Straßenmädchen lernen für die Zukunft
Zischend schmilzt das Wachs im Kochtopf auf dem Holzkohlefeuer. Interessiert, aber ein wenig skeptisch sieht Marietha zu, wie die weißen Stücke kleiner werden und sich auflösen. Mit den anderen Mädchen steht die heute 20-Jährige im Halbkreis auf dem Hof, in der Mitte zwei der indischen Nonnen, die das "Children’s Home" (zu Deutsch: Kinderheim) betreiben. Training von "life skills" steht auf dem Tagesplan, das Lernen von Fertigkeiten, um ein kleines Einkommen zu erzielen; an diesem Morgen die Produktion von Kerzen. Vorsichtig gießt die indische Schwester das kochend heiße Wachs in die vorbereitete Form. Das dürfen die Mädchen noch nicht. Seit zwei Monaten sind sie in Kibamba, einem Dorf am Rande der Großstadt Daressalam.
"Als ich durch das Tor gekommen bin, wusste ich: Hier kann ich meinen Traum verwirklichen!", erinnert Marietha sich später im Büro des Kinderheims. Schüchtern sitzt sie auf dem weißen Plastikstuhl und fängt mit kindlicher Stimme an zu erzählen. Von ihrem Traum, ihrer Familie, dem Dorf, ihrem Weg in die Stadt und dem Leben auf der Straße. Es ist eine Geschichte, wie sie alle 30 Mädchen im Projekt so oder so ähnlich erlebt haben: Ihre Eltern, arme Bauern mit kleinem Feld und großer Kinderschar, haben Marietha einer Frau mitgegeben, die zu Besuch in der Nachbarschaft war. In der Großstadt sollte es die damals 14-Jährige besser haben, sollte zur Schule gehen, eine Ausbildung machen und eine Arbeit finden, hatte die Besucherin versprochen. Die Primarschule hatte Marietha bis zur siebten Klasse besucht; alles was danach kommt, kostet Geld - unerschwinglich für sie und ihre sechs Geschwister.
In Daressalam hat sie mit der erwachsenen Frau ein Zimmer geteilt, vier Monate lang, hat geputzt, eingekauft und auf der Straße selbst gebackene Donuts feilgeboten. Eines Tages packte die Frau ihre Habseligkeiten in eine Tasche, sagte, sie käme gleich zurück - und war verschwunden. Die Matratze ließ sie da. So blieb Marietha zwei Wochen allein in dem Zimmer, bis der Vermieter kam und sie rauswarf. Am Platz, an dem die Überlandbusse aus der Provinz ankommen, ist sie schließlich gelandet, wie so viele andere Kinder. "Rund um den Busbahnhof haben wir gebettelt, gebettelt, gebettelt", erzählt sie und blickt hilfesuchend zu Edna Mdole. Die knapp 60-Jährige, die alle in Kibamba "Mama" nennen, nickt ihr beruhigend zu. Mit ihrer mütterlichen Ausstrahlung ist sie Vertrauensperson und Ansprechpartnerin der Mädchen, hilft ihnen, die oft traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten. Außerdem übersetzt sie vom Kisuaheli ins Englische, für Besucher(innen) und für die jungen indischen Nonnen, die bemüht sind, die Landessprache zu lernen. "Nachts haben wir am Busbahnhof geschlafen, weil es da sicherer war als auf den Straßen; da sind Aufseher und Polizisten", übersetzt Edna Mdole die Schilderung des Überlebenskampfes auf der Straße.
Viele Mädchen wurden
vergewaltigt
Glück hat Marietha gehabt - Glück, nicht vergewaltigt, auf den Strich geschickt oder zur Prostitution gezwungen worden zu sein, was andere der Mädchen erlebt haben. Bis zu zehn Männer mussten diese am Tag über sich ergehen lassen, wie die Betreuerin bisweilen erfährt. Wenn ihre Schützlinge sich eingelebt haben und Vertrauen fassen, fangen sie an zu erzählen - im geschützten Rahmen eines therapeutischen Gesprächs.
Diese traumatischen Erfahrungen sind den Mädchen nicht anzumerken, wenn die einen aufmerksam, die anderen eher etwas lustlos dem Fortschritt der Kerzenproduktion zusehen. Das Wachs ist erkaltet, die erklärende Schwester schabt mit einem Messer die übergelaufenen Reste ab und dreht mit einer Zange an den Schrauben, die jeweils zwei Metallformen zusammenhalten. Da dürfen auch die Mädchen schon mal mitarbeiten. So sollen sie herausfinden, welche Fähigkeiten sie haben und womit sie sich vorstellen können, nach einem Jahr im "Children’s Home" ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Finanziell unterstützt wird das Projekt von Caritas international.
Begehrt ist der Friseursalon. Zehn Mädchen - einige von ihnen wirken recht kindlich - sind emsig bei der Arbeit, waschen sich gegenseitig die Haare, drehen mit dem Brennstab die Locken raus und ziehen sie glatt. Drei verschwinden fast unter riesig wirkenden Trockenhauben. Eines der Mädchen hält sein dick mit einer weißen Paste eingeschmiertes Gesicht über ein Gerät, das Wasser verdampft; soll gut für die Haut sein. Sie tun erst mal was für sich, für ihr Aussehen und Wohlbefinden, und eignen sich dabei Fertigkeiten an, von denen die Erwachsenen hoffen, dass sie damit eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben - mit einfachen Dienstleistungen und schnell herzustellenden Gebrauchsgegenständen, wie eben den Kerzen oder bunt gefärbten Batik-Tüchern. Wie sie ein Gemüsebeet beackern, lernen alle. Aber es geht weiter: Direkt neben dem Ausbildungs-Friseursalon liegt der Computerraum. Vier Mädchen versammeln sich um einen PC und versuchen unter Anleitung ihrer Lehrerin, einen Text zu formatieren. Auch der Weg in die Büros soll ihnen offenstehen.
Das ist für die Mädchen eine Chance, die sie nie zuvor hatten. Die Armut ist nicht das einzige Problem, das sie schließlich auf der Straße landen lässt. Jahr für Jahr hören die Schwestern und die tansanischen Fachkräfte vom Zerbrechen der Familien: "Die Mutter geht weg, der Vater findet eine andere Partnerin, das Opfer sind die Kinder", sucht Schwester Viji, Direktorin des Zentrums, die Ursache bei den Eltern. Oder der Vater geht. Die Kinder aus der alten Beziehung würden dann vernachlässigt, bis sie irgendwann gingen und ihr Glück in der Stadt suchten. Darin bestärkt würden sie durch Geschichten, die unter Gleichaltrigen erzählt werden, weiß die Schwester. Wenn eine von ihnen aus der Stadt zurückkehrt und stolz von den unglaublichen Möglichkeiten schwärmt, Geld zu verdienen und sich mit coolen Klamotten einzudecken, denken die Mädchen im Dorf, das könnten sie doch auch. Und landen wie Marietha schließlich am Busbahnhof.
Die hat die Reisenden angebettelt, ihr mal kurz ein Handy zu leihen, damit sie ihre Mutter anrufen könne. "Aber niemand hat mir getraut, weil ich ja ein Straßenkind war", ist ihr die Verzweiflung noch immer anzumerken. Eines Tages hat sich doch ein Mann erbarmt, sie hörte die Stimme ihrer Mutter, weit weg in ihrem Dorf. Denn - es mag seltsam klingen - auch im Busch, in Dörfern ohne Wasser und Elektrizität, haben arme Bauern ein Handy; im Dorfladen gibt es vielleicht einen Generator, an dem sie gegen Gebühr den Akku aufladen. "Bleib da!", sagte die Mutter, "deine Schwester kommt nach Daressalam. Ich sag’ ihr, dass sie dich am Busbahnhof findet." Aber die Schwester ist nicht gekommen.
Marietha entschloss sich, Reisenden und Passant(inn)en ihre Dienste als Hausmädchen anzubieten. "Aber niemand hat mir getraut, eben weil ich ein Straßenkind war", wiederholt sie. "Die Leute hatten Angst, ich könnte sie ausrauben." Schließlich hat es doch geklappt:?Eine Frau, gerade in die Stadt gezogen, brauchte Hilfe im Haushalt und nahm sie mit.
17 Stunden am Tag musste sie arbeiten - umsonst
Marietha stand fortan um fünf Uhr morgens auf, manchmal schon um vier, putzte das Haus, wusch die Wäsche und kümmerte sich ums Essen für die Familie. Abends um zehn ist sie dann todmüde ins Bett gefallen. Bezahlt hat die Frau ihr dafür umgerechnet 15 Euro im Monat - auch für tansanische Verhältnisse nicht mehr als ein Taschengeld. Nach einem Jahr gab’s plötzlich gar nichts mehr - ohne Begründung.
Marietha wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Sie ist geblieben und hat umsonst gearbeitet. Immerhin hatte sie ein Dach über dem Kopf und das Glück, nicht zum Objekt sexueller Begierden des Hausherrn geworden zu sein. Auch davon berichten die anderen Mädchen im vertraulichen Gespräch, was die Leiterin des Zentrums, Schwester Viji, dem Besucher gegenüber nur andeutet. Schlimm sei der Mythos, den vor allem junge Geschäftsleute pflegen, nämlich ihr Geschäft werde blühen, wenn sie nur Geschlechtsverkehr mit einem jungen unberührten Mädchen hätten. Mittlerweile gebe es Männer, die gezielt die Zwölf-, 13-Jährigen mit dem Versprechen auf eine glänzende Zukunft in die Stadt lockten, sie einige Wochen lang benutzten und sie dann auf die Straße schickten.
Ein Bett, eine Mahlzeit und vor allem eine Perspektive
Zurück auf die Straße wollte Marietha nicht. Sie wandte sich hilfesuchend an den Pfarrer einer Kirche in der Stadt. Der schickte sie weg. In einem Bildungszentrum für Waisenkinder wollte ihr auch niemand helfen. "Wir nehmen nur Waisen", hat der angesprochene Lehrer ihr gesagt, "du hast beide Eltern, du kannst hier nicht bleiben." Aber immerhin gab er ihr den Rat, sich an die "Daughters of Mary Immaculata" zu wenden, den Orden der indischen Schwestern mit ihrem Beratungs- und Bildungszentrum am Rande Daressalams. Von dort war es ein kurzer Weg zum "Children’s Home" im Dorf Kibamba, dem Ort, an dem Marietha gleich das Gefühl hatte, sicher aufgehoben zu sein. Ein richtiges Bett hat sie nun, für sich allein, in einem der Schlafräume mit sieben anderen Mädchen. Es gibt regelmäßig etwas zu essen. Abwechselnd stehen sie am offenen Feuer hinterm Haus und rühren Ugali, den landestypischen Mais- und Maniokbrei, in einem riesigen Topf um.
Und es gibt eine Perspektive: Ein Jahr bleiben sie in diesem Zentrum und sollen dann als selbstbewusste junge Frauen ihren Weg finden, wie "Mama" Edna Mdole betont. Eine Lehrerin erklärt ihnen im Unterricht, dass sie etwas wert sind. In der praktischen Ausbildung erfahren sie, dass sie etwas können. Marietha hat sich schon für die Schneiderwerkstatt entschieden. Stolz trägt sie ein Maßband um den Hals, als Zeichen ihres neuen Berufsstandes. Das Kerzengießen sei nicht das, was sie sucht.
Nach einem knappen Jahr sollen die Mädchen so weit sein, dass sie möglichst zurück zu ihren Familien gehen können - ein schwieriger Weg. Denn deren Situation hat sich nicht verändert, die Bauern sind noch immer arm, die Kinder zahlreich und das Essen knapp. "Aber", sagt Schwester Viji, "sie haben etwas gelernt, fangen ein kleines Geschäft an, arbeiten irgendwo, sorgen selbst für ihren Lebensunterhalt." Deshalb, so hoffen die Nonnen, sind sie dann auch in ihren Familien willkommen. Sie helfen, den Kontakt wieder anzubahnen. Sind die Mädchen noch keine 16 Jahre alt, stellen die Mitarbeiterinnen des Zentrums die Weichen zu einem Internat, in dem sie ihren Schulweg weiter fortsetzen oder eine weitergehende Ausbildung machen können.
Nach einem Jahr wird Marietha in ihr Dorf zurückkehren. Als Schneiderin. Bleiben will sie dort nicht. In der Stadt, meint sie, habe sie bessere Chancen, Geld mit Nähen zu verdienen und etwas zurückzulegen. Ein wenig druckst sie herum und lacht. Ihr Traum ist es nämlich nicht, an der Nähmaschine zu sitzen, sagt sie mit leuchtenden Augen: "Ich will Ärztin werden!"
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Bevormundung oder nachhaltige Hilfe?
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