Wie lässt sich Unterricht inklusiv gestalten?
Der Begriff Inklusion als bildungspolitische Zielsetzung wurde erstmals durch die Salamanca-Erklärung der Unesco 1994 in die internationale pädagogische und sonderpädagogische Diskussion eingebracht.1 Diese formuliert zunächst ein grundsätzliches Bildungsrecht für Menschen mit Behinderung.2 Es gilt im besonderen Maße für Lernende aller Altersstufen, die aufgrund ihrer Behinderung unter der Gefahr der Marginalisierung und Benachteiligung am Bildungssystem teilnehmen. Zugleich stellt inklusive Bildung Anforderungen an die Qualität der Bildungsangebote: "Persons with disabilities receive the support required, within the general education system, to facilitate their effective education."3 Die notwendigen und nachgewiesenermaßen wirksamen Maßnahmen ("effective") stehen für die Lernenden in einem inklusiven Bildungssystem zur Verfügung. Die UN-Konvention spricht explizit von einer wirksamen Verbesserung der Bildungsprozesse durch wirksame Maßnahmen. Inklusive Bildung erfordert unterstützende Lern- und Entwicklungsangebote. Die Unterzeichner der UN-Konvention stellen sich dem Auftrag, für alle Lernenden, insbesondere bei vorliegenden Benachteiligungen und Behinderungen, solche Bildungsangebote bereitzustellen, um das individuelle Lernpotenzial bestmöglich zu verwirklichen.
Organisationsformen
Einflussreiche Gutachten argumentieren mit der "Feststellung, dass Förderschülerinnen und -schüler in integrativen Settings gegenüber denen in institutionell separierenden Unterrichtsformen einen deutlichen Leistungsvorsprung aufweisen".4 Unter Beachtung anspruchsvoller forschungsmethodischer Standards jedoch werden die Effekte der Organisationsformen uneindeutig5, teilweise zeigen sich auch Nachteile für Schüler mit Beeinträchtigungen in integrativen Settings.6 Mehrere internationale Überblicksdarstellungen weisen den Mangel gut fundierter empirischer Wirkungsstudien nach und bestätigen: Es gibt keine klaren Vorteile, die für eine der Organisationsformen sprächen.7 Allein durch schulorganisatorische Veränderungen8 lässt sich, so die Schlussfolgerung, der Auftrag inklusiver Bildung nicht realisieren.
Wirksame Prozesse inklusiver Bildung
Empirische Befunde weisen auf die entscheidende Bedeutung des konkreten Unterrichts in einer konkreten Schule hin. Hier entscheidet sich, ob die Lernenden wirksame Lernangebote und effektive Unterstützung gemäß ihrer Bedürfnisse nach der UN-Konvention ("effective education") erhalten. Ein fundiertes Rahmenkonzept, das mehrere Ebenen des pädagogischen Handelns (Prävention, Intervention, Diagnostik, Förderplanung) miteinander verbindet, ermöglicht zugleich eine gelingende Kooperation der Fachkräfte und stellt damit einen wirksamen Unterstützungsfaktor dar. Ein solches Rahmenkonzept bietet das präventiv orientierte Mehrebenenmodell.9
Diese Rahmenkonzeption findet weltweit große Verbreitung10 und gliedert sich in drei Stufen der Unterstützung.
- Universelle Stufe: Wirksame Maßnahmen bieten im regulären Unterricht der allgemeinen Schule einen Rahmen für Lern- und Entwicklungsprozesse. Wissenschaftlich bewährte Verfahren auf Klassenebene kommen zum Einsatz.
- Selektive Stufe: Intensivere Maßnahmen unterstützen Schüler mit vorhandenen Risiken und Problembelastungen, so dass deren Bedürfnisse gezielt beantwortet werden. Dies erfordert keine organisatorische Trennung von der Bezugsgruppe.
- Indizierte Stufe: Individualisierte und wirksame Maßnahmen stehen - oft in spezialisierten Settings (Kleingruppen, Einzelförderung) - zur Verfügung und werden durch professionelles Personal (Sonderpädagogen, Therapeuten) angeboten.
Um frühzeitig die Hilfen anbieten zu können, die Lernende benötigen, finden regelmäßige Evaluationen und Diagnosen des Lern- und Entwicklungsfortschritts statt.11
Die größten Besorgnisse von Lehrkräften im Kontext inklusiver Bildung lösen Unterrichtsstörungen und Verhaltensprobleme von Schülern aus. Zur Unterstützung der emotionalen und sozialen Kompetenzentwicklung und damit zur Prävention und Intervention bei Verhaltensauffälligkeiten kann auf empirisch fundierte Überblicksdarstellungen12 und die Internetquelle (www.gruene-liste-praevention.de/nano.cms/datenbank/information) verwiesen werden. Durch die Einbindung einzelner Maßnahmen in ein schulisches Gesamtkonzept, wie es international mit dem "school-wide positive behavior support" praktiziert wird13, lassen sich sozial konstruktive Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen unterstützen.
Was fördert das Lernen wirklich?
Zur Förderung des Lernens bei Lernschwierigkeiten liefert die wissenschaftliche Forschung "vergleichsweise genaue Informationen über den Nutzen verschiedener Interventionsmethoden"14. Jedoch ist die Kluft zwischen Forschung und Praxis, so die Autoren, in kaum einem anderen Bereich so groß. Es fehlt häufig die Orientierung an gesichertem Wissen. Gestützt durch internationale Befunde wird deutlich, dass "im Hinblick auf die allermeisten Lernziele ein lehrkraftgesteuertes und gut geplantes Vorgehen angebracht ist, bei dem die Inhalte oder die Strategien explizit, redundanzreich und schrittweise vermittelt werden".15
Matthias Grünke, Professor an der Universität Köln, bietet einen guten Überblick über wirksame Förderansätze bei Lernschwierigkeiten. Folgende pädagogisch-didaktische Verfahren sind demnach besonders wirksam:
- Strategieinstruktion,
- Selbstinstruktionstraining,
- Mnemotechniken,
- direkte Instruktion,
- computerunterstützte Förderung,
- tutorielles Lernen.
Dieser Überblick weist darauf hin, dass die Fähigkeit, erfolgreiche Strategien für eigene Lernprozesse zu nutzen, eine der zentralen Komponenten wirksamer Lernförderung bei Schülern mit Lernschwierigkeiten darstellt. Strategien der Informationsverarbeitung müssen entwickelt und eingeübt werden, denn Lernschwierigkeiten gehen häufig mit Problemen einher, das eigene Lernen zu strukturieren, planvoll vorzugehen und Lernstrategien zielgerichtet einzusetzen. Lernförderung besteht dann in einer gezielten Vermittlung von (Lern-)Strategien, um anstehende Lernanforderungen erfolgreich bewältigen zu können.16 Spezifische Unterrichtskonzeptionen und gezielte Förderprogramme bauen auf den vorliegenden Befunden auf, setzen sie in Relation zu Unterrichtsthemen und stellen damit konkrete Hilfen für die Gestaltung wirksamer Lernunterstützung im Rahmen inklusiver Bildung dar. Für die Eingangsstufe der Grundschule liegen bereits Darstellungen zu evaluierten Maßnahmen vor. 17
Eine Lernförderung besteht dann weiterhin vor allem in der Individualisierung und Intensivierung wirksamer Maßnahmen, also der Anpassung effektiver Verfahren auf die individuelle Lernausgangslage der Lernenden.18 Durch eine intensive Begleitdiagnostik werden Lernfortschritte sichtbar und dienen dem Feedback an Schüler und Lehrkräfte. Zugleich kann frühzeitig die Entscheidung über ergänzende oder intensivierende Maßnahmen der Unterstützung getroffen werden.
Wirksam handeln hat Vorrang
Der Auftrag inklusiver Bildung erfordert nicht so sehr eine Debatte um die Schulstruktur, sondern die Frage nach der bestmöglichen Unterstützung aller Schüler. Diese Anforderung inklusiver Bildungssysteme nimmt alle Schüler in den Blick und versucht zugleich, insbesondere die Situation von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen effektiv zu bessern. Die Kenntnis wirksamer Handlungsformen bildet damit die Grundlage für eine Erfüllung des Auftrags inklusiver Bildung. Inklusive Bildungssysteme erfordern eine hohe Professionalität der beteiligten Lehrkräfte. Die Caritas hat in ihrem Projekt "Inklusiver Unterricht" seit 2015 diese Entwicklung gezielt unterstützt.19
Anmerkungen
1. Biewer, G.: Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2. Aufl. 2010.
2. United Nations: UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2006. Zugänglich: www.un.org/development/desa/disabilities/convention-on-the-rights-of-persons-with-disabilities.html (31.5.2016).
3. United Nations: a.a.O.
4. Klemm, K.: Gemeinsam lernen. Inklusion leben. Status Quo und Herausforderungen inklusiver Bildung in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2010, S. 24.
5. Lindsay, G.: Educational psychology and the effectiveness of inclusive education/mainstreaming. British Journal of Educational Psychology 77 (2007), S. 1-24.
6. Huber, C.: Gemeinsam einsam? Empirische Befunde und praxisrelevante Ableitungen zur sozialen Integration von Schülern mit Sonderpädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht. Zeitschrift für Heilpädagogik 60 (2009), S. 242-248.
7. Dyson, A.; Farrell, P.; Polat, F.; Hutcheson, G.; Gallannaugh, F.: Inclusion and Pupil Achievement. Research Report RR578. Newcastle: University of Newcastle, 2004; Farrell, P.; Dyson, A.; Polat, F.; Hutcheson, G.; Gallannaugh, F.: The Relationship Between Inclusion and Academic Achievement in English Mainstream Schools. School Effectiveness and School Improvement, 18 (2007), S. 335-352; Kalambouka, A.; Farrell, P.; Dyson, A.; Kaplan, I.: The impact of placing pupils with special educational needs in mainstream schools on the achievement of their peers. Educational Research 49 (2007), S. 365-382. Lindsay, G.: a.a.O.; Ruijs, N. M.; Peetsma, T. T. D.: Effects of inclusion on students with and without special educational needs reviewed. Educational Research Review 4 (2009), S. 67-79.
8. Hillenbrand, C.: Inklusive Bildung: Programmatik - Empirie - Umsetzung. Zeitschrift für Individualpsychologie 39 (2014), S. 281-297.
9. McLeskey, J.; Waldron, N. L.: Educational Programs for Elementary Students with Learning Disabilities: Can They Be Both Effective and Inclusive? Learning Disabilities Research & Practice 26 (2011), S. 48-57.
10. Fuchs, D.; Fuchs, L.S.; Compton, D.L.: Smart RTI: A Next-Generation Approach to Multilevel Prevention. Exceptional Children, 78 (2012), S. 263-279.
11. Diehl, K.; Hartke, B.; Knopp, E.: Curriculum-Based Measurement & Leerlingonderwijsvolgsysteem - Konzepte zur theoriegeleiteten Lernfortschrittsmessung im Anfangsunterricht Deutsch und Mathematik? Zeitschrift für Heilpädagogik, 60 (2009), S. 122-133; Huber, C.; Grosche, M.: Das response-to-intervention-Modell als Grundlage für einen inklusiven Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik. Zeitschrift für Heilpädagogik 63 (2012), S. 311-322.
12. Hillenbrand, C.: Evidenzbasierte Praxis im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung. In: Stein, R.; Müller, T.: Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer, 2015, S. 170-215.
13. Hennemann, T.; Hövel, D.; Casale, G.; Hagen, T.; Fitting-Dahlmann, K.: Schulische Prävention im Bereich Verhalten. Stuttgart: Kohlhammer, 2015.
14. Lauth, G.W.; Grünke, M.: Interventionen bei Lernstörungen. Monatsschrift für Kinderheilkunde 153 (2005), S. 642.
15. Grünke, M.: Zur Effektivität von Fördermethoden bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen. Eine Synopse vorliegender Metaanalysen. Kindheit und Entwicklung, 15 (2006), S. 239-254.
16. Klauer, K.J.; Lauth, G.W.: Lernbehinderungen und Leistungsschwierigkeiten bei Schülern. In: Weinert, F.E. (Hrsg.): Psychologie des Unterrichts und der Schule. Enzyklopädie der Psychologie D.1.3. Göttingen: Hogrefe, 1997, S. 701-738; Lauth, G.W.; Grünke, M.; Brunstein, J.C. (Hrsg.): Interventionen bei Lernstörungen. Förderung, Training und Therapie in der Praxis. Göttingen: Hogrefe, 2014.
17. Hagen, T.; Hillenbrand, C.: Effektive Lernförderung in der Schuleingangsphase. Zeitschrift für Heilpädagogik 63 (2012), S. 323-334; Mahlau, K.; Diehl, K.; Voß, S.; Hartke, B.: Das Rügener Inklusionsmodell (RIM) - Konzeption einer inklusiven Grundschule. Zeitschrift für Heilpädagogik 62 (2011), S. 464-472; Voß, S.; Marten, K.; Diehl, K.; Mahlau, K.; Sikora, S.; Blumenthal, Y.; Hartke, B.: Evaluationsergebnisse des Projekts "Rügener Inklusionsmodell (RIM) - Präventive und Integrative Schule auf Rügen (PISaR)" nach vier Schuljahren. Zeitschrift für Heilpädagogik 67 (2016), S. 133-149.
18. Käter, C.; Käter, T.; Martenstein, R.; Hillenbrand, C.: Leitfadengestützte Konstruktion eines Instruments der Lernverlaufsdiagnostik (CBM) im Bereich Lesen. Zeitschrift für Heilpädagogik 67 (2016), S. 168-179.
19. Hillenbrand, C.; Vierbuchen, M.C.: Schulentwicklung braucht Evaluation. In: Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Caritas 2017 - Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 2016, S. 111-116.
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