Glücksspielsucht und was in Hessen dagegen getan wird
Pathologisches Glücksspiel wird schon seit vielen Jahren als Phänomen beschrieben. Es hat aufgrund der politischen Diskussionen über die Monopolisierung und Liberalisierung des Glücksspielmarkts eine (Wieder-)Entdeckung als nicht stoffgebundene Sucht erfahren. Ein weiterer Grund für die Aufmerksamkeit ist das Vorliegen empirischer Zahlen zu seiner epidemiologischen Verbreitung. Für die Bundesrepublik Deutschland wird von etwa 350.000 "problematischen Glücksspieler(inne)n" ausgegangen sowie von etwa 240.000 "pathologischen Glücksspieler(inne)n".1 Bis vor wenigen Jahren suchte nur ein winziger Bruchteil der Betroffenen die Suchtberatung auf, darunter unter zehn Prozent Frauen.
Hessen baut Beratung aus
Im Glücksspielstaatsvertrag von 2007 und den entsprechenden Ländergesetzen wurden unter anderem die Ziele "Bekämpfung der Glücksspielsucht" und "Förderung einer aktiven Spielsuchtprävention" aufgenommen und diesen ein Teil der Einnahmen zugeordnet. Diese Mittel nutzten Bund und Länder, um eine nie dagewesene Flut von forschungs- und versorgungsorientierten Projekten aufzulegen. Erfahrungen aus Schwerpunktberatungsstellen haben gezeigt, dass durch entsprechende Angebote sowohl der (regionale) Erreichungsgrad von pathologischen Glücksspieler(inne)n als auch die Qualität des Beratungs- und Behandlungsangebots deutlich verbessert werden können. Deshalb hat das Bundesgesundheitsministerium von 2007 bis 2010 gemeinsam mit den Ländern den Aufbau spezifisch qualifizierter Präventions- und Beratungsangebote zur Glücksspielsucht gefördert.2 Einige Länder griffen dies auf und weiteten ihrerseits - auf der Basis des Bundesmodells - den Aufbau von Strukturen für Prävention und Beratung im Land aus, so auch Hessen.
Im hessischen Modellprojekt "Glücksspielsuchtprävention und -beratung" (2008 - 2011) wurden 15 der (80) hessischen Suchtberatungsstellen um 13 Personalstellen aufgestockt, darunter auch die Beratungsstellen, die sich schon vor Modellbeginn um glücksspielbezogene Probleme gekümmert hatten. Hinzu kamen Kapazitäten für Projektleitung und Verwaltung bei der hessischen Landesstelle für Suchtfragen (HLS). Die Ziele waren in Hessen, wie im Bundesmodell, verstärkte Erreichung der Zielgruppe und Versorgung durch spezifisch qualifizierte Suchtberatungsstellen.3 2010, im dritten Jahr der Umsetzung, wurde das Modellprojekt umfassend durch die Forschungsinstitute FOGS in Köln und ISD in Hamburg evaluiert. Der vorliegende Beitrag basiert auf den Erkenntnissen dieser Evaluation.4
Im hessischen Vorhaben wurden die Fachberater(innen) für Glücksspielsucht zweimal jährlich in mehrtägigen Seminaren von Expert(inn)en geschult, zum Beispiel zu Diagnostik, Komorbidität, migrationsbezogenen und geschlechterspezifischen Aspekten bei pathologischem Glücksspielen, zu Schuldnerberatung und Öffentlichkeitsarbeit sowie zum landesweit einheitlichen Dokumentationssystem. Regelmäßige Arbeitstreffen der Fachberater(innen) galten dem fachlichen Austausch, der Information zu Erfahrungen andernorts und zu Studienergebnissen sowie der kollegialen Beratung. Durch standortbezogene und gemeinsame Aktionen in ganz Hessen wurde das Thema Glücksspiel einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Facheinrichtungen erreichen Spielsüchtige
In der Folge kamen jedes Jahr mehr Betroffene in die Fachberatung:
Von 2006 bis 2009 stieg die Zahl der in Hessen erstmals erreichten pathologischen Glücksspieler(innen) von 250 auf 887 an (plus 255 Prozent). Die Grafik (siehe Abbildung) verdeutlicht, dass der Anstieg fast ausschließlich auf die Fachberatungsstellen zurückzuführen ist: Gut 86 Prozent der Hilfesuchenden kamen in die spezialisierten Einrichtungen. Insgesamt wurden 2009 1375 Klient(inn)en betreut, bei denen es vorrangig um Glücksspielsucht ging: 1196 selbst betroffene Glücksspieler(innen) und 179 Angehörige.
Wer sind diese Klient(inn)en?
92 Prozent der durch die Fachberatungen erreichten Glücksspieler(innen) sind männlich und durchschnittlich 37 Jahre alt. Die wenigen hilfesuchenden Frauen sind im Jahr 2009 im Schnitt acht Jahre älter. Aus einer neueren Analyse der Daten des Jahres 2010 zeigt sich, dass mehr Frauen erreicht werden (elf Prozent im Jahr 2010) und dass sich deren Durchschnittsalter um fast vier Jahre auf 41,7 Jahre verringert hat, so dass sie nur noch 4,5 Jahre älter sind als die Männer. Erstmals suchen sogar türkische Klientinnen die Fachberatungen für Glücksspielsucht auf.5 Seit Einführung der Fachberatung wurde die Klientel im Mittel drei Jahre jünger, inzwischen ist ein Fünftel unter 27 Jahren. Im Unterschied zu den selbst Betroffenen sind die ratsuchenden Angehörigen zu 85 Prozent weiblich und im Mittel 44,5 Jahre alt.
Die finanzielle Lage ist oft schwierig
DreI Viertel der Glücksspieler(innen) haben die deutsche Staatsangehörigkeit. 30 Prozent haben einen familiären, weit überwiegend türkischen, Migrationshintergrund - hiervon haben 26 Prozent Schwierigkeiten, sich in deutscher Sprache zu verständigen. 60 Prozent der Glücksspieler(innen) leben in festen Beziehungen, meist mit Partnerin oder Partner. 13 Prozent leben mit (ein bis zwei) Kindern zusammen und zehn Prozent mit ihren Eltern. Die weitaus meisten Klient(inn)en verfügen über einen Schulabschluss, aber lediglich 53 Prozent sind erwerbstätig. Dass 30 Prozent von Arbeitslosengeld I oder II leben, verweist auf schwierige finanzielle Verhältnisse. Zudem haben über drei Viertel der Klient(inn)en Schulden, etwa ein Drittel bis 10.000 Euro - aber ähnlich viele über 25.000 Euro.
Die in Hessen erreichte Klientel fängt mit durchschnittlich 22 Jahren mit dem Glücksspielen an, nach im Durchschnitt 6,5 Jahren hat sich eine Störung entwickelt - aber erst elf Jahre später suchen die Klient(inn)en deshalb ein Hilfeangebot auf. Die Erfahrungen zeigen, dass generell auf eine jüngere Klientel ausgerichtete Einrichtungen auch verstärkt jüngere Glücksspieler(innen) mit kürzerer Störungsdauer erreichen. Fast alle Klient(inn)en weisen ein pathologisches Spielverhalten auf (nach DSM-IV). Sie spielen etwa jeden zweiten Tag für durchschnittlich etwa vier und bis zu acht Stunden Glücksspiele.
Die Klient(inn)en kamen weit überwiegend zu Einzelberatungen, etwa ein Zehntel kam zur ambulanten Behandlung und nur geringe Anteile ließen sich in stationäre Rehabilitation vermitteln. Letzteres scheitert nur zum Teil an der entsprechenden Bereitschaft der Klientel, es fehlt auch an Kapazitäten für eine spezifisch glücksspielbezogene Rehabilitation.
Glücksspielsucht wurde öffentlich bekanntgemacht
Der in Hessen beobachtete außerordentliche Anstieg der Klientel kann zum einen auf die im Modellprogramm im ganzen Land aufgebauten spezifischen Angebote und zum anderen auf die vielen regional und hessenweit angelegten öffentlichkeitswirksamen Aktionen (etwa 300 allein im Jahr 2009) zurückgeführt werden.
Die Fachberater(innen) gingen raus aus ihren Einrichtungen und suchten beispielsweise Jugendeinrichtungen und Schuldnerberatungsstellen auf, kontaktierten und kooperierten mit Multiplikator(inn)en beispielsweise im Gesundheitswesen, in Schule, Kirche, Betrieben oder Selbsthilfegruppen. Die Ansiedlung der Fachberatung Glücksspielsucht an Suchtberatungsstellen erwies sich als fachlich sinnvoll und brachte Synergieeffekte mit sich. Die Klient(inn)en schätzten die spezifischen Kenntnisse der Fachberater(innen) und konnten in Gruppen mit anderen Süchtigen lernen, dass Süchtig-sein - über die verschiedenen Formen von süchtigem Verhalten hinweg - viele Gemeinsamkeiten aufweist. So konnten die Glücksspielsüchtigen auch von den Erfahrungen anderer Klient(inn)en mit stoffgebundenen Suchtproblemen profitieren. Besonders hervorzuheben ist, dass die zentrale Koordination nicht nur ein wichtiger Motor für die Entwicklung von Struktur und Fachlichkeit war, sondern auch eine hessenweite öffentliche Wahrnehmung förderte. Der so aufgebaute Standard der Versorgung wäre ohne diesen Input sicherlich nicht landesweit erreicht worden.
Doch obgleich in Hessen eine im bundesweiten Vergleich einmalige Steigerung der Erreichung von Klient(inn)en gelang, brachen doch, genauso wie im gesamten Bundesgebiet, gut die Hälfte der Betroffenen den Beratungsprozess vorzeitig ab. Im Rahmen der Evaluation wurde deshalb auch nach Optimierungsmöglichkeiten gesucht. Dabei ist angesichts der Klient(inn)enmerkmale vor allem an den Ausbau zielgruppenspezifischer Ansprache und Maßnahmen für Migrant(inn)en und für Männer zu denken. Zudem geht es um die weitere Qualifizierung von Diagnostik - unter Einbezug von Kontextfaktoren und Bezugspersonen. Hilfreich können schließlich verstärkte Motivationsarbeit und gezielte Strategien zum Aufbau von Verbindlichkeit sein, zum Beispiel durch den Einsatz von Selbstkontrollinstrumenten, ergebnisoffene Zielvereinbarung und Hilfeplanung, nachgehende Arbeit und eine offene unrealistische Erwartungen senkende Kommunikation zum Thema Rückfall. Die Qualität der Beratungen ist auch durch mehr Kooperation in der Region, ein offenes Benchmarking zwischen den Fachberatungsstellen und ein Voneinanderlernen der Praktiker auf der Grundlage einer transparenten Dokumentation weiterzuentwickeln.
Ein Modell zeigt Wirkung
Die Erfahrungen in Hessen zeigen, dass eine flächendeckend zur Verfügung gestellte fachspezifisch ausgewiesene Beratungsstruktur die Inanspruchnahme von Hilfe um ein Vielfaches steigern kann. Damit sind wesentliche Schritte eingeleitet, um die negativen Folgen des süchtigen Verhaltens für die Betroffenen ebenso wie für ihr Umfeld zu mindern. Die Förderung wurde nach Ablauf der Modelllaufzeit verlängert, die Hilfen bleiben erhalten.
Literatur
1. BZgA - Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Glücksspielverhalten in Deutschland 2007 und 2009 : Ergebnisse aus zwei Repräsentativbefragungen. Köln : BZgA, 2010.
2. Görgen, W.; Hartmann, R.: Frühe Intervention beim Pathologischen Glücksspielen : Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts des Bundesministeriums für Gesundheit. Köln : FOGS, 2010.
3. HLS - Hessische Landesstelle für Suchtfragen (Hrsg.): Rahmenkonzeption der Fachberatungen für Glücksspielsucht im ambulanten Suchthilfe-Netzwerk der hessischen Suchthilfe. Frankfurt : HLS, 2008.
4. Schu, M.; Kirvel, S.; Kalke, J.; Schütze, C.; Hartmann, R.; Rosenkranz, M.: Erhebung von Ansätzen guter Praxis zu Prävention, Beratung und Behandlung von Glücksspielgefährdeten/-abhängigen in Hessen. Abschlussbericht für die Hessische Landesstelle für Suchtfragen. Köln/Hamburg : FOGS/ISD, 2010.
5. HLS - Hessische Landesstelle für Suchtfragen (Hrsg.): Landesprojekt "Glücksspielsucht - Prävention und Beratung". Jahresbericht der Projektkoordination 2011. Frankfurt : HLS, 2012.