Humanitäre Krise des europäischen Asylrechts verschärft sich
Seit 2004 wird über das Asylrecht nicht mehr durch jeden EU-Mitgliedstaat allein nach seinem nationalen Recht entschieden. Vielmehr haben die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Asylregelungen europäisches Recht zu berücksichtigen. Im Zweifel hat dieses Vorrang vor nationalen Regelungen. Das hat für die Bundesrepublik Deutschland dazu geführt, dass die frühere Asylpraxis überholt ist, die bei geschlechtsspezifischen und bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure keinen Flüchtlingsstatus, sondern lediglich einen Duldungsstatus gewährte. Grundlage für diese und andere Änderungen im Bereich der Flüchtlingsanerkennung ist die Qualifikationsrichtlinie (2004/83/EG), auch Anerkennungsrichtlinie genannt. Diese ist inzwischen sogar bereits geändert worden (2011/95/EU) und verbessert geringfügig die Rechtsstellung derjenigen, die zwar keinen Flüchtlingsstatus, aber einen subsidiären Status etwa aufgrund eines im Herkunftsland herrschenden Bürgerkrieges erhalten. Diese Richtlinie unterscheidet zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten. Für Flüchtlinge bezieht sich die Richtlinie auf die Genfer Flüchtlingskonvention und regelt für die Mitgliedstaaten eine einheitliche Anwendung der Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs. Diejenigen, die nicht aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung Verfolgung befürchten, aber die Verhängung oder Vollstreckung eines Todesurteils oder die Anwendung von Folter oder anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung erwarten, erhalten einen subsidiären Schutzstatus. Dies gilt auch, wenn sie wegen willkürlicher Gewalt im Rahmen eines Bürgerkrieges eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder ihrer Unversehrtheit befürchten.
Während also die Qualifikationsrichtlinie die deutsche Asylpraxis in weitreichendem Umfang positiv beeinflusst, gilt dies nicht für die Verfahrensrichtlinie (2005/95/EG). Diese gibt den Mitgliedstaaten vor, wie sie ihr Asylverfahren zu regeln haben, hat aber für die Bundesrepublik nahezu keine Auswirkungen. Dies gilt auch für die Aufnahmerichtlinie (2003/9/EG). Diese regelt, wie die Mitgliedstaaten den Aufenthalt von Asylbewerbern zu gestalten haben. Zwar schreibt die Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht vor, dass sie das Aufenthaltsrecht wie in Deutschland restriktiv regeln und an den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde binden müssen. Auch enthält sie keine zwingende Rechtsgrundlage für die Bereitstellung von Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften. Jedoch eröffnet sie den Mitgliedstaaten durch Freistellungsklauseln die Möglichkeit, ihre entsprechende Praxis beizubehalten. Hiervon macht außer der Bundesrepublik kein anderer Mitgliedstaat Gebrauch.
Darüber hinaus hat die Bundesrepublik besondere Schutzbestimmungen für Folteropfer nicht umgesetzt. Die Aufnahmerichtlinie bezeichnet als besonders schutzbedürftige Personen "Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit Kindern und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben" (Art. 17 Abs. 1). Während in Art. 18 Richtlinie 2003/9/EG für Minderjährige und in Art. 19 Richtlinie 2003/9/EG für unbegleitete Minderjährige besondere Leistungen vorgeschrieben werden, bestimmt Art. 20 Richtlinie 2003/9/EG, dass Opfer von Folter, Vergewaltigung oder anderen schweren Gewalttaten "im Bedarfsfall die Behandlung erhalten, die für Schäden, welche ihnen durch die genannten Handlungen zugefügt werden, erforderlich sind". Diese Prüfung ist zu Beginn des Verfahrens von Amts wegen vorzunehmen und hat erhebliche Auswirkungen auf die weitere Gestaltung des Asylverfahrens. Nach Feststellung des Bedarfsfalles (Art. 17 Abs. 2) ist die Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung geboten. Asylanträge von Personen, die Folter, Vergewaltigung oder andere schwere Gewalttaten erlitten haben, dürfen nicht im Flughafenverfahren behandelt werden (§ 18a AsylVfG). Vielmehr ist ihnen zunächst im Inland die erforderliche medizinische Behandlung zu gewähren (Art. 20 RL 2003/9/EG). Die Bundesrepublik wendet diese Schutzbestimmungen für Folteropfer nicht an. Wirksame Kritik von den Wohlfahrtsverbänden an dieser Verweigerungshaltung war bislang nicht zu vernehmen.
Einige EU-Staaten werden stark belastet
Diese Richtlinien regeln die Gestaltung des Asylverfahrens und des Aufenthaltsrechts der Asylbewerber. Doch bevor ein Asylverfahren eingeleitet wird, ist zunächst der zuständige Mitgliedstaat zu bestimmen. Dies richtet sich nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003, allgemein als Dublin-II-Verordnung bekannt. Sie ist wegen ihrer einseitigen Fokussierung auf staatliche Interessen einerseits und der nahezu vollständigen Nichtberücksichtigung der individuellen Interessen der Asylsuchenden andererseits in den letzten Jahren fortwährender und heftiger zivilgesellschaftlicher Kritik ausgesetzt gewesen. Die Zuständigkeitsregelungen der Verordnung belasten die grenznahen Staaten, insbesondere Griechenland und Italien, reißen Familien dauerhaft auseinander und sind generell in Konzeption und Anwendung durch eine unnachgiebige Starrheit geprägt. Grundlegendes Prinzip ist, dass nur ein Mitgliedstaat für die Behandlung des Asylantrags zuständig ist. Jeder Mitgliedstaat, in dem ein weiterer Asylantrag gestellt wird, hat das Recht, den Asylsuchenden an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. In der Praxis entscheidet der Ort der Einreise (Art. 10) über die Zuständigkeit des Mitgliedstaates mit der Folge der Überlastung grenznaher Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten sind jedoch nicht verpflichtet, den Asylsuchenden an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Vielmehr können sie auch die Zuständigkeit an sich ziehen. Das Bundesverfassungsgericht sah 2010 Probleme, über die Verfassungsbeschwerde eines Asylsuchenden, der nach Griechenland überstellt werden sollte, ohne Einschaltung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg zu entscheiden. Daher hatte es auf das Bundesinnenministerium eingewirkt, zugunsten aller im Bundesgebiet Asylantrag stellender Personen, die über Griechenland in die Union eingereist waren, von diesem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Seitdem wird durch Erlass des Bundesinnenministers geregelt, dass keine Überstellungen an Griechenland durchgeführt werden.
Strukturelle Defizite bleiben
Die Bundesrepublik hat 2007 den Eilrechtsschutz gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat abgeschafft. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Änderung der Verordnung, die in Kürze in Kraft treten soll, den Eilrechtsschutz verbindlich vorschreiben wird. Damit darf die Vorschrift des § 34a AsylVfG nicht mehr angewandt werden. Dann müssen die Verwaltungsgerichte gegen Überstellungen Eilrechtsschutz gewähren und können sich nicht mehr auf § 34a Abs. 2 AsylVfG berufen. Im Übrigen beseitigt die Änderungsverordnung die grundlegenden Strukturdefizite des Systems der Aufteilung der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in der Union nicht. Sie setzt lediglich auf Unterstützungsmaßnahmen seitens des Asylunterstützungsbüros für notleidende Mitgliedstaaten. Die humanitäre Krise des europäischen Asylsystems verschärft sich weiter. Dies sieht auch die Kommission so, die mit ihren 2008 vorgelegten weitreichenden Änderungsvorschlägen am Widerstand der Innen- und Justizminister gescheitert ist und deshalb für 2013 eine Diskussion über eine grundlegende Reform des Dubliner Systems anregt. Die Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten ist aufgerufen, sich an dieser Diskussion im Interesse der Asylsuchenden und Flüchtlinge zu beteiligen.