Psychisch krank, doch nicht unter der Glasglocke
Über mangelnde Dynamik braucht sich im Kontext gemeindepsychiatrischer Versorgungsangebote niemand zu beklagen. Seit der Psychiatrie-Enquete der 1970er Jahre wurden bundesweit konsequent ambulante Beratungs- und Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen entwickelt und ausgebaut.
Dennoch muss festgestellt werden, dass der Bereich psychiatrischer Krisenintervention auch aktuell fast ausschließlich in stationäre Behandlungsformen mündet und hier bisher ambulante Angebote nur peripher entwickelt und von den Kostenträgern finanziert werden.
Die Integrierte Versorgung für psychisch kranke Menschen, die die Techniker-Krankenkasse (TK) vor über fünf Jahren im Dialog mit gemeindepsychiatrischen Trägern entwickelt hat, setzt genau an diesem Punkt an. Durch eine ambulante Alternative zur stationären Aufnahme soll der oft spürbare Glasglockeneffekt der Psychiatrie - Behandlung und Therapie abgekoppelt von der Lebenswirklichkeit des Patienten - aufgebrochen werden.
Im Netzwerk psychische Gesundheit (NWpG) der TK und im SeGel-VertrAG (Seelische Gesundheit leben) der GWQ AG, einem Zusammenschluss mehrerer Betriebskrankenkassen, organisieren sich inzwischen eine Reihe gemeindepsychiatrischer Anbieter. Damit setzen sie diesem Glasglockeneffekt eine konsequente Netzwerkarbeit zwischen allen Lebenswelt-Akteuren der eingeschriebenen Versicherten entgegen.
Als Ziele der Verträge stehen folgende Punkte im Fokus:
- Die Chronifizierung durch frühe Unterstützung und Behandlung des Betroffenen soll verhindert werden.
- Ambulante Behandlung durch ärztliche, pflegerische und sozialpädagogische Erreichbarkeit 24 Stunden/Tag, 365 Tage im Jahr ist gewährleistet.
- Probleme im sozialen Umfeld werden durch aufsuchende Betreuung ("Hometreatment") frühzeitig erkannt.
- Psychisch erkrankte Menschen, insbesondere auch deren Angehörige werden entlastet. Auch die Angehörigen haben die Möglichkeit, sich im Krisenfall rund um die Uhr an Fachpersonal zu wenden.
- Die Autonomie des Versicherten wird erhalten, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung gefördert.
- Ein kontinuierlicher Behandlungsverlauf wird durch sektorübergreifende interdisziplinäre Zusammenarbeit im Sinne einer sozialpsychiatrischen Versorgung gesichert. Eine "Drehtür-Psychiatrie", die dem Versicherten die soziale Reintegration erschwert, soll vermieden werden.
Der Caritasverband Darmstadt hat sich als bundesweit erste Caritas auf den Weg begeben, mit der "Integrierten Versorgung seelische Gesundheit" einen neuen Baustein in seinem gemeindepsychiatrischen Hilfesystem zu entwickeln. Mit sieben gemeindepsychiatrischen Zentren in der Region, die bisher mit Tagesstätten, betreutem Wohnen, psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen und Beschäftigungsinitiativen vor allem im Leistungsbereich der Eingliederungshilfe im SGB XII tätig waren, erschließt die Integrierte Versorgung nun erstmals auch den Bereich der medizinischen Behandlung des SGB V.
Viele Leistungen kann die Caritas auch selbst anbieten
Durch die breite fachliche Aufstellung der Caritas Darmstadt ist es ebenso möglich, viele der in der Integrierten Versorgung vertraglich notwendigen Bestandteile in Eigenleistung zu erbringen. Dies stärkt zusätzlich die verbandsinterne Kooperation von Fachbereichen. Seit dem 1. Juli 2012 ist das neue Versorgungsmodell nun in Südhessen am Start. Ein Modell das ankommt: Anfang Februar 2013 konnte der 100. Versicherte aufgenommen werden. Die Integrierte Versorgung ist ein Gewinn für alle Seiten:
- Ein kompetenter Ansprechpartner ist für die Versicherten rund um die Uhr erreichbar.
- Jeder Versicherte erhält eine(n) Bezugsbegleiter(in) als persönlichen Ansprechpartner mit regelmäßigem Telefonkontakt und Beratungsgesprächen nach individuellem Bedarf, im Krisenfall auch täglich und rund um die Uhr. Die ärztlichen therapeutischen Entscheidungen liegen, wie bisher auch, bei den behandelnden Ärzt(inn)en, mit denen der CV Darmstadt Kooperationsverträge geschlossen hat. Diese entscheiden über notwendige ambulante Angebote, ohne dass ihr kassenärztliches Budget dadurch belastet wird.
- Der Arzt verpflichtet sich über den Kooperationsvertrag, teilnehmenden Versicherten einen persönlichen Kontakt in maximal drei Tagen Wartezeit zu gewähren, um die Krisenintervention des ambulanten Behandlungsteams von ärztlicher Seite zu unterstützen. So sollen Krankenhauseinweisungen weniger häufig notwendig werden.
Die Integrierte Versorgung bietet somit die gute Chance, eine ambulante Alternative zur stationären Behandlung aufzubauen, und zusätzlich die Möglichkeit für gemeindepsychiatrische Träger, ihr Hilfenetz auch um den Bereich der medizinischen Versorgung zu ergänzen. Das Ziel bleibt klar beschrieben: Drehtür-Psychiatrie und Chronifizierungsspiralen aufhalten, Perspektiven aufbauen und sich mit dem Status quo der psychiatrischen Versorgung in Deutschland nicht zufriedengeben.