„Die Volljährigkeit als ständiges Damoklesschwert“
Ist es üblich, dass sich eine Jugendhilfeeinrichtung auch um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kümmert?
Die jungen Menschen werden in der Regel von der Polizei aufgegriffen und durch das örtliche Jugendamt in Obhut genommen. Jugendhilfeeinrichtungen verantworten dann die Betreuung in unterschiedlichen Formen. Dennoch hat bei weitem nicht jede Jugendhilfeeinrichtung Kontakt mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Freiburg ist der erste ICE-Halt nach der deutsch-schweizerischen Grenze, und die Bundespolizei überstellt die im Zug aufgegriffenen jungen Menschen an das Jugendamt. Das Christophorus-Jugendwerk hat unter anderem den Auftrag, sich der Jugendlichen anzunehmen, die durch andere Netze durchgefallen sind. Dies trifft auf diese Zielgruppe in hohem Maße zu.
Welche besonderen Bedürfnisse haben die jungen Menschen?
Sie haben extreme Erfahrungen im Gepäck, die zum Teil lange Zeit im Heimatland ihre Entwicklung beeinflusst und schließlich zur Flucht geführt haben. Viele haben sämtliche materiellen, aber auch immateriellen Güter zurückgelassen. Der Fluchtweg birgt weitere Gefahren und traumatisierende Erlebnisse. Angekommen in Deutschland gilt es die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Schlaf sicherzustellen. Aber auch eine adäquate psychosoziale Betreuung ist oft erforderlich. Viele junge Flüchtlinge haben Angst oder trauern um Familienangehörige. Die kulturellen Unterschiede sind groß. Vor kurzem kam ein afghanischer Jugendlicher in mein Büro und klagte: "Ich möchte ein guter Moslem sein, aber hier weiß ich gar nicht, wie das geht - was ich machen darf und was nicht?"
In Deutschland treffen die jungen Menschen auf eine Situation, die sie vor neue und auch unerwartete Probleme stellt: Unser kompliziertes Sozial-, Gesundheits- und Rechtssystem sowie die Sprachbarriere schaffen neue Unsicherheiten und Ängste, gerade auch vor einer möglichen Abschiebung.
Mit welchen Institutionen arbeiten sie zusammen?
Eine enge Abstimmung zwischen Einrichtung, Schule, Vormund, Jugendamt, Ausländerbehörde ist nötig. Bestimmte benötigte Kompetenzen sind nicht in der Einrichtung vorhaltbar. Ich denke da etwa an Therapeuten, Dolmetscher oder einfach den Muttersprachler, der ein offenes Ohr für die Probleme hat.
Haben die jungen Flüchtlinge im schulpflichtigen Alter die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen?
Viele der jungen Flüchtlinge sind sehr bildungsorientiert - sie wollen die Sprache lernen, eine schulische Förderung und eine Bildungsperspektive. Wir machen ihnen ein individualisiertes Angebot aus schulischen, handwerklichen und freizeitpädagogischen Elementen. Eine Herausforderung ist es, ihnen eine verbindliche Tagesstruktur mit Bildungsinhalten anzubieten, die trotzdem so flexibel ist, dass auf Müdigkeit, psychische Tiefs und Krisen adäquat reagiert werden kann. Regelmäßig wird überprüft, ob eine schulische Eingliederung möglich ist. Jeder hat so die Chance, einen formalen deutschen Bildungsabschluss zu erreichen. Die Bandbreite ist jedoch enorm: Wir fördern den Analphabeten neben dem Jugendlichen mit gymnasialer Vorerfahrung im Herkunftsland.
Wie verläuft das Zusammenleben von Jugendlichen aus der Einrichtung und den jungen Flüchtlingen?
Die unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen sind Teil der Einrichtung und tragen zur Vielfalt bei. Einige wohnen in Regelgruppen mit anderen Jugendlichen zusammen oder im betreuten Jugendwohnen, andere bilden eine eigene Wohngruppe, in der ausschließlich Flüchtlinge leben. Anfangs gab es einzelne problematische Situationen, die jedoch pädagogisch gelöst werden konnten.
Seit Oktober 2012 gibt es im Katholischen Lehrlingswohnheim im rund 25 Kilometer entfernten Freiburg eine betreute Wohngruppe mit derzeit acht jungen Flüchtlingen. Weshalb?
Das Christophorus-Jugendwerk kooperiert seit Jahren mit der Stadt Freiburg und organisiert die Inobhutnahme männlicher Jugendlicher. 2011 gab es einen starken Anstieg der in Obhut genommenen unbegleiteten Flüchtlinge, auf den die Strukturen der beteiligten Stellen nicht vorbereitet waren. Die Fallzahlen hatten sich nahezu versechsfacht. Nachdem der Trend auch 2012 anhielt, haben wir im Mai angefangen, ein eigenes Angebot zu konzipieren. Wir haben gute Erfahrungen mit Gruppenpädagogik gemacht. Freiburg und das Lehrlingswohnheim sind als Standort optimal: Die Stadt bietet soziale, kulturelle und freizeitpädagogische Möglichkeiten - auch für die jungen Flüchtlinge. Wichtige Kooperationsstellen wie Vormünder, Jugendamt oder Ausländerbehörde sind auf kurzem Weg erreichbar. Im Wohnheim wohnen Lehrlinge unterschiedlicher Nationalität während ihres Blockunterrichts. Hier ergeben sich immer wieder tolle Kontakte zwischen den jungen Menschen, die unseren Jugendlichen Mut machen, eigene Perspektiven zu entwerfen.
Welche Probleme stehen bei den jungen Flüchtlingen im Vordergrund?
Neben ausländerrechtlichen Unsicherheiten schwebt das mögliche Ende der Hilfe mit Eintritt der Volljährigkeit als ständiges Damoklesschwert über den Jugendlichen. Da das Clearing noch nicht einheitlich geregelt ist, hat es in Einzelfällen dazu geführt, dass Jugendliche einige Wochen in der Wohngruppe lebten und dann erst eine Altersbestimmung erfolgte, bei der die Volljährigkeit festgestellt wurde. Das bringt Unsicherheit für alle Beteiligten.
Wie lange bleiben die jungen Menschen in der Regel in der Einrichtung und was passiert danach mit ihnen?
Die Verweildauer variiert individuell sehr stark. Das Alter, das Herkunftsland, ausländerrechtliche Gegebenheiten, der pädagogische Bedarf und eigene Ziele spielen dabei eine Rolle. Aktuell gibt es junge Flüchtlinge, die bereits seit drei Jahren im Wohngruppenbereich leben, im Rahmen der Inobhutnahme können dies auch nur wenige Tage sein. Ebenso unterschiedlich geht es nach der Zeit in Jugendhilfe weiter. Manche setzen die Flucht fort. In der Regel wissen wir nicht wohin. Andere halten sich in einem Übergangswohnheim auf, in der Psychiatrie oder lassen sich dauerhaft in der Region nieder. Unser Ziel ist es, mit den jungen Menschen eine stabile soziale, wohnliche und berufliche Perspektive zu entwickeln, die sie auch in der Zeit nach der Jugendhilfe trägt. An diesem Punkt gibt es noch viel zu tun.
Welche Lösungsansätze sind denkbar?
Es bedarf auch spezieller Angebote von Schulen und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Gerade bei psychiatrisch relevanten Krisen greifen die Rädchen noch nicht ineinander. In der ambulanten psychiatrisch-therapeutischen Versorgung bräuchten wir mehr muttersprachliche Therapeuten. Mittelfristig sollte auch politisch klar Stellung bezogen werden, welche Haltung man grundsätzlich diesen jungen Menschen gegenüber an den Tag legen möchte.