„Zuerst einmal schauen wir, dass die Kinder satt werden“
Dass Kinder überproportional von Armut betroffen sind - dafür braucht es keine Caritas-Studie. Doch wie zeigt sich die Situation armutsbetroffener Kinder in unseren Diensten und Einrichtungen? 27 Fachkräfte sind dem Aufruf aus der neuen caritas Heft 19/2017 gefolgt und haben von ihren Erfahrungen berichtet, die meisten aus Kindertageseinrichtungen. Dies ist keine repräsentative Stichprobe. Doch sie gibt einige Anhaltspunkte, wo sich genaueres Hinsehen lohnt.2
Alle Kitas sind für alle offen - im Prinzip
Im Prinzip steht jede Kindertageseinrichtung allen Familien offen. Für Familien im Transferbezug übernimmt der öffentliche Kostenträger die Kitagebühren.3 Bundesweite Daten über den Anteil armutsbetroffener Kinder in katholischen Einrichtungen gibt es nicht. Die Rückmeldungen zeigen jedoch, dass ihr Anteil von Kita zu Kita erheblich schwankt: Zwei Einrichtungen betreuen überhaupt keine armen Kinder, bei anderen liegt der Anteil aus Familien im Transferbezug bei nahezu 100 Prozent. Das soziale "Mischungsverhältnis" hängt nicht nur vom Standort ab - wohlhabender Speckgürtel versus Notwohngebiet -, sondern auch von den strukturellen Rahmenbedingungen. Wenn es vor Ort mehrere Einrichtungen gibt, dann wählen ärmere wie wohlhabende Eltern aus: Gut ausgebildete Eltern favorisieren eine U3-Betreuung mit Ganztagsangebot, damit sie einer vollzeitnahen Erwerbstätigkeit nachgehen können.
Halbtagskitas ohne U3-Betreuung und ohne Mittagessen zeigen dagegen auch in wohlhabenden Vierteln einen hohen Anteil armutsbetroffener Kinder. Sie werden nachmittags zu Hause betreut, und das geht nur, wenn die Eltern keiner oder nur einer geringfügigen Erwerbstätigkeit nachgehen. Oder wenn nur ein Elternteil Vollzeit arbeitet. Der soziale Auswahleffekt verstärkt sich, weil alle Eltern Kitas (und später die weiterführenden Schulen) bevorzugen, in denen Kinder mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund in der Mehrzahl sind. Arme oder zugewanderte Eltern präferieren Einrichtungen, in denen die Kinder aus ähnlichen Verhältnissen kommen wie sie selbst. Und für wohlhabende Familien gilt offenbar noch immer das Motto "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"4.
Materieller Mangel - und immaterielle Folgen
Schadhafte Kleidung, Schulden, schlechte Wohnverhältnisse und anderes kennzeichnen die Lebenslage armutsbetroffener Kinder. Ihnen stehen weniger Freizeitmöglichkeiten und insgesamt weniger Erfahrungswelten offen als wohlhabenden Kindern: "Im Sommer spielen sie auf dem Spielplatz, im Winter sind sie zu Hause", berichtet eine Kita-Leiterin. Manche hätten ihren Stadtteil noch nie verlassen. "Katastrophal" sei die Gesundheit der Kinder und auch der Mütter, die oft selbst in Armut groß geworden sind, so die Erfahrung einer Spiel- und Lernstuben-Leitung. Bücher, Sport, Vereine, Schwimmkurse - dafür fehlt schlicht das Geld. Viele armutsbetroffene Kinder leben in multipler Deprivation. Am schlechtesten ist die Situation der Flüchtlingskinder. Hier wird übereinstimmend von "absoluter Armut" berichtet.
Die Armut von Kindern ist untrennbar verbunden mit der Armut ihrer Eltern. Die Fachkräfte in Kitas genießen eine Vertrauensstellung bei Müttern und Vätern. Das ist eine große Chance für Beratungsgespräche und die Vermittlung von Hilfen, die über die der Kinderbetreuung hinausreichen. Was der sogenannte "Habitus der Armut"5 meint und wie er sich auswirkt, das zeigen die Beobachtungen der Erzieher(innen): Erschöpfung und Resignation schwächen die Kraft, Erziehungsziele durchzusetzen. Arme Familien grenzen sich ab, sie schränken auch die Kontakte ihrer Kinder ein, wenn sie - vermeintliche oder echte - Ablehnung spüren. Kinder internalisieren diese Haltung, sie entwickeln wenig Selbstwertgefühl und Sicherheit. Einem selektiv wirkenden Bildungssystem haben sie später wenig entgegenzusetzen.
Handlungsbedarf beim Bildungs- und Teilhabepaket
Soziale Dienste und Einrichtungen sind wichtige Seismographen für soziale Schieflagen und Änderungsbedarfe bei sozialpolitischen Rahmenbedingungen. Alle Befragten sehen Handlungsbedarf beim Bildungs- und Teilhabepaket: zu gering die Mittel, zu bürokratisch die Beantragung. Es ist notwendig, die monetären Transferleistungen für Kinder zu verbessern, weil das ihre materielle Deprivation lindern und die sozialen und kulturellen Teilhabechancen erhöhen kann. Doch an den immateriellen Folgen und den Vererbungsmechanismen von Armut ändert eine solche Korrektur zunächst wenig: Die Familien bleiben (relativ) arm. Sie brauchen außerdem gezielte Unterstützung durch haupt- und ehrenamtliche Fachkräfte sozialer Dienste.
Die Abfrage zur Kinderarmut legt drei Handlungsschwerpunkte nahe: die Bildungsarmut, die Armut an Erfahrungen und sozialer Interaktion sowie den Gesundheits- und Ernährungszustand. Ein koordiniertes und fachübergreifendes Zusammenwirken sozialer und gesundheitlicher Dienste und Akteure vor Ort könnte alle drei Dimensionen positiv beeinflussen.
Ein Wunsch zum Schluss …
Neue Studien zur Kinderarmut braucht es nicht. Doch konzertierte Aktionen gegen Kinderarmut braucht es dringend. Die Caritas hat viel zu bieten, muss aber die Armutsbekämpfung priorisieren, Strategien entwickeln, sozialpolitische Forderungen und fachliche Handlungskonzepte zusammenführen. Auf die Abschlussfrage, was sie sich wünschen würde, formuliert die Leiterin einer Spiel- und Lernstube folgende Einladung an Bevölkerung und Politik: "Kommen Sie in unsere Einrichtung, sehen Sie sich unsere Arbeit an. Es lohnt sich, hier zu investieren."
Anmerkungen
1. Laut Bundesanstalt für Arbeit lebten im Juni 2017 2,052 Millionen Kinder und Jugendliche in Familien, die auf Hartz IV angewiesen waren. Familien, die oberhalb der Bedürftigkeitsgrenze leben, sind nicht mitgezählt. Doch auch diese Kinder wachsen in Mangellagen auf.
2. Ein Ergebnis der Abfrage wird am 19. Juni ein Fachtag für Kitas in Zusammenarbeit mit dem Diözesan-Caritasverband Aachen sein: "Armutsbetroffene Kinder in Kindertageseinrichtungen. Herausforderungen und wirksame Ansätze für die Praxis."
3. Hier gibt es regionale Unterschiede, beispielsweise sind in Hamburg fünf Stunden Kindertagesbetreuung ab Geburt für alle Kinder beitragsfrei.
4. Lied von Franz Josef Degenhardt, 1965.
5. Schultheis, F.: Armut - eine verdrängte Realität. In: neue caritas Heft 3/18, S. 9 ff.
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