In die Welt da draußen
Mit großen Augen starrt Josef Qualm auf ein Sperrholzbrett. Dann lässt er den Kopf auf die Brust in Richtung Werkbank fallen, auf der das Brett liegt. Er setzt ein Scharnier darauf, runzelt die Stirn und sagt: "So. Jetzt ist irgendwas falsch." Das Scharnier liegt zwar da, aber die Löcher im Holz sind nicht mehr zu sehen. Er hat sie an der falschen Stelle gebohrt. Die Schrauben lassen sich so nicht reindrehen. Er kommt ins Schwitzen. Aus dem Radio neben dem Werkzeugschrank singen die Four Tops ausgerechnet jetzt "I can’t help myself". Aus der Lackiererei nebenan ziehen heftige Lackdämpfe herüber.
In der Caritas-Werkstatt für Suchtkranke in München werden Möbel produziert. Der 33-jährige Josef Qualm arbeitet hier seit November 2012. Der gebürtige Münchner war noch vor eineinhalb Jahren schwer alkoholabhängig, zudem stellten Ärzte eine bipolare Störung bei ihm fest. Früher hat er einmal Soziale Arbeit studiert. Dann wurde die Sucht immer stärker, die Stimmungsschwankungen kamen öfter. Mal fühlte er sich ganz stark und rastlos, dann war er wieder absolut niedergeschlagen und todtraurig. Er trank bis zu drei Liter Wein am Tag. Zum Schluss ließ ihn die Depression nicht mehr aus dem Haus gehen. Er wusch sich nicht mehr, brach den Kontakt zu Freunden ab. "Ich hatte so einen Bart", deutet er mit beiden Händen einen großen Rauschebart an.
In den Werkstätten am Westpark finden Menschen wie Josef Qualm nach der Entzugstherapie wieder zu einem regelmäßigen Tagesablauf zurück. Trocken müssen sie sein, um an den großen Sägen zu arbeiten oder den Lack auf Regale, Schränke und Xylofone aufzusprühen.
Ziel ist erster Arbeitsmarkt
Josef Qualm soll nach seiner zweijährigen Ausbildung zum Facharbeiter in einer "normalen" Schreinerei arbeiten. Vor der Welt da draußen habe er Angst, doch die verdränge er, so gut es geht, gibt er zu. Der Drang zu trinken sei eigentlich nicht mehr da - nur wenn der Druck zu groß werde. "Ich verzettele mich halt noch oft", sagt er, grinst mit dicken roten Wangen und zeigt dabei breit seine Zahnreihen.
Betriebsleiter Thomas Wenwieser sitzt in seinem Büro, einem großen Glaskasten zwischen Eingang und Werkstatt. Links von seinem Schreibtisch ist die Tür. Schaut er nach rechts, sieht er die Werkbank von Josef Qualm. Der Kasten ist wie ein Puffer zwischen Außenwelt und Werkstatt, zwischen Josef, zwanzig anderen Suchtkranken und dem ersten Arbeitsmarkt. Wenwieser muss aufpassen, dass der Druck für sie nicht zu groß wird. Gleichzeitig muss er für die GmbH immer auch die Zahlen im Blick haben. Bei 16 Arbeitsplätzen gab es 2013 im ersten Halbjahr 500 Fehltage.
"Wir kämpfen täglich, stündlich um unsere Wirtschaftlichkeit", sagt er zur Seite gedreht über die rechte Lehne des Bürostuhls hinweg. Er trägt eine klassische Vokuhila-Frisur - oben stehen die kurzen silbernen Haare zu allen Seiten weg, hinten fallen sie in langen Strähnchen über das Silberkettchen auf den Wollkragen des Pullovers. Letztlich seien die Werkstätten am Westpark zwar unter dem Mantel der Caritas, de facto seien sie aber mit der Ausgründung zur GmbH den Gesetzen des Marktes unterworfen worden. Zum Glück haben die vielen kirchlichen Einrichtungen Verständnis, wenn die Büromöbel nicht immer pünktlich kommen. Und auch die Privatkunden sind nachsichtig, wenn der begehbare Kleiderschrank etwas später eingebaut wird.
An der Werkbank gegenüber sucht Josef Qualm einen Grund für seinen Fehler. Er dreht sich neunzig Grad um die eigene Achse und macht dann den ersten Schritt in Richtung Bohrmaschine im hinteren Raum. Dort hatte er zuvor die falschen Löcher gebohrt. Unter seiner grauen Latzhose wölbt sich der Bauch, der Rücken ist gebeugt. Er setzt die schweren Sicherheitsschuhe bedächtig auf den Steinfußboden, so als wolle er ihn nicht erschrecken. Wie ein guter Geist schwebt er vorbei am Elvis-Bild neben dem Radio und am alten Getränkeautomaten, auf dem groß und in altdeutscher Schrift "Schallerbräu" steht. Natürlich gibt es hier kein Bier zu kaufen.
Josef Qualm trinkt bei der Arbeit am liebsten Wasser. Schon seit anderthalb Jahren ist er trocken. Nur rauchen tut er noch: "Ein Laster braucht der Mensch." Gegen die extremen Stimmungswechsel nimmt er Medikamente. "Bekommt mir recht gut, damit fühle ich mich wohl", sagt er und studiert die Maße auf dem Zettel neben der Bohrmaschine. Die großen grünen Augen wandern über das kleine Stück Papier, als suche er nicht nach einem Zahlendreher, sondern nach einem tieferen Sinn für seinen Fehler.
Eine lange Biografie der Ausgrenzung
"Bei uns muss jeder Fehler machen dürfen. Schließlich ist der Rückfall in die Sucht unser täglich Brot", sagt Betriebsleiter Wenwieser, stützt die Hände auf die Lehnen des Bürostuhls und drückt sich nach oben. Wie alle leitenden Angestellten hat auch er eine zusätzliche pädagogische Ausbildung. "Die Werkstatt ist der Übergang zwischen Therapie und geregeltem Leben - jeder Übergang ist gefährlich."
Schon seine Mutter habe eine bipolare Störung gehabt, sei zwischen Wut und Trauer hin und her gerast, erzählt Josef Qualm im hinteren Teil der Werkstatt neben der Bohrmaschine. Der Vater sei mit der Situation überfordert gewesen. "Wenn der geschrien hat, dann haben die Wände gewackelt." In der Schule wurde er von den anderen Kindern gehänselt. "Die haben mich nur anzustupsen gebraucht und ich bin hochgegangen wie’s Rumpelstilzchen", sagt er und rollt lange das "r" von Rumpelstilzchen. Den Zettel legt er neben den Bohrer. Er kann den Fehler nicht finden.
Im Glaskasten dreht sich Wenwieser auf dem Bürostuhl vom Schreibtisch weg und schaut jetzt direkt auf den Arbeitsplatz von Josef Qualm. Seit 23 Jahren ist der Schreinermeister im Betrieb dabei. Sein Menschenbild habe sich in dieser Zeit nicht verändert. Seit den ALG-II-Gesetzen gäbe es aber jedes Jahr erhebliche Einschnitte in der Sozialgesetzgebung. "Früher ging es darum, dass Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können. Heute müssen sie zuallererst aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden", sagt er und spricht in seinem tiefen bayerischen Dialekt immer schneller. Er setzt sich gerade hin und fügt nach einer Pause noch hinzu: "Es geht doch um die Frage, wie eine Gesellschaft mit den Schwachen umgeht."
Zurück an der Werkbank nimmt Josef Qualm kurzerhand den Akkuschrauber und dreht damit die Schrauben durch die Löcher im Scharnier - ohne die Löcher vorgebohrt zu haben. Geht auch. "Zum Glück mach’ ich hier nur eine Schablone, draußen gibt’s sowas nicht", sagt er. Wieder werden die Wangen rot und die Lippen öffnen sich erneut zu einem stummen Grinsen. Aber die grünen Augen schauen immer noch, als erschrecke er jeden Augenblick aufs Neue vor der Welt.
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