Soziale Umwälzung nach dem Tsunami
Ein makaber erscheinendes Sprichwort kursiert in Südindien: "Der Tsunami war ein Segen." Wie bitte? Kein Übersetzungsfehler? "Nein", bestätigt Sebastian James von der Caritas Indien, "es ist schon richtig so. Abgewandelt sagt man bei uns in Südindien auch: ,Über den Tsunami-Menschen liegt ein Segen.‘ Vergleichen Sie doch mal, wie die Menschen an der Küste vor dem Tsunami 2004 gelebt haben, und wie es ihnen heute geht! Dann wissen Sie, was gemeint ist. Was Caritas hier in den vergangenen Jahren zustande gebracht hat, das ist nicht weniger als - eine soziale Revolution. Wenn nun die Menschen das als Segen betrachten, so ist dies das schönste Kompliment für unsere Arbeit." Sebastian James koordiniert für die Caritas Indien den Gemeindeaufbau und die sozialen Hilfen in sämtlichen Regionen des Landes, die der verheerende Tsunami im Dezember 2004 verwüstete. Das sind Tausende von Meilen Küste in den Bundesstaaten Kerala, Tamil Nadu, Andra Pradesh sowie den Inselgruppen der Andamanen und Nikobaren. Allein in Indien forderten die Flutwellen 16.000 Tote, machten 140.000 Familien obdachlos und beraubten sie ihrer Existenzgrundlagen. Das war der Fluch.
Dann folgte der Segen: Die Caritas baute - nach der lebensnotwendigen Soforthilfe der ersten drei Monate - 13.865 neue Häuser, ersetzte oder reparierte 2579 Fischerboote, verteilte 40.000 neue Fischernetze. Für 7000 Menschen in den Tsunami-Gebieten schuf die Caritas durch Ausbildungskurse und Umschulungen neue berufliche Perspektiven.
Bei allen Hilfsmaßnahmen verfolgte die Caritas Indien - in Kooperation mit Caritas international und dem internationalen Caritas-Netzwerk - von Anfang an auch ein strategisches Ziel: Materielle Hilfeleistung und soziale Entwicklung wurden miteinander verknüpft. "Wir bauen mehr als Häuser, wir bauen Gemeinschaften, ja, wir bauen eine neue Gesellschaft", formuliert es Sebastian James. So nahm die "soziale Revolution" ihren Anfang.
Zwischen davor und danach liegen Welten
Revolution ist ein starkes Wort, aber James übertreibt nicht. Das wird deutlich, wenn man seiner Einladung folgt, die soziale Lage der Menschen vor dem Tsunami mit ihrer jetzigen Situation zu vergleichen, in einer klassischen Vorher-Nachher-Gegenüberstellung.
- Vorher: Frauen hatten nichts zu haben. Frauen hatten nichts zu sagen. Nachher: Frauen sind urkundlich registrierte Mitbesitzerinnen der durch die Tsunamihilfe verteilten Häuser und Boote. Sie verfügen über eigene Sparbücher, eigenes Geld und eigene Einkommensmöglichkeiten. Und sie sind inzwischen mit einer 50-Prozent-Quote (!) in allen kommunalen Entscheidungsgremien vertreten.
- Vorher: Kinderarbeit war die Regel in den Fischerfamilien. Spätestens nach der fünften Klasse wurden Jungen von den Schulen genommen und für Hilfsarbeiten auf den Fischerbooten eingesetzt. Für Mädchen galt: Sie mussten möglichst jung und schnell verheiratet werden und blieben fortan auf die traditionelle Rolle als Hausfrau beschränkt. Nachher: Es gibt keine Kinderarbeit mehr in den vom Tsunami betroffenen Gebieten. Der Großteil der Eltern ist darauf erpicht, ihren Söhnen und Töchtern eine umfassende Bildung zu ermöglichen. Auch Mädchen haben nun mehr berufliche Perspektiven. Kinder haben eigene Interessenvertreter(innen) in allen kommunalpolitischen Gremien.
- Vorher: Dalits - die im indischen Kastensystem auf der untersten gesellschaftlichen Stufe stehenden Kastenlosen oder sogenannten "Unberührbaren" - hatten mit den Angehörigen der höheren Kasten keine Gemeinschaft außer jener, dass sie von diesen als unterbezahlte Hilfskräfte auf Fischerbooten oder für Feldarbeiten eingesetzt wurden. Heute: Viele Dalits wurden zu eigenen Bootsbesitzern und damit selbstständigen Fischern. Andere ließen sich zu Elektrikern, Schreinern oder Technikern ausbilden und haben jetzt bessere Einkommensmöglichkeiten als vorher. Dalits haben Interessenvertreter in den Gemeindegremien und können ihren Kindern ebenfalls eine Schulbildung ermöglichen. Nur durch Bildung, dies ist ihnen mittlerweile klar, ist der Weg aus der Spirale der Armut und Unterdrückung möglich, in der Dalits seit Jahrtausenden gefangen gewesen sind.
Indische und deutsche Caritas bauen Gemeinde auf
Wie für Frauen, Kinder und Dalits, so revolutionierte die Caritas in den Tsunami-Gebieten die Rollenbilder und Möglichkeiten auch für alle anderen bislang benachteiligten Gruppen - Witwen etwa, Menschen mit Behinderung oder alte Menschen. Die Sozialarbeiter(innen) der Caritas Indien und der Caritas-Organisationen in den 23 vom Tsunami betroffenen Diözesen haben dabei in nur fünf Jahren eine seit Jahrtausenden bestehende Kultur verändert. Möglich wurde dies - unter anfangs großen Widerständen - durch systematisch geplante, hartnäckig verfolgte und umgesetzte Gemeindeaufbau-Arbeit, die die Caritas Indien mit fachlicher und finanzieller Unterstützung von Caritas international geleistet hat.
"Damit wir die erzielten Erfolge erreichen konnten, mussten wir sehr viel Bewusstseinsbildung betreiben", erklärt Sebastian James. "Wir mussten ja schließlich das traditionell geprägte Bewusstsein der Menschen ändern. Die Bewusstseinsbildung begann zunächst bei der eigenen Belegschaft. Es hätte keinen Sinn gehabt, Sozialarbeiter(innen) in die Dörfer zu schicken, die nicht von innen her selbst die Einstellung mitgebracht hätten: Alle Menschen - Männer und Frauen, Kinder und Alte, Dalits und Nicht-Dalits - haben gleiche Rechte und müssen diese durchsetzen können. Dies ist das endgültige Ziel unserer Gemeindeaufbau-Arbeit: Die Menschen sollen erkennen, dass sie überhaupt Rechte haben. Sie werden von uns gestärkt und befähigt, diese selbst einzufordern. Diesen Prozess nennen wir Gemeindeaufbau oder auch: Mobilisierung der Gemeinden. Wo dies erfolgreich geschehen ist, dort können wir uns zurückziehen. Das ist im Sinne von Caritas wahre Hilfe zur Selbsthilfe."
Mary Peter ist eine jener Sozialarbeiterinnen, die solche Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Wie ihre Caritas-Kolleg(inn)en in anderen Diözesen hat sie in den TsunamiDörfern geholfen, einen sogenannten Gemeinde-Entwicklungsrat zu bilden. In jedem dieser Räte sitzen Interessenvertreter(innen) von Männern, Frauen, Kindern, alten Menschen, Witwen, Menschen mit Behinderung oder Dalits. "Das war nicht leicht", berichtet sie. "Die traditionellen Entscheider - das waren meist alte Männer -, wollten ihre Macht nicht mit diesen Gruppen, vor allem nicht mit Frauen teilen. Ich habe in manchem Dorf monatelang in Einzel- und Gruppengesprächen die Menschen dafür sensibilisiert, Frauen die gleichen Rechte zuzusprechen." Die Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt: Frauen wurden im Fischereiverband - bislang eine reine Männerdomäne - gleichberechtigte Mitglieder, später waren sie in allen dörflichen Entscheidungsgremien vertreten.
Gleichberechtigung überzeugt in der Praxis
"Es gab Anfang 2009 kein Tsunami-Dorf mehr, in dem die Frauen nicht die Hälfte der Stimmen bei lokalpolitischen Entscheidungen hatten", erzählt Mary Peter. Die Regierung des Bundesstaates Tamil Nadu nahm sich dies zum Vorbild und erließ im August 2009 ein Gesetz, demzufolge bei künftigen Wahlen aller landes- wie kommunalpolitischen Gremien eine Frauenquote von 50 Prozent gelten muss - ein schönes Beispiel der Frucht von Caritas-Lobbyarbeit.
Die Mitwirkung der Frauen, anfangs noch kritisch beargwöhnt, wird inzwischen von den meisten Männern begrüßt. "Seit die Frauen mitentscheiden, läuft in unserem Dorf alles viel besser", erzählt Shankar, Fischer im südindischen Dorf Kaddalur Periya Kuppam. "Wir Männer haben uns eigentlich immer nur über den Fischfang und den Handel unterhalten und das verdiente Geld leichtfertig wieder ausgegeben. Aber die Frauen gehen mit Geld sorgsamer um und bringen soziale Themen ein wie die Bildung und Ausbildung der Kinder, die Versorgung der Dörfer mit besserer Infrastruktur, mit besseren Zufahrtswegen und Trinkwasser, das Anlegen von Rücklagen für Belange der Gemeinde. Wir Männer suchen jetzt sogar in vielen Dingen den Rat der Frauen. Das hätte vor fünf Jahren keiner für möglich gehalten."
Was etwa Männer im südindischen Cuddalore in Jahrzehnten nicht erreichten, schaffte Anfang 2009 eine örtliche Frauen-Selbsthilfegruppe. "Unser kleines Dorf bei Cuddalore", erzählt die 29-jährige Rani, "wurde ständig vernachlässigt, wenn die Regierung Straßen baute. Wir hatten kein Trinkwasser. Um es zu bekommen, mussten wir Frauen täglich mehrere Kilometer mit Wasserkrügen zum nächsten Ort gehen. Unsere Frauengruppe beschwerte sich bei den Behörden. Zunächst ohne Erfolg. Aber wir gingen weiter auf die Barrikaden - bis zur höchsten Instanz: Wir führten ein langes klärendes Gespräch mit dem Landrat. Das half. Jetzt haben wir eine gute asphaltierte Straße und eine eigene hygienische Wasserversorgung."
Frauen-Power gegen sture Behörden. "Das", freut sich Sebastian James, "ist es, was ich mit Mobilisierung und Stärkung der Gemeinden meine. Die Caritas ist nicht für diese Frauen zum Landrat gegangen. Aber die Caritas hat sie stark gemacht, selbst für ihre Rechte und die ihres Dorfes zu kämpfen."
Neues Ungleichgewicht im Blick
Beispiele wie diese erzählten Sebastian James, Mary Peter und deren Kollegin Laila Lawrence reihenweise, als sie im Oktober 2009 im Rahmen der Aktion "Caritas für Caritas" deutsche Caritas-Kolleg(inn)en bei vielen Verbänden und Einrichtungen besuchten. Die Erfolge ihrer Gemeindeaufbau-Arbeit stießen auf Beifall, auf Staunen, gelegentlich auch auf Skepsis. "Das ist ja fast zu schön, um wahr zu sein. Wo ist der Haken?", kommentierte einmal eine Zuhörerin während einer Präsentation. "Das denke ich mir auch manchmal", reagierte Sebastian James. "Aber was soll ich sagen? Es ist ebenso schön wie wahr. Und jeder kann sich vor Ort selbst davon vergewissern."
Und die Frage nach dem Haken? Richtig, den gibt es. Der Entwicklungssprung, den Sebastian James als soziale Revolution bezeichnet, fand lediglich in den 400 Dörfern an der Küstenlinie Indiens statt, in denen Tsunami-Hilfe geleistet wurde. In anderen Teilen des Landes leben unterdrückte und benachteiligte Gesellschaftsgruppen wie eh und je. Dies hat ein soziales Ungleichgewicht geschaffen - und vielerorts Neid. Der mag die Ursache sein für das Sprichwort "Über den Tsunami-Menschen liegt ein Segen". Wie geht die Caritas Indien damit um?
"Der Gemeindeaufbau in den Tsunami-Dörfern", erklärt Sebastian James, "wird zwar Ende des Jahres 2010 abgeschlossen sein. Aber die Caritas Indien arbeitet ja nicht nur dort, sondern im ganzen Land. Die Erfahrungen in der sozialen Entwicklung, die wir durch die Tsunami-Hilfe gemacht haben, dienen uns dabei als Modell für die weitere Arbeit. Unsere Gemeinde-Aufbauarbeit geht also andernorts weiter." Damit auch über "Nicht-Tsunami-Menschen" ein Segen liegt.