Familienpolitik lässt sich nicht exportieren
Familien haben in allen Gesellschaften eine zentrale Bedeutung – als Sozialisationsinstanz für Kinder, zur Bestandssicherung der Gesellschaft, für die wirtschaftliche Prosperität und den Erhalt der Sozialsysteme. In der Familienpolitik haben allerdings auch Staaten, die in ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verfasstheit durchaus vergleichbar sind, unterschiedliche Wege eingeschlagen. Entsprechend verschieden sind die Ergebnisse, etwa bei der Geburtenrate, beim Armutsrisiko von Kindern und Alleinerziehenden, bei der Erwerbsbeteiligung von Müttern oder der Bedeutung der Ehe.
Im Rahmen eines familienpolitischen Symposiums in Brüssel befasste sich der Deutsche Caritasverband im Januar dieses Jahres mit der Familienpolitik von Deutschland, Dänemark, Frankreich und Slowenien.1 Im Zentrum stand die Frage, welche der genannten Staaten in Hinblick auf die Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern, Ein-Eltern-Familien, Mehrkindfamilien und Familien mit Migrationshintergrund erfolgreicher sind als andere – und was Deutschland möglicherweise von anderen familienpolitischen Strategien lernen kann.
Allen europäischen Staaten gemeinsam ist, dass die Zahl kinderloser Haushalte steigt. Es gibt vermehrt kleinere Familien und Ein-Eltern-Familien, Frauen werden später Mütter, und die Bedeutung der Ehe als dominierender Lebensentwurf für Paare und Familien nimmt ab.
Immer mehr kinderlose Haushalte in Europa
Trotz dieses europaweiten Trends gibt es zwischen den Staaten deutliche Unterschiede. Beispiel Geburtenrate:2 In Deutschland lag sie 2011 bei 1,3 Kindern pro Frau, in Dänemark bei 1,7, in Slowenien bei 1,5 und in Frankreich bei 2,0. Deutsche Mütter sind bei Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt dreißig Jahre alt, in Polen oder Bulgarien 24 Jahre. Für ältere Erstgebärende sinkt die Wahrscheinlichkeit, noch mehrere Kinder zu bekommen.
Deutliche Unterschiede gibt es auch bei der Geschlechterbeteiligung am Arbeitsmarkt. Betrachtet man die vier genannten Staaten und die Erwerbsquoten der Mütter von null- bis dreijährigen Kindern, so arbeiten in Slowenien die meisten Mütter bereits mit Kleinkindern, gefolgt von Dänemark. Die Erwerbsquoten in Frankreich und Deutschland sind fast gleich. Diese Faktoren werden von Rahmenbedingungen wie Mutterschutzzeiten beeinflusst, aber auch von dominierenden Geschlechterrollen und vom Arbeitsmarkt. Zudem hängt die Frage, welches Arbeits- und Betreuungsarrangement zwischen Partnern oder auch für Alleinerziehende überhaupt möglich ist, von der verfügbaren Kinderbetreuung und den Kosten ab.
Dänemark – ein familienpolitisches Paradies?
Angesichts der genannten Unterschiede stellt sich natürlich die Frage nach den Ursachen und dem spezifischen Beitrag der Familienpolitik. Der Blick fällt auf Dänemark, das wie alle skandinavischen Staaten über einen besonders ausgeprägten Wohlfahrtsstaat verfügt. Offenbar gelingt es dort, eine relativ hohe Geburtenrate mit einer hohen Erwerbstätigenquote von Müttern zu verbinden – aus deutscher Perspektive beeindruckend, weil hierzulande gerade die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als besonders schwierig gilt. Ähnliches lässt sich über unseren französischen Nachbarn sagen, wo die Geburtenrate sogar noch höher ist als in Dänemark.
Besonders gut schneidet Dänemark im OECD-Durchschnitt hinsichtlich des Armutsrisikos von Kindern ab. Es liegt deutlich unter dem der Gesamtbevölkerung. Im Vergleich: Die Armutsrate von Kindern in Frankreich ist höher als die der Gesamtbevölkerung und auch höher als in Deutschland oder Slowenien. Was die Alleinerziehenden angeht, so sind sie in allen europäischen Staaten häufiger von Armut betroffen als Paarhaushalte mit Kindern. Die Armutsquoten sind jedoch sehr unterschiedlich. Mit zehn Prozent liegt sie in Dänemark wiederum am niedrigsten. In Deutschland ist etwa ein Viertel der Alleinerziehenden von Armut betroffen, in Slowenien sind es 30 Prozent und in Frankreich etwa 20 Prozent.3
Was macht den Erfolg der dänischen Familienpolitik aus? Zunächst einmal: Er ist nicht umsonst zu haben. Dänemark gibt überdurchschnittlich viel Geld für Familien aus. 3,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes schlagen dafür zu Buche. In Deutschland sind es 3,1 Prozent, in Frankreich knapp vier und in Slowenien 2,1.4
Die Gesamtausgaben erklären aber nicht die Wirkungen der Ausgaben auf bestimmte Familientypen und Kinder. Hier lohnt sich ein genauer Blick auf den Mix familienpolitischer Maßnahmen.
Trotz guter Wirtschaftslage sinkt Kinderarmut nicht
Deutschland gibt insgesamt rund 200 Milliarden Euro pro Jahr für 156 verschiedene ehe- und familienbezogene Leistungen aus. Je nach politischer Neigung lobt man diese Großzügigkeit oder beklagt die wirkungslose Verschwendung.5 Für die meisten ist es ein Widerspruch, warum trotz großer familienpolitischer Ausgaben offenbar einige Gruppen in einem hohen Armutsrisiko verbleiben, obwohl sie Kinder haben und so Zielgruppe der familienpolitischen Maßnahmen sind. Und trotz wirtschaftlicher Prosperität sinkt die Kinderarmut nicht.
In Dänemark fließt etwas mehr als die Hälfte der familienpolitischen Gesamtausgaben in Dienstleistungen für Familien, der Rest in deren finanzielle Unterstützung. Steuerliche Vorteile für Familien weist die Statistik nicht aus, ein entscheidender Unterschied zu Deutschland, aber auch zu Frankreich und zu Slowenien. Dort verteilen sich die Gesamtausgaben für Familien auf Transferleistungen, Dienstleistungen und Steuererleichterungen.
In Deutschland wird der Löwenanteil der rund 200 Milliarden Euro familienpolitischer Ausgaben für ehebezogene Leistungen und Steuererleichterungen aufgewendet. Ausgaben für Infrastruktur6, Geldleistungen und Maßnahmen der Sozialversicherungen folgen zu etwa gleichen Teilen. Diese Schwerpunktsetzung wirkt sich vor allem auf Alleinerziehende negativ aus. Sie profitieren beispielsweise nicht vom Splittingvorteil verheirateter Paare. Da die meisten Frauen geringere Einkommen als Männer erzielen, nutzen ihnen die Kinderfreibeträge nichts. Auch andere Leistungen kommen benachteiligten Familien nicht zugute. So wird das Kindergeld auf das ALG II angerechnet. Der Kinderzuschlag hat eine eng definierte Zielgruppe und das als Lohnersatzleistung ausgestaltete Elterngeld basiert auf dem Prinzip des Statuserhalts.
Betrachtet man die Effekte auf die Armutsvermeidung bestimmter verwundbarer Gruppen, so ist es besser, in die Infrastruktur zu investieren. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt auch die Gesamtevaluation der familienbezogenen Leistungen der Bundesregierung.7 Am besten wirkt sich demnach die öffentliche Bereitstellung von Kinderbetreuung aus.
Historischer Hintergrund hat Auswirkungen bis heute
In der Gesamtevaluation der familienbezogenen Leistungen der Bundesregierung werden folgende Ziele formuliert: die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität der Familien; die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf; die frühe Förderung von Kindern; die Erfüllung von Kinderwünschen; der Nachteilsausgleich zwischen den Familien. Letztgenanntes bezieht sich darauf, Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Familientypen und Familien in unterschiedlichen Lebensphasen herzustellen. Die Ziele konkurrieren teilweise untereinander – großzügigere Transferleistungen senken beispielsweise den Arbeitsanreiz. In Deutschland hat sich die Familienpolitik der vergangenen Jahre außerdem stark auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die frühe Förderung von Kindern konzentriert. Sozialpolitische Ziele sind deutlich in den Hintergrund getreten.
Der Vergleich mit Dänemark zeigt beispielweise in der Kinderbetreuung, wie sich die Akzentuierung der Familienpolitik und die historische Entwicklung auswirken. Dänemark richtete bereits 1870 die ersten Kindergärten nach dem Vorbild des Pädagogen Friedrich Fröbel ein. In dem kleinen, sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaat galt es als legitime staatliche Aufgabe, sich um die Erziehung von Kindern zu kümmern. In den 1960er Jahren expandierte der Wohlfahrtsstaat. Er sah für alle Bürger(innen) großzügige Leistungen vor – auch für die Mittelschicht. Ebenso wurden soziale Dienstleistungen organisiert und bereitgestellt. Das Rollenbild der Frau entsprach dem einer erwerbstätigen Mutter. Deutschland dagegen hielt lange am Modell des (männlichen) Ernährers fest. Sowohl das Steuersystem als auch die Sozialversicherung wurden danach ausgerichtet. Die heutigen vielfältigen Familienformen stehen im Widerspruch zu dieser traditionellen Sozial- und Familienpolitik.
Historisch bedingte Geschlechterrollen und ihre Auswirkungen auf die Erwerbsbeteiligung zeigen sich in Slowenien und anderen osteuropäischen Staaten: Der junge postsozialistische Wohlfahrtsstaat baut auf dem gesellschaftlichen Leitbild der vollzeiterwerbstätigen Mutter auf. Das erfordert eine entsprechende Kinderbetreuung. Im Vergleich zu Deutschland, Dänemark und Frankreich gibt es in Slowenien mit 12,5 Prozent aller Haushalte den höchsten Anteil an alleinerziehenden Eltern.
Familienpolitik kann das Armutsrisiko Alleinerziehender wesentlich beeinflussen. Sie regelt das Angebot der Kinderbetreuung, die Kosten und die Qualität. Sie formuliert Rechtsansprüche auf Transferleistungen und Steuererleichterungen. Die Leistungen können an den Familienstand der Ehe gekoppelt sein, an den Erwerbsstatus oder aber für alle Kinder bereitgestellt werden. Ein Staat kann mehr Geld in die Infrastruktur stecken, was allen Kindern zugutekommt. Oder er kann mehr Geld für Steuererleichterungen und monetäre Transfers aufwenden, was eine andere Verteilungswirkung entfaltet.
Familienpolitik zählt, aber nicht nur
Die Armutsrisikoquote oder die Fertilitätsquote lassen sich nicht monokausal auf ein familienpolitisches Maßnahmenbündel zurückführen. Sie erklären sich unter anderem aus den sozialpolitischen Zielen, der Flexibilität des Arbeitsmarktes und herrschenden Rollenmodellen. Das Beispiel Dänemark verdeutlicht, wie wichtig existenzsichernde Löhne sind, um das Armutsrisiko von Alleinerziehenden und Kindern zu mindern. Familienpolitik allein vermag das Phänomen der „working poor“ nicht wirksam zu bekämpfen.
Familienpolitische Maßnahmen lassen sich nicht ohne weiteres in ein anderes Land exportieren. Sie sind das Ergebnis nationaler Identitäten, eingebettet in einen kulturellen und gesellschaftspolitischen Kontext und historische Voraussetzungen.
Familienbewusste Arbeitsbedingungen hängen maßgeblich von den Tarifpartnern ab. „Family policy matters“– Familienpolitik zählt: Für den Alltag einer Familie macht es einen Riesenunterschied, ob die Wochenarbeitszeit im Schnitt bei 37 Stunden liegt – wie in Dänemark – oder ob wie in Deutschland viele Männer weit über die tarifliche Wochenarbeitszeit hinaus arbeiten.
In Deutschland hat die Familienpolitik in den letzten Jahren einen wichtigen Aufschwung erlebt. Hinsichtlich des Ausbaus von Kinderbetreuung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde eine Entwicklung nachgeholt, die in anderen Staaten häufig schon abgeschlossen ist. Vernachlässigt worden sind sozialpolitische Aspekte, die den Ausgleich zwischen verschiedenen Familientypen beinhalten. In ihrer Arbeit sollte sich die Caritas auf benachteiligte Familien konzentrieren und Konzepte unterstützen, die den sozialen Ausgleich zwischen den Familien in den Mittelpunkt rücken.
Anmerkungen
1. Familienpolitisches Symposium „Family policies matter!“, Brüssel, 22./23. Januar 2014. Die in diesem Artikel vorgestellten Thesen basieren im Wesentlichen auf den Vorträgen der Soziologen Beat Fux, Peter Abrahamson und Karin Jurczyk. Details der Veranstaltung unter: www.caritas.de/magazin/kampagne/solidaritaetsinitiative/eu-family-symposium
2. Daten: OECD Family Database, 2011, www.oecd.org/els/soc/oecdfamilydatabase.
htm#structure, Punkt: „SF2.1 Fertility rates“. Gemeint ist hier die zusammengefasste Geburtenziffer; sie beschreibt die Geburtenhäufigkeit aller Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren in einem Jahr.
3. Daten: OECD Family Database, 2011, www.oecd.org/els/soc/oecdfamilydatabase.
htm#structure, Punkt: „CO2.2 Child poverty“.
4. Daten: OECD Family Database, 2011, www.oecd.org/els/soc/oecdfamilydatabase.
htm#structure, Punkt: „PF1.1 Public spending on family benefits“.
5. Zur Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen vgl. auch: neue caritas Heft 2/2014, S. 21 ff.
6. In der Bestandsaufnahme des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der familienbezogenen Leistungen 2011 werden sogenannte Realtransfers ausgewiesen. Diese umfassen nur Ausgaben für die Kinderbetreuung von Klein- und Kindergartenkindern.
7. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Politischer Bericht zur Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen. Berlin, 2013.
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