Gemeinsam ein besseres Europa anstreben
Nach der letzten Bundestagswahl lasen einige den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom März 2018 sicherlich mit einem gewissen Erstaunen. "Ein neuer Aufbruch für Europa" stand dort in der ersten Zeile des Titels. Wieso Europa, wenn es doch um den Wegweiser für die nächste deutsche Bundesregierung ging?
"Deutschland ist weltweit ein anerkannter Partner, aber nur mit einem neuen Aufbruch für Europa wird Deutschland langfristig Frieden, Sicherheit und Wohlstand garantieren können"1 , so ein Zitat aus der Präambel des Koalitionsvertrags. Zugegeben, von dem "Aufbruch für Europa" ist wenig übriggeblieben, doch wurde zu recht aufgezeigt, dass viele Herausforderungen heutzutage global sind und aufgrund ihrer Komplexität mindestens gemeinsame europäische Antworten benötigen.
Als Bürger(innen), als Gesellschaft und nicht zuletzt auch als Caritas sollten wir uns angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl 2021 selbstkritisch fragen, ob wir nicht weiterhin zu national denken und ob wir die Relevanz der europäischen Entscheidungsebene ebenso wie die globale Dimension vieler Herausforderungen nicht unterschätzen.
Wichtige Belange der Caritas wie Migration, Digitalisierung, Klimapolitik oder jüngst die Bewältigung der Corona-Pandemie sind nur ein paar Beispiele für Themen, die deutlich machen, wie untrennbar die Arbeit der Caritas in Deutschland mit der europäischen Ebene und den dortigen Entscheidungsprozessen verwoben ist.
Als Caritas setzen wir uns dafür ein, dass Deutschland - zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten der EU - insbesondere den ökologischen, digitalen und demografischen Wandel als zentrale Herausforderungen aktiv und sozial gestaltet. Als größter EU-Mitgliedstaat hat Deutschland dabei eine besondere Verantwortung. Gleichzeitig profitiert Deutschland auch wirtschaftlich davon, wenn es sich weiter für eine Vertiefung und Verbesserung einer bürgernahen und sozialen Europäischen Union einsetzt.
Europapolitische Forderungen des Deutschen Caritasverbandes
◆ Die EU als Wertegemeinschaft stärken
Ziel muss es sein, die EU deutlich mehr als derzeit als Wertegemeinschaft und soziale Gemeinschaft von Staaten weiterzuentwickeln und zu profilieren - im Sinne der Bürgerinnen und Bürger, der europäischen Gemeinwesen, ihrer demokratischen Staaten und des Friedens in Europa. Solidarität und Rechtsstaatlichkeit sollten demgemäß als Grundprinzipien der EU auch unter Nutzung finanzieller Sanktionen EU-weit durchgesetzt werden.
◆ Europäische Sozialpolitik nachhaltig gestalten
Wenn Deutschland sich konsequent gegen soziale Ungleichheiten in wirtschaftlich schwächeren EU-Mitgliedstaaten einsetzt, sichert es auch den Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft in Deutschland. Aus Caritassicht müssen daher die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte2 und der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen3 weiter vorangetrieben werden.4 Dabei muss das Subsidiaritätsprinzip in beide Richtungen gewahrt werden, so dass die EU dort handeln kann, wo sie die Ziele am besten verwirklicht.
Wer europäische Sozialpolitik nachhaltig gestalten will, muss die Zusammenhänge zwischen sozialen und ökologischen Zielen in den Blick nehmen. Der "europäische Grüne Deal" ist eine der sechs Prioritäten5 der EU-Kommission von Ursula von der Leyen. Europa will der erste klimaneutrale Kontinent werden. Als Caritas fordern wir eine sozial gerechte ökologische Wende. Deutschland muss zu ambitionierten Klimazielen auf europäischer Ebene einen Beitrag leisten, um die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu senken. Ebenso müssen aus Sicht der Caritas Sozial- und Umweltstandards in allen EU-Freihandelsabkommen durchgesetzt und die sensiblen Bereiche der Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen in EU- Freihandelsabkommen ausgenommen werden.
◆ Funktionierende Sozialleistungssysteme europaweit ausbauen
Die Corona-Pandemie hat erneut gezeigt, wie wichtig es ist, dass in allen EU-Mitgliedstaaten existenzsichernde, verlässliche, bezahlbare und allgemein zugängliche Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zur Verfügung stehen. Die zukünftige Bundesregierung sollte sich daher auf allen Entscheidungsebenen für gute soziale Standards im Sinne einer nach oben gerichteten Konvergenz in der EU einsetzen. Dabei sollten die besonderen Qualitäten der gemeinnützigen Sozialwirtschaft im EU-Beihilfe-, Vergabe- und Steuerrecht berücksichtigt werden.
◆ Einen rechtsverbindlichen EU-Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme einführen
Funktionierende, an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete und von keiner Vorleistung abhängige Grundsicherungssysteme in allen EU-Mitgliedstaaten sind für das Funktionieren des Sozialstaats wesentlich. Gleichzeitig könnten sie eine unfreiwillige armutsbedingte Migration innerhalb der EU einschränken und so Belastungen einzelner Sozialsysteme verhindern. Aus Caritassicht sollte Deutschland sich daher für einen rechtsverbindlichen EU-Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme einsetzen (zum Beispiel in Form einer EU-Richtlinie), der nationale Traditionen respektiert und die europäischen Bestrebungen nach einem EU-Rahmen für Mindestlöhne6 ergänzt.
◆ Faire Beschäftigungsbedingungen mobiler EU-Arbeitskräfte sicherstellen
Deutschland profitiert von der EU-Arbeitskräftemobilität. Für die Caritas ist wesentlich, dass faire Beschäftigungsbedingungen wie zum Beispiel die Zahlung des Mindestlohns oder des allgemeinverbindlichen Tariflohns, die Einhaltung der geltenden Arbeitsstandards und Arbeitszeiten hierbei beachtet und, wo nötig, durchgesetzt werden - insbesondere auch für Saisonarbeiter(innen) und mobile Pflegekräfte (S. dazu auch neue caritas Heft 12/2021, S. 5). Die Caritas fordert daher unter anderem, dass die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) die notwendigen Kompetenzen und Mittel erhält, um mobile EU-Arbeitskräfte zu beraten sowie effektive, grenzüberschreitende Kontrollen durchzuführen, ohne die Freizügigkeitsrechte einzuschränken.7
◆ Europäische Antworten auf den digitalen Wandel geben
Auf den digitalen Wandel mit seinen Chancen, aber auch Herausforderungen wie zum Beispiel Datensicherheit, digitale Kompetenzen und Ausbau der Infrastruktur muss es auch europäische Antworten geben. Der DCV fordert die Bundesregierung und die Europäische Union auf, bei neuen Legislativvorschlägen die soziale Gestaltung der digitalen Transformation weiter voranzutreiben, auf die Vermeidung von Diskriminierung hinzuwirken und potenziell benachteiligte Menschen und deren digitale Teilhabe besonders in den Fokus zu nehmen. Für den Einsatz von algorithmischen Entscheidungsverfahren ("Algorithmic Decision-Making" - ADM) im Digitalraum Europa muss aus Sicht der Caritas ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, der von der Einhaltung europäischer Grundwerte und Grundrechte geleitet wird.8
◆ Mit EU-Geldern in Menschen investieren
Deutschland profitiert in großem Umfang von europäischen Förderprogrammen. In der EU-Förderperiode 2021 bis 2027 wurden jedoch Programme wie der Europäische Hilfsfonds Plus, die direkt in Menschen investieren, geschwächt und die EU-Kofinanzierungssätze abgesenkt. Insbesondere gemeinnützig arbeitende Projektträger können die hohe Eigenbeteiligung nicht stemmen. Als Caritas fordern wir, dass der Bund mit nationalen Geldern Kürzungen für die Projektträger ausgleicht und die Kofinanzierung erhöht. Deutschland sollte sich zudem auf EU-Ebene weiterhin für administrative Vereinfachungen starkmachen und selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Alle EU-Fonds sollten in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Betroffenen partnerschaftlich umgesetzt werden.
◆ Europaweite Zusammenarbeit fördern
Innovative Lösungen für dringende gesellschaftliche Herausforderungen entstehen häufig beim Blick über den eigenen Tellerrand, was auch die Corona-Pandemie wieder gezeigt hat. Die Bundesregierung sollte daher europaweite Kooperationen in allen Politikfeldern fördern. Der europäische Austausch insbesondere von Benachteiligten, jungen Menschen und Ehrenamtlichen, etwa durch das Erasmus-Programm, sollte gestärkt werden.
Abschließend kann man für die Bundestagswahl 2021 festhalten, dass wir alle weiterhin danach streben sollten, das Schubladendenken im Sinne von "grün oder sozial", "digital oder offline", "national oder europäisch" zu überwinden. Um Ziele wie die Armutsbekämpfung, die digitale Teilhabe oder den Klimaschutz zu erreichen, gilt es Themen und verschiedene Entscheidungsebenen kohärent und kontinuierlich in ihre Komplexität zusammenzudenken - getreu dem Motto der diesjährigen Caritas-Kampagne #DasMachenWirGemeinsam.
Anmerkungen
1. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, Zeile 3-5; https://bit.ly/2TnfNib
2. Die Europäische Säule sozialer Rechte in 20 Grundsätzen; https://bit.ly/3dqJAgC
3. United Nations: The 17 Goals; https://sdgs.un.org/goals
4. Vgl. zum Beispiel BAGFW-Stellungnahme zur Konsultation der Europäischen Kommission zur Stärkung des sozialen Europas vom 30. November 2020; https://bit.ly/361Wv4C
5. Die Prioritäten der Europäischen Kommission: https://bit.ly/2SEbY7W
6. Vgl. Richtlinienvorschlag der EU-Kommission vom 28. Oktober 2020 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union COM(2020) 682 final.
7. Anforderungen des DCV zu den geplanten EU-Ratsschlussfolgerungen zu temporär mobilen, erwerbstätigen EU-Bürger(inne)n, neue caritas Heft 19/2020, S. 31 ff.
8. DCV-Impulspapier "Algorithmische Entscheidungssysteme im Digitalraum Europa", neue caritas Heft 20/2020, S. 35 f.
Wertvoller Bundesfreiwilligendienst
Ein Netzwerk für Vielfalt in der Caritas
Zwölf Forderungen zur Bundestagswahl
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}