. In den letzten Wochen kam Kramny hin und wieder zu spät für den Corona-Schnelltest, der täglich bis 16 Uhr möglich war: "Man hat sich angekündigt, aber darf nicht rein - die Fahrerei ist wurscht - man ist einfach enttäuscht."
Auch wenn spontane Besuche wegfallen und das Kesselfleisch von draußen viel besser sei - Gregor Kramny ist zufrieden mit St. Anton.
Unter Bayern: die Rheinländerinnen
Vögel zwitschern, Erwin Kramnys Balkontür steht offen - Teil der Corona-Verordnung im Haus. Nicht nur durchs Lüften, sondern auch dank regelmäßiger Corona-Tests bei den Bewohner(inne)n sei Gemeinschaft wieder möglich, betont Katja Wagner. Die Pflegefachkraft lehnt mit einer Hand an der Tür zum Gemeinschaftsraum des ersten Stocks, wo schon die ersten Bewohner sitzen. "Unser Vorteil im Altenheim ist: Man kennt die Leute", anders als im Krankenhaus, wo täglich neue Menschen kommen und gehen und es deswegen zu mehr Infektionen kommen kann.
Katja Wagner bringt die weniger mobilen Bewohner(innen) zum Mittagessen. "Kommen Sie, Frau Müller, wir gehen zum Essen. Wir sind beide Rheinländerinnen. Da muss man zusammenhalten."
Gab es aufgrund der Quarantänebestimmungen von November bis Ende Dezember durch das grau gekleidete Pflegepersonal nur "Zimmerservice", dürfen seit Januar alle Bewohner(innen) wieder mit ihren Nachbar(inne)n vom gesamten Stockwerk essen.
Auch Freizeitaktivitäten wie Lesen oder Basteln sind erneut in großen Gruppen möglich. Seit über 15 Jahren übernehmen diese Aufgaben täglich Hauptamtliche: die sogenannten Alltagsbegleiter(innen) mit ihren hellgrünen Oberteilen. Die "Grünen" konnten auch im Winter, als keine Ehrenamtlichen ins Haus durften, allen Bewohner(inne)n, die nicht in Quarantäne waren, Einzelangebote machen wie zum Beispiel Gedächtnisspiele. "Wir haben versucht, die Leute zu animieren. Es war immer irgendwas möglich", erzählt Joanna Winkler stolz. Seit dem großen Corona-Ausbruch sei die Stimmung entspannter und die Bewohner seien nicht mehr so verschlossen, freut sich die 27-jährige Alltagsbegleiterin.
Vom Ausbruch kann man lernen
Susanne Uhls kabelloses Festnetztelefon klingelt. Mindestens alle fünf Minuten von neuem. Als Heimleitung hat die 41-jährige den Überblick im Haus und muss für alle Beschäftigten vom Küchen- bis zum Pflegepersonal erreichbar sein. Die gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin hatte ihren ersten Arbeitstag im April 2020. Kein leichter Start. Denn die ständig sich verändernden Infektionszahlen und gesetzlichen Regelungen verlangten von der Hausverwaltung viel Organisations- und Planungsgeschick.
Auch wenn nun die meisten Bewohner(innen) und Mitarbeitenden geimpft sind, ist der Corona-Ausbruch, bei dem 60 Bewohner(innen) an Covid-19 erkrankten, noch präsent. Anstrengend war es, es hat aber "alle Berufsgruppen im Haus zusammengeschweißt", erklärt Heimleiterin Uhl.
"Das Haus ist von 1977 - da gibt es immer was zu tun", wechselt Susanne Uhl das Thema. Trotz der Pandemie hat sie die Erneuerung von Garten und Gemeinschaftsräumen im Blick. Mit der Öffnung des Hauses für externe Besucher(innen) sollen auch wieder mehr Ehrenamtliche ins Haus kommen. Denn: "Mit Corona sind uns viele Ehrenamtliche weggebrochen." Sie vermutet, dass manche aufgrund ihres hohen Alters Angst vor einer Ansteckung haben. Trotzdem ist Susanne Uhl motiviert, mit Hilfe der Kirchgemeinden neue junge Leute für den Besuchsdienst oder für Spielenachmittage zu gewinnen.
Damals, also bevor Covid kam
Schräg gegenüber vom Haupteingang des Altenheims, im kleinen Park mit Teich, gehen Christine Anthofer und die bald 90-jährige Erika Kern jeden Dienstag spazieren. Die ehrenamtliche Helferin hält die alte Dame fest am Arm. "Ich bin noch recht fit, auch mit meinem Handicap", erzählt Erika Kern. Ihre 66-jährige Helferin nickt: "Das bestätige ich jetzt einfach."
An Erika Kerns Jacke ist ein gelber Button mit drei schwarzen Punkten, sie ist seit 16 Jahren blind. Aus Angst vor Stürzen betritt sie nur mit Hilfe den Wohnbereich oder den Garten. Für längere Ausflüge in den Park braucht die Bewohnerin ehrenamtliche Helferinnen wie Christine Anthofer, die sich dafür Zeit nehmen, während die Alltagsbegleiter(innen) auf den Wohnbereichen eingebunden sind. Die beiden Frauen erinnern sich gegenseitig an die Spielenachmittage, die es "früher" gab, also vor der Pandemie.
Erika Kern erzählt: "Hier im Haus kann man mit sehr wenigen normal reden. Das ist deprimierend für mich." Fast 70 Prozent der Heimbewohner von St. Anton haben geistige Einschränkungen oder sind stark pflegebedürftig.
"Wenn die Leute zu spät ins Altenheim gehen, nimmt man ihnen die Chance, Freundschaften zu schließen", findet Erika Kern. Sie fand es belastend, sich nur innerhalb der eigenen Wohngruppe austauschen zu können.
Zu Beginn der Pandemie hatte auch Christine Anthofer große Angst vor dem Virus. Mittlerweile ist sie froh, wieder mehrmals die Woche nach St. Anton zu kommen: "Es hat mir schon gefehlt." Die 66-Jährige sitzt auch im Heimbeirat - als einzige Ehrenamtliche. Wie sie dazu kam? Ihre Mutter lebte lange in St. Anton, weshalb sie täglich im Haus war und viel mitbekam. Nach dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren blieb Christine Anthofer dem Haus erhalten, weil "die Chemie stimmt". Außerdem lerne sie durch die interessanten Geschichten der Altenheim-Bewohner(innen) immer etwas dazu.
Im Speisesaal wartet schon Gabriele Gollong-Back auf die Spaziergängerinnen. Die drei wurden letzte Woche mit zwei weiteren Bewohnern in den Heimbeirat gewählt. Am Tisch tauschen sich die Frauen aus: Es brauche einen Pavillon für die Gartenfeste, damit diese wetterunabhängig stattfinden könnten. "Wir brauchen aber auch wieder einen festen Tag, an dem wir uns treffen", sagt Gollong-Back selbstbewusst. Sie und Erika Kern waren mit Corona infiziert.
Gabriele Gollong-Back ist überzeugt: "Die nächste Pandemie muss besser organisiert sein." Sie hatte einen schwereren Covid-Verlauf. In diesen vier Wochen fehlte ihr besonders Kontakt zu anderen Menschen: "Es war wirklich schlimm. So allein hab ich mich hier noch nie gefühlt." Das bestätigt Erika Kern, die ebenfalls mehrere Wochen auf ihrem Zimmer bleiben musste: "Wenn mich meine Leute nicht in der Früh angerufen hätten, hätt’ ich’s Reden verlernt."
Sollte es noch einmal zu einer solchen Ausnahmesituation kommen, wünscht sich Gabriele Gollong-Back: "Dass ich nicht so merke, dass ich so krank bin. Dass man einfach fünf Minuten einen im Zimmer hat, der einen tröstet." - "Gerade in den schweren Monaten hätten uns die Bewohner gebraucht", meint auch die Ehrenamtliche Christine Anthofer.