Sexuelle Selbstbestimmung und Schutz vor sexueller Gewalt gehören zusammen
Der Deutsche Caritasverband hat mit der neuen Rahmenordnung zur Intervention bei sexueller Gewalt an Klient(inn)en, die durch Dienstnehmer(innen) begangen wurde, für Klarheit und somit für mehr Sicherheit gesorgt. Das ist gut, wichtig und richtig. Bei sexueller Peergewalt handelt es sich um die nächste Herausforderung, die dringend angegangen werden muss. Einige Beispiele aus der Behindertenhilfe sollen zeigen, welche Fragen und Schwierigkeiten sich in der Praxis im Themenfeld zwischen sexueller Gewalt und sexueller Selbstbestimmung ergeben.
Beispiel 1: Ein geistig behinderter Bewohner einer Wohngruppe zeigt einer Betreuerin durch wenige Worte und eindrückliche Gesten sichtlich verstört und verängstigt an, dass er in der Nacht Besuch von einem ebenfalls geistig behinderten Mitbewohner erhalten habe. Dieser habe bei ihm - wie er es ausdrückte - mit seinem Glied im Popo Fieber gemessen.
Strafrechtlich war schnell klar, dass beim Beschuldigten keine Schuldfähigkeit besteht. Wie jedoch kann der Mann, der den Übergriff erlebt hat, bestmöglich vor weiteren Übergriffen geschützt werden? Die Toiletten der Einrichtung befinden sich auf dem Gang. Der Betroffene ist nicht in der Lage, seine Zimmertür von innen zu verschließen. Auch ist nicht klar, ob er in der Gefahrensituation den Klingelknopf an seinem Bett betätigen könnte. Genügt so ein Vorfall, um den Kostenträger von einer Nachtwache statt einer Nachtbereitschaft zu überzeugen? Wie kann dem Mann geholfen werden, seine Erfahrung zu verarbeiten? Es gibt in vielen Regionen keine Fachberatungsstellen oder therapeutischen Angebote für Klient(inn)en mit (schwerer) Intelligenzminderung.
Es gibt zu wenig Therapiemöglichkeiten
Obschon geeignete Schutzmaßnahmen absolut notwendig sind, kann der Täter nicht einfach aus der Gruppe entfernt werden. Zum einen kann er nur schwer für etwas verantwortlich gemacht werden, das er nicht als Unrecht versteht; zum anderen ist auch er ein der Einrichtung anvertrauter Klient. Dessen eigenen sexuellen Gewalterfahrungen sind in der Einrichtung bekannt. Er wird ein Leben lang auf einen Wohn[1]heimplatz angewiesen sein. Den Grund für einen Umzug in eine andere Einrichtung könnte er gar nicht nachvollziehen. Er würde aus seinen Bezügen gerissen. Würde man am neuen Wohnort mit noch mehr Gewalt rechnen müssen? Dürfte man die Vorfälle datenschutzrechtlich überhaupt an eine andere Einrichtung weiter[1]geben? Dort könnte er auf andere, völlig unwissende potenzielle Opfer treffen. Und: Welche Hilfen könnte man ihm mit Blick auf eine dauerhafte Verhaltensänderung anbieten? Auch hier fehlen geeignete Interventionen.
Beispiel 2: Ein Betreuer findet einen nackten, kaum zu verbalen Äußerungen fähigen Bewohner, der über einer bekleideten, massiv bewegungs- und kommunikationseingeschränkten Bewohnerin keuchend Stoßbewegungen macht.
Obwohl dieser Fall dem ersten Beispiel sehr ähnlich scheint, unterscheidet er sich doch signifikant: Hier wurde ein Betreuer Zeuge des Geschehens. Aufgrund der Behinderung der Frau konnte nicht geklärt werden, ob die Frau die Situation als angenehm, befriedigend, verstörend oder gewaltsam empfunden hat. Somit musste die Einrichtung durch Schutzmaßnahmen verhindern, dass sich die Situation wiederholt.
Die Bewohnerin und der Bewohner kommen nur selten aus der Einrichtung heraus. Ihre Möglichkeiten, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, ihren eigenen Intimitätsbedürfnissen Rechnung zu tragen und unter Umständen einen Sexualpartner, eine Sexualpartnerin zu finden, sind sehr gering. Wie kann für sie, die sich die Mitbewohner(innen) nicht selbst aus[1]gesucht haben, eine selbstbestimmte und positiv leb[1]bare Sexualität ermöglicht werden? Welche Wege können dem übergriffigen Mann eröffnet werden? Wann können, dürfen wir zum Beispiel über eine Sexpuppe oder Sexualassistenz nachdenken? Es zeigt sich, dass die reine Verhinderung von Übergriffen zu kurz greift. Es gilt auch, Sexualität zu ermöglichen.
Beispiel 3: Eine junge Frau Ende zwanzig arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Sie ist deutlich intelligenzgemindert. Regelmäßig hat sie Geschlechtsverkehr mit ihrem Freund auf der Werkstatttoilette. Dies stört die Kolleg(inn)en. Der begleitende Dienst erfährt im Gespräch mit der Mutter, bei der die Frau lebt und die zugleich gesetzliche Betreuerin ist, dass die Mutter fest davon überzeugt sei, dass Sexualität nichts für ihre unschuldige Tochter sei. Sie habe sie bewusst nicht aufgeklärt und erlaube ihr keinerlei private Treffen mit Männern, nicht einmal zum Eisessen.
Die Mutter kümmert sich liebevoll um ihre Tochter, will sie vor Schaden bewahren. Dennoch verweigert sie ihr das Erwachsenwerden. Letztendlich übt sie dadurch Gewalt aus, dass sie ihrer Tochter eine Beziehung und eine würdevolle sowie offen gelebte Sexualität vorenthält. Für die Einrichtung stellt sich die Frage: Welche Aufträge ergeben sich daraus? Zunächst gilt es, den Geschlechtsverkehr auf der öffentlichen Toilette zu verhindern. Doch gibt es einen Auftrag darüber hinaus? Ist es Aufgabe der Werkstatt, die Tochter aufzuklären und mit ihr über Verhütung zu sprechen? Soll, kann, muss die Werkstatt die Mutter informieren, auf die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft hinweisen und Anwaltschaft für die Tochter ergreifen? Wann gilt es, die junge Frau in ihrer Selbstbestimmung zu stärken und zu unterstützen oder sogar vor das Betreuungsgericht zu gehen - auch auf die Gefahr hin, dass sie dadurch die Beziehung zu ihrer Mutter und ihr Zuhause verliert? Wäre die Tochter überhaupt in der Lage, die Konsequenzen eines Gangs vor das Gericht zu erfassen und sich frei für diesen Weg zu entscheiden?
Beispiel 4: Ein junger, geistig behinderter Mann, der in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet, beklagt sich über eine chronisch psychisch kranke Kollegin, die ihm mehrfach in den Schritt gegriffen habe. Er hat nun Angst, zur Arbeit zu gehen. Der junge Mann hat mit seinem gesetzlichen Betreuer Anzeige erstattet. Die Polizei ermittelte. Das Verfahren wurde nach kurzer Zeit wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Schritte in Richtung Schutz und Selbstbestimmung
Die Frau in diesem Beispiel ist schuldfähig, ein Strafverfahren also möglich. Wie gut sind jedoch die Chancen eines Menschen mit kognitiven und kommunikativen Einschränkungen, vor Gericht Gehör zu finden und Gerechtigkeit zu erlangen? Wie können Menschen mit Behinderung vor Retraumatisierungen geschützt werden, da sie nicht auf eine geschützte Videobefragung zurückgreifen können, wie sie bei Kindern üblich ist? Zudem ergeben sich praktische Herausforderungen: Wann haben Übergriffe unter der Strafbarkeitsgrenze arbeitsrechtliche Konsequenzen und führen zur Entlassung aus der Werkstatt? Ändert sich etwas an der Einschätzung, wenn der/die Beschuldigte geistig behindert ist und es keine anderen Einrichtungen in der Nähe gibt, in denen er/sie beschäftigt werden könnte? Wie viel an Kontakten oder Aufenthalten im gleichen Gebäude hat ein verängstigter Betroffener zu ertragen?
Wie kann mit seiner Angst umgegangen werden? Lei[1]der stehen auch hierfür vielerorts keine therapeutischen Angebote zur Verfügung.
Die vier Beispiele aus der Praxis zeigen, welche Fragen dringend beantwortet werden müssen, wenn der umfassende Schutz vor sexueller Gewalt gewährleistet werden soll.
1. Die Betroffenen und ihre Schutzbedürfnisse müssen im Mittelpunkt der Präventions- und Interventionsmaßnahmen stehen. Deren Gefährdungen gehen weit über Gewalt durch Dienstnehmer(innen) hinaus. Sexuelle Peergewalt muss in den Blick genommen werden.
2. Fachberatungsstellen und therapeutische Angebote, die auf Menschen mit geistiger Behinderung spezialisiert sind, müssen flächendeckend aufgebaut werden. Dies ist notwendig, um traumatisierten Menschen zu helfen sowie übergriffige Menschen mit Behinderung behandeln zu können.
3. Reine Schutzmaßnahmen und die Verhinderung von sexuellen Übergriffen greifen zu kurz. Es gilt zu überlegen, welche Veränderungen es braucht, damit Menschen mit einer geistigen Behinderung ihrer Entwicklung entsprechende lebensfördernde Beziehungen eingehen und leben sowie zu einer würdevollen, selbstbestimmten Sexualität befähigt werden können. Schutz vor Gewalt und die Ermöglichung selbstbestimmter Sexualität gehören notwendig zusammen
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