Es braucht Mut, Entschlossenheit und Parteilichkeit gegenüber dem Kind
Wenn sich ein Kind sicher fühlen kann, wenn es von seiner Mutter und/oder seinem Vater geschützt wird, wenn sich diese für die Rechte des Kindes einsetzen und von ihnen selbst keinerlei Gefahr ausgeht, und seine Bedürfnisse fürsorglich beantwortet werden, dann können Krisen, Herausforderungen und Konflikte mit Zuversicht bewältigt werden. Was aber, wenn Eltern diesen Aufgaben nicht ausreichend gerecht werden? Wenn ein Kind nicht willkommen ist und es zurückgewiesen wird, wenn die Eltern selber zur Gefahr werden, sie es schwer vernachlässigen, körperlich und seelisch misshandeln oder sexuell ausbeuten? Wenn ein Kind daher niemanden hat, zu dem es fliehen kann? So ist es bei dem dreijährigen Mädchen, das vor Hunger Tapeten isst, weil keine Eltern da sind, oder bei dem fünfjährigen Jungen, der häufig von seinem Vater verprügelt wird, oder dem achtjährigen Jungen, der von bekannten und unbekannten Männern sexuell ausgebeutet wird - alles häufige Beispiele von Kindern in der Jugendhilfe. In solchen Fällen müssen sich andere um den Schutz, die Rechte und die Fürsorge für das Kind kümmern. Die Kinder- und Jugendhilfe ist dann in besonderer Weise gefordert. In Fällen von Kindeswohlgefährdung, der in den meisten Fällen schon eine Kindeswohlverletzung vorausgegangen ist, muss der Kinderschutz und müssen die Kinderrechte Vorrang vor den Elternrechten haben. 1
Ambulante Hilfen stärken Ressourcen der Familie
Solange ein Verbleib in der Familie mit dem Kindeswohl vereinbar ist, die Störung der Eltern-Kind-Beziehung mehr mit aktuellen und veränderbaren Krisen und Problemen begründet werden kann und Eltern einsichtig, motiviert und in der Lage sind, Hilfe anzunehmen, sind ambulante Unterstützungsangebote angezeigt. Sie haben das Ziel, die Ressourcen der Familie zu entdecken und zu stärken, so dass Kinder bei ihren Eltern leben können und geschützt sind.
In Kinderschutzfällen sind Fachkräfte in besonderer Weise gefordert. Innerhalb kurzer Zeit müssen sie im Kontakt zu dem Kind und in Zusammenarbeit mit den Eltern und dem Jugendamt mit geeigneten Untersuchungsmethoden klären, welche Ziele zu erreichen sind und welche nicht. Um den Kinderschutz zu gewährleisten, sollten zwei Personen als Tan[1]dem in der Familie eingesetzt werden - eine für das Kind, die andere für die Eltern. Wenn dann noch die Fürsprecherin oder der Fürsprecher des Kindes am Lenker sitzt, hat das Kind gute Chancen, notwendige Fürsorge und Schutz zu erhalten. So ist gewährleistet, dass Kinderschutz Vorrang behält. In Kinderschutzvereinbarungen wird festgelegt, wer was wann kontrolliert. So werden schädigende Einflüsse auf die Kinder durch rasche Mitteilungen an Jugendamt und Gericht zeitlich begrenzt. Entlastung und Hilfe für die Eltern reichen in diesen Fällen nicht aus. So können Kinder frühzeitig und effektiv, notfalls auch durch Herausnahme, geschützt werden.
In einem oft grenzenlosen pädagogischen Optimismus werden Hilfsmöglichkeiten jedoch häufig überschätzt, etwa wenn jahrelang schwer drogenabhängige, schwer psychisch kranke oder wiederholt gewalttätige Eltern Appelle, Auflagen und Hilfsangebote erhalten, denen sie nicht nachkommen können. Die Eltern erleben dann erneute Niederlagen und dem Kind gehen wertvolle Zeit und Entwicklungschancen verloren. So schreibt Zitelmann: "Eltern, die unfähig sind, für ihr Kind zu sorgen, brauchen Hilfe zur Anerkennung ihres Scheiterns, statt weitere zum Scheitern verurteilte Hilfen."2
Stationäre Hilfen, um die Lebensperspektive zu klären
Wenn der Schutz und die Förderung eines Kindes nicht oder nicht mehr gewährleistet werden kann oder nicht klar ist, ob Eltern ausreichend erziehungsfähig sind, können Kinder oder ganze Familien zur Klärung einer dauerhaften Lebensperspektive in der stationären Jugendhilfe aufgenommen werden. Dies können Bereitschaftspflegefamilien, Inobhutnahmegruppen oder wie im Caritas-Kinder- und Jugendheim in Rheine seit 1989 die "Therapeutische Übergangshilfe" für Kinder und seit 1994 die "Stationäre Familienarbeit" für ganze Familien sein.3
Um rechtzeitig sehr junge Kinder zu schützen, werden hoch belastete Familien, Schwangere, minderjährige Mütter mit Säuglingen, aber auch Väter in stationärer Familienarbeit aufgenommen. So kann früh und im Prozess mit den Eltern anhand klarer Schutzvereinbarungen überprüft werden, ob die Frauen und Männer ausreichend gute Eltern sein können. Zu klären gilt: Sind sie in der Lage, ein stabiles Leben zu führen, eigene Affekte zu kontrollieren, sich in ein Kind einzufühlen und Rücksicht auf ein Kind zu nehmen? Sind sie auf Dauer in der Lage, eine Beziehung zu ihrem Kind einzugehen? Möchten sie für ihr Kind Vater oder Mutter sein oder sind sie dazu überredet worden? Zeigen sie Einsicht, Veränderungsmotivation und auch Kompetenz, sich in einem für das Kind vertretbaren Zeitraum ausreichend weiterzuentwickeln und Hilfe anzunehmen? Kinderschutz sollte so frühzeitig wie möglich eingeleitet werden.4
Ein misshandeltes Kind braucht als Erstes Schutz
Nach oftmals gescheiterten ambulanten Hilfen, manchmal auch bei akuter Kindeswohlverletzung werden Kinder in kleinen Spezialgruppen eines Kinderheimes untergebracht, so kurz wie möglich und so lange wie nötig, bis eine dauerhafte Lebensperspektive in Zusammenarbeit mit dem Kind, den Eltern, dem Jugendamt und gegebenenfalls dem Gericht geklärt ist. Die Aufgaben einer solchen Hilfe umfassen weit mehr als nur Diagnostik. Sie sollte daher auch nicht den reduzierten Namen "Diagnosegruppe" tragen. Ein misshandeltes Kind braucht als Erstes Schutz, ein heilpädagogisches Milieu, Antworten auf seine Fragen, Arbeit mit seinen Eltern, Perspektivklärung und Hilfe bei der Umsetzung.
Kinder müssen nun keine Beziehungs- und Gehorsamkeitserwartungen von Eltern mehr erfüllen. Ihre Lebensräume sollten elternfreie Räume sein. Viele zurückgewiesene und vernachlässigte, misshandelte und ausgebeutete Kinder fühlen sich regelrecht gerettet.
So sagt ein sechsjähriges Mädchen in der ersten Untersuchungsstunde: "Hier ist es richtig gut. Hier gibt es immer mittags einen Überraschungswagen (Essenswagen) und hier kann ich nachts schlafen." Im Rollenspiel erhielt das Mädchen eine Schlafspritze und es kommentiert: "Wenn man schläft, muss man nicht mehr an seine schlimmen Eltern denken." Was sie gemacht haben, kann sie nicht erzählen, spielt aber immer wieder, wie eine Babypuppe unter den Tisch gepackt und ignoriert wird. Sie sagt: "Das kann ruhig schreien. Da geht keiner hin." Auf diese Weise gibt das Mädchen bereits nach wenigen Tagen Einblick in seine Nöte, Bindungen und Wünsche. Die anfangs unverständlichen Verhaltensweisens eines Kindes werden im Kontext seiner Geschichte auf einmal verständlich und nachvollziehbar.
So klaut und hortet ein Kind Lebensmittel. Seine Eltern ließen es mit seinem Hunger und in seiner Todesangst schreien. Es erzählt mit seinem Verhalten von seiner Geschichte, mit der es verstanden werden will. Zum Beispiel: "Welch eine gute Idee, sich Vorräte anzulegen. Dann braucht man auch keine Angst mehr zu haben, zu verhungern." Und dann werden mit dem Kind, das keinem Erwachsenen mehr trauen kann, Vorräte angelegt.
Die Sprache der Kinder verstehen
Wenn die Erfahrungen in der schrecklichen Welt anerkannt und nicht durch beruhigen[1]de Floskeln bagatellisiert werden, fühlt sich ein Kind nicht mehr verrückt. So benötigen die Kinder glaubhaften Schutz, besonders vor der Macht ihrer Eltern, sowie berechenbare und versorgende, verstehende und antwortende Erwachsene, Geduld und zunächst Symptomtoleranz. Eine umfassende aussagekräftige Psychodiagnostik unterstützt den Verstehensprozess, insbesondere ermöglicht sie die differenzierte und begründete Klärung der dauerhaften Perspektive, wieder bei den Eltern, in einer Pflegefamilie oder einer Heimeinrichtung zu leben. Dabei sind alle gefordert, die Sprache der Kinder zu verstehen, sie einzuordnen und ihnen auch im Schutz projektiver Untersuchungsmethoden eine Stimme zu geben.
Die Arbeit mit den Herkunftseltern sollte sich an den Bedarfen der Kinder orientieren, die eine Anerkennung der Misshandlung, eine Einfühlung in ihre Not, Rücksichtnahme gegenüber ihren Bedürfnissen und Verantwortungsübernahme der Eltern benötigen. Misshandelnde Eltern dürfen keine Macht mehr über ihre Kinder haben. Milde mit ihnen bedeutet oft Härte gegenüber den Kindern. Denn ohne glaubhaften Schutz gelingen die beste Pädagogik und die beste Therapie nicht. Klarheit, Respekt und Interesse an der Geschichte der Eltern sowie eine Trennung von Person und Tat ermöglichen oft eine konstruktive Zusammenarbeit.5
Die Würde des Kindes ist unantastbar. Kinderschutz in der Jugendhilfe erfordert Mut, Entschlossenheit und Parteilichkeit gegenüber dem Kind. Werden Möglichkeiten genutzt und die Nöte der Kinder auch von Jugendämtern und Gerichten ernst genommen, bietet sie enorme Chancen, für die Rechte des Kindes einzustehen. Jugendhilfe wird glaubhaft, wenn sie beweist: Wir schützen dich. Wir setzen uns für deine Rechte ein. Wir helfen dir.
Anmerkungen
1. Ausführlich in: Janning, M.: Schriftliche Anhörung des Landtages NRW zum Kinderschutz, 2020. Download: https://landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-2727.pdf
2. Zitelmann, M.: Inobhutnahme und Pflegekindschaft. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 7. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag, 2018, S. 40
3. Dörnhoff, N.: Die stationäre Therapeutische Übergangshilfe des Caritas-Kinder- und Jugendheimes Rheine. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 7. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag, 2018, S. 205-229.
4. Jakobs, J.; Werning, U.: Schutz für die Kinder - neue Chancen für Familien. In: neue caritas Heft 21/2014, S. 13-15.
5. Janning, M.: Zur Arbeit mit Herkunftseltern. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 7. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag, 2018, S. 169-204.
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