Meilensteine auf dem Weg zu einer inklusiven Lösung
Die spezifischen Belange von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung noch stärker in den Mittelpunkt stellen - diesen Anspruch formuliert das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen, das nun von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde. Damit beginnt in der Kinder- und Jugendhilfe eine neue Epoche. Der nächste notwendige Schritt ist nun eine inklusive Strukturentwicklung in Bund, Land und Kommunen sowie die "Ermöglichung von Modellprojekten zur Inklusion in der Praxis" 1
Die Reformbemühungen reichen weit zurück. Schon seit dem Jahr 2016 kursierten verschiedene Arbeitsentwürfe, um die Zuständigkeiten für alle Kin- der und Jugendlichen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe zusammenzuführen. Was zunächst unter dem Begriff der "großen Lösung" debattiert wurde, wird nun als "inklusive Lösung" diskutiert. Damit wird deutlich, dass es um weitaus mehr als nur die Frage nach der sozialrechtlichen Zuständigkeit für junge Menschen mit Behinderung gehen muss, um die Kinder- und Jugendhilfe zukünftig an einer Inklusionsperspektive auszurichten.2 In der Architektur eines zukunftsfähigen Leistungssystems soll Inklusion daher als Leitgedanke implementiert werden, ehe im Jahr 2028 die Gesamtzuständigkeit für alle jungen Menschen an die Kinder- und Jugendhilfe fällt.
Inklusion als Zielperspektive
Ohne Zweifel ist die Weichenstellung hin zu einer inklusiven Lösung eine unabdingbare Weiterentwicklung des sozialstaatlichen Leistungsspektrums. Als Ziel des gesamten Reformprozesses, der die UN-Behindertenrechtskonvention in nationales Recht übersetzen soll, wird die "Zusammenführung von Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für junge Menschen unter dem Dach der Jugendhilfe"3 ausgegeben. Inwiefern damit allerdings dem Inklusionsanspruch und den Spezifika der Lebenswelten aller jungen Menschen besser Rechnung getragen wird, bleibt im Verlauf der nächsten Jahre kritisch zu beobachten und proaktiv zu gestalten. Dieser Aufgabe stellen sich der Bundes- verband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) und der Evangelische Erziehungsverband (EREV) mit bundesweit 65 Einrichtungen und arbeiten gemeinsam an dem Ziel: "Inklusion jetzt!"4
Inklusion kann nur gelingen, wenn die Anstrengungen über eine bloße Schnittstellenbereinigung hinaus- gehen. Aus dem Modellprojekt "Inklusion jetzt!" wurden zentrale Meilensteine auf dem Weg hin zu einer inklusiven Lösung formuliert. Sie wurden unter Einbeziehung rechtlicher Expert(inn)en und Kolleg(inn)en aus der Praxis von Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe erarbeitet.5
Inklusive Lösung verbindlich umsetzen
Durch die Ratifizierung des Artikels 7 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat sich Deutschland verpflichtet, die notwendigen und hinreichenden Instrumente zur Ermöglichung von Teilhabe für alle jungen Menschen zu schaffen. Für das Ziel einer inklusiven Gesellschaft braucht es beständige Erklärungen im Sinne von verbindlichen Generationenverträgen, die über Legislaturperioden Bestand haben und nicht einfach je nach Regierungszusammensetzung und
Haushaltslage aufgekündigt werden können. Den inklusiven Leitgedanken zu implementieren ist eine Querschnittsaufgabe, die sich in sämtlichen Leistungsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe wiederfinden muss. Dass die inklusive Ausrichtung der Aufgabenwahrnehmung und die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von jungen Menschen mit Behinderung im aktualisierten § 79 a SGB VIII als ein Qualitätsmerkmal der Kinder- und Jugendhilfe festgeschrieben wird, ist daher sehr zu begrüßen. Dieser Maßstab muss zukünftig angewandt und die Praxis evaluiert werden.
Ein einheitlicher Anspruch für alle
Inklusion kann nachhaltig nur gelingen, wenn junge Menschen mit und ohne Behinderung von einer gemeinsamen Anspruchsgrundlage gegenüber einem Primärverpflichteten, also dem Jugendamt, profitieren können. Ansonsten bestünde aus fachlich-praktischer Sicht die Gefahr, dass das Jugendamt zwar für alle jungen Menschen zuständig ist, in der Verwaltungspraxis aber zwei unterschiedliche Verfahrensweisen entstehen. Dies würde dem Anspruch der Inklusion, Diversität als Normalität anzusehen, entgegenstehen. Darum gilt es, die Anspruchsvoraussetzungen von Jugend- und Eingliederungshilfe so miteinander zu verbinden, dass sowohl die jungen Menschen als auch die Eltern als Anspruchsberechtigte einen niederschwelligen Zugang zu Hilfen erhalten, wie es dem bisherigen Verfahren nach § 27 SGB VIII entspricht. In der beschlossenen Gesetzesnovelle wird dies nicht in geltendes Recht gefasst. Umso mehr liegt es an der Praxis der Leistungserbringung, diese Notwendigkeit durch partizipative Ansätze umzusetzen.
Umfassende Koordinierung durch Verfahrenslotsinnen und -lotsen
Das Gesetz sieht eine lange Übergangsphase vor. Diese umstrittene wie notwendige Zeit muss mit innovativen Ansätzen gestaltet werden, um zum einen das im Jahr 2027 neu zu formulierende SGB VIII aus der Praxis heraus mitzuentwickeln und andererseits, um die Versäulung der Systeme bereits jetzt abzubauen. Für diese Übergangsphase sind sogenannte Verfahrenslots(in- n)en vorgesehen, die als Koordinierungsstelle zwischen den Leistungsbereichen fungieren sollen. Diese sollten mit Expert(inn)en besetzt werden, die nicht nur aus den Schnittstellen von SGB VIII und SGB IX Nahtstellen machen, sondern das gesamte sozialrechtliche Leistungsspektrum, etwa auch das SBG II, überblicken können.
Hilfeplanverfahren mit wirklicher Beteiligung
Zusammen mit den Regelungen auf gesetzlicher Ebene und der institutionellen Schaffung von inklusiven Ermöglichungsbedingungen muss ein Hilfeplanverfahren entwickelt werden. Dieses Verfahren stärkt die Adressat(inn)en in einem partizipativen Prozess und führt die Zuständigkeiten unter einem Dach zusammen. Die Notwendigkeit eines auf wirklicher Beteiligung fußenden Hilfeplanverfahrens ist fachlich unumstritten; die rechtliche Stellung der Eltern und jungen Menschen steht dem aber noch weit nach. Um diese rechtliche Schwäche auszugleichen und mit inklusiver Haltung auszubauen, braucht es Mut, innovative Wege zu gehen und auch an das Fachkräftegebot inklusive Maßstäbe anzusetzen. Eine inklusive Leistungserbringung kann nur funktionieren, wenn die Fachkräfte den wachsenden Aufgaben von Jugend- und Eingliederungshilfe gerecht werden können. Qualifikation und Eignung des Personals sind daran zu bemessen, inwiefern die Mitarbeitenden den erzieherischen wie auch behinderungsbedingten Bedarfen junger Menschen Rechnung tragen können. Die Spielräume dafür sind bereits jetzt in § 72 SGB VIII angelegt, man muss nur den Mut aufbringen, diese zu nutzen.
Inklusion kann nur gelingen, wenn die Adressat(inn)en der Leistungen von Anfang an und in umfassender Weise an den Prozessen beteiligt sind. Dies geht über das Mitwirken an der individuellen Hilfeplanung hinaus und betrifft auch die kommunalpolitische Rahmensetzung durch die Jugendhilfeplanung. Ohne eine inklusive Jugendhilfeplanung gibt es keine inklusive Hilfeplanung und die damit verbundene Leistung. Für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe bleibt zu bedenken, dass im Moment noch immer nur die Personensorgeberechtigten leistungsberechtigt sind. Im Kontext der Diskussion um Kinderrechte gilt es im weiteren Verlauf immer wieder darauf hinzuarbeiten, auch die jungen Menschen als Anspruchssubjekte zu normieren.
Übergänge für junge Volljährige und "Care Leaver"
Inklusion braucht eine Übergangsgestaltung, die "Care Leaver" aus Jugend- und Eingliederungshilfe auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben begleitet und diese in der Entfaltung ihrer Potenziale bestmöglich unter- stützt. Dazu gehört, frühzeitig zu planen, wie der individuelle Weg eines jeden jungen Menschen aussehen kann. Maxime soll dabei immer der Wille des jungen Menschen sein.
Fazit: der Inklusionsanspruch als kritisches Korrektiv
Inwiefern können die mit dem Gesetz gestellten Weichen dem inklusiven Anspruch einer teilhabe ermöglichen den Kinder- und Jugendhilfe gerecht werden? Ob die Leistungsangebote tatsächlich zu einem spürbaren Mehr an sozialer Teilhabe führen, können letztlich nur die jungen Menschen selbst beantworten.6 Ihr Inklusionsanspruch lässt sich zum einen als kritisches Korrektiv in der Hilfeplanung nutzen. Zum anderen ist es die Aufgabe nicht nur der in der konkreten Praxis Tätigen, Inklusion (er)lebbar zu machen, sondern alternativloser Anspruch an die Gesellschaft, Inklusion zu ermöglichen - unabhängig davon, vor welchem Hintergrund es zu Exklusionen kommt.
Anmerkungen
1. Bundesrat Drucksache 319/21, Kurzlink: https://bit.ly/3tDHKy6
2. Lüders, C.: Inklusion und "Große Lösung" in der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Zwischenbilanz aus aktuellem Anlass. In: Westphal, M.; Wansing, G. (Hrsg.): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste. Wiesbaden: Springer VS., 2019, S. 167-187.
3. Bundesrat Drucksache 319/21, S. 6.
4. "Inklusion jetzt!" ist ein Modellprojekt des BVkE und des EREV. An 61 Standorten werden bundesweit Konzepte zur inklusiven Arbeit in den Hilfen zur Erziehung entwickelt, siehe dazu Inklusion jetzt! (bvke.de) sowie neue caritas, Heft 15, S. 17-19.
5. Kieslinger, D.; Hollweg, C.: Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder‐ und Jugendstärkungsgesetz - KJSG), 2020; online unter: www.projekt-inklusionjetzt.de/projekt/aktuelles-sgb-viii-reform/aktuelles-sgb-viii-reform
6. BKJ, Bundesjugendkuratorium: Inklusive Kinder- und Jugendhilfe nachhaltig ermöglichen! 2020; online unter Kurzlink: https://bit.ly/3aUulL
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