Klima schützen und Existenz sichern
Die Frage, was zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendig ist, wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert. Wie unter anderem das Bundesverfassungsgericht 20101 festgestellt hat, ist das Existenzminimum relativ zur gesamtgesellschaftlichen Situation zu bestimmen. Neben den physischen Grundbedürfnissen umfasst es die soziokulturelle Teilhabe als weiteres zentrales Element. Kritiker weisen darauf hin, dass sowohl die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie zum Beispiel gesunde Ernährung als auch die soziokulturelle Teilhabe bereits heute auf Basis der aktuellen Bemessungsgrundlagen nicht ausreichend möglich sind.2 Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die Überschreitung der planetaren Grenzen und die damit verbundenen Umweltprobleme wie der Klimawandel zu weiteren Herausforderungen bei der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums führen. Denn Menschen mit geringen finanziellen Mitteln sind sowohl von den Folgen des Klimawandels selbst (hohe Vulnerabilität) als auch von den Kosten der Klimaschutzmaßnahmen (zum Beispiel CO2-Bepreisung) besonders betroffen. Die Herausforderungen des Klimawandels müssen daher bei der Sicherung des Existenzminimums berücksichtigt werden. Dies ist nicht nur notwendig, um die Lebensqualität der Betroffenen zu bewahren, sondern auch, weil hohe Belastungen für finanziell schlechter gestellte Menschen die Akzeptanz und Umsetzung eines wirksamen Klimaschutzes stark erschweren oder sogar unmöglich machen können.
Das Konzept eines sozial-ökologischen Existenzminimums
Dem soll mit dem Konzept des "sozial-ökologischen Existenzminimums" begegnet werden, das in einem Gutachten im Auftrag der Diakonie Deutschland entwickelt wurde.3 Als Baustein einer sozial-ökologischen Transformation soll dieses Konzept sicherstellen, dass das menschenwürdige Existenzminimum in und nach der notwendigen Transformation gewährleistet ist. Neben einer Beschreibung zentraler Wirkzusammenhänge, einer Analyse der Verteilungsentwicklung seit 1995 und Szenarienrechnungen zu möglichen zukünftigen Verteilungsentwicklungen bis 2035 werden in dem Gutachten fünf Lösungsansätze vorgestellt und mit konkreten Maßnahmen unterlegt.
An dieser Stelle werden die zentralen Funktionen der Lösungsansätze benannt und beispielhafte Maßnahmen aufgeführt. Detailliertere Informationen und weitere Maßnahmenvorschläge können dem zugrundeliegenden Gutachten entnommen werden.
1. Stärkung unterer Einkommen
Es ist sicherzustellen, dass bei absehbar steigenden Preisen und Investitionserfordernissen Wohlfahrtsverluste bei Haushalten mit geringen finanziellen Mitteln verhindert werden und dass Klimaschutz sowie umweltverträglicher Konsum möglich sind. Entsprechende Instrumente sind beispielsweise die Erhöhung der Mindestlohns und des Wohngelds. Zudem könnte die Einkommensteuer- und Abgabenbelastung für untere Einkommen gesenkt werden.
2. Reform der sozialen Mindestsicherung
Es ist sicherzustellen, dass die soziale Mindestsicherung so ausgestaltet ist, dass sie das menschenwürdige Existenzminimum auch in der Transformation sicherstellt. Ansatzpunkt ist insbesondere das Grundsicherungs- beziehungsweise Bürgergeldniveau, bei dessen Bemessung absehbare Preissteigerungen und notwendige Änderungen des Konsumverhaltens – hin zu mehr Nachhaltigkeit – zu berücksichtigen sind. Nur so ist ein teilnehmendes Leben der Anspruchsberechtigten möglich.
3. Ausbau der öffentlichen Infrastruktur/Daseinsvorsorge
Es ist sicherzustellen, dass grundlegende Dienstleistungen für alle Bürger:innen zur Verfügung stehen und dass deren Bereitstellung kompatibel mit der Erreichung der Klimaziele beziehungsweise insgesamt der Einhaltung planetarer Grenzen ist. Wichtige Beispiele sind die Förderung des öffentlichen Verkehrs und von Fernwärmenetzen – wobei diese nicht nur auszubauen sind, sondern für untere Einkommen auch bezahlbar sein müssen.
4. Soziale Ausrichtung von Förderprogrammen/Subventionen
Es ist sicherzustellen, dass angesichts knapper Haushaltsmittel insbesondere diejenigen Bürger:innen bei der Transformation unterstützt werden, die sich andernfalls die notwendigen Investitionen nicht leisten könnten oder über Gebühr belastet würden. So gilt es beispielsweise, den sozialen Wohnungsbau zu intensivieren und dabei eine hohe energetische Qualität umzusetzen sowie sozial ausgerichtete Förder- und Beratungsangebote wie den Stromspar-Check (https://stromspar-check.de) auszubauen.
5. Verteilungs- und Suffizienzpolitik
Es ist eine Finanzierung für die vielfältigen staatlichen Investitions- und Unterstützungserfordernisse sicherzustellen, und es sind Rahmenbedingungen, Anreize und Regelungen zu setzen, damit im Sinne eines "Genugs" ein gutes Leben für alle möglich ist. Dementsprechend könnten verteilungspolitisch die Progression der Einkommensteuer verstärkt und die Erbschaftssteuer reformiert werden. Aufseiten der Suffizienzpolitik könnte das Recht auf Reparatur ausgeweitet und mit Nachdruck umgesetzt sowie ein Tempolimit eingeführt werden.
Fazit: die Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen
Die Bandbreite der Lösungsansätze macht deutlich, dass die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Transformationsprozess nicht allein durch eine Reform der Mindestsicherung erreicht werden kann. Vielmehr bedarf es eines umfassenderen Ansatzes, der neben der Mindestsicherung auch andere Bereiche umfasst und die Gesellschaft als Ganzes in den Blick nimmt. Nur so kann es gelingen, dass ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen für alle Bürgerinnen und Bürger möglich ist und wird.
1. Bundesverfassungsgericht: Beschluss des Ersten Senats vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09; Kurzlink: https://tinyurl.com/nc25-7-BVerfGE
2. Becker, I.; Held, B.: Regelbedarfsbemessung - eine Alternative zum gesetzlichen Verfahren. Berechnungen auf Basis der EVS 2018 unter Berücksichtigung von normativen Vorgaben der Diakonie Deutschland. Berlin, 2021. Kurzlink: https://tinyurl.com/nc25-7-regelbedarf.
3. Held, B.; Becker, I.: Sozial-ökologisches Existenzminimum. Herausforderungen und Lösungsansätze für die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Zeiten der Transformation. Gutachten im Auftrag der Diakonie Deutschland, 2025; Kurzlink: https://tinyurl.com/nc25-7-gutachten