Der Frust muss raus
Die zunehmenden Erfolge populistischer Parteien sind eine Herausforderung, auf die Gesellschaft und Politik bisher keine wirksame Antwort finden. Diejenigen, die felsenfest geglaubt haben, dass die Demokratie auf einem unerschütterlichen Fundament steht, werden eines Besseren belehrt. Kopfschüttelnd und ohnmächtig müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass die Grundlage der Demokratie ins Wanken gerät.
Auch viele junge Menschen, bei denen eigentlich progressive und offene Haltungen zu vermuten sind, haben offenbar keine Scheu mehr, sich politisch rechts zu positionieren. Moralische Appelle und beschwörende Aufrufe laufen ins Leere. Vor den Landtagswahlen 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wollten verschiedene Caritasverbände deshalb kommunikativ ausgetretene Pfade verlassen und mit einer Social-Media-Kampagne ausloten, wie sie den Ursachen der um sich greifenden Unzufriedenheit näherkommen können. Anstoß dafür gab der Deutsche Caritasverband, der Mittel zur Demokratieförderung der Mercator-Stiftung für den Osten der Republik erhalten hatte und diese zur Verfügung stellte. Die Zeit war knapp, eine Kampagne sollte her, und zwar schnell. Die üblichen monatelangen, oft kreativitätssedierenden Abstimmungsrunden mussten also entfallen. Federführend für die Kampagnenentwicklung waren die Caritasverbände der Erzbistümer Berlin und Hamburg (mit Sitz in Schwerin). Mit im Boot waren der Caritasverband des Bistums Görlitz und der Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen. Bandwurmartige Organisationsbezeichnungen zur Kennzeichnung des Absenders der Kampagne hielten die beteiligten Verbände für weniger geeignet, weshalb sie sich - mit Mut zur Unschärfe - für "Caritas im Osten" entschieden haben.
Ausgangspunkt für die Kampagne war der Unmut in weiten Teilen der Gesellschaft, der im Osten besonders ausgeprägt ist. Ganze Bevölkerungsgruppen haben das Vertrauen in die etablierte Politik und die gesellschaftlichen Institutionen verloren. Sie fühlen sich bevormundet, vernachlässigt und zurückgesetzt. Vielfach kursieren die Haltungen: "Die da oben machen mit uns, was sie wollen" und "Geflüchtete bekommen alles - wir nichts". Krieg, Klimawandel sowie die wachsende Schere zwischen Arm und Reich destabilisieren die Gemeinwesen. Der permanente Streit unter den politischen Parteien lässt die letzten Vertrauensreste zerbröseln. Die Menschen suchen in Krisenzeiten nach Sicherheit, Orientierung und Anerkennung. Viele im Osten fühlen sich jedoch nicht geschätzt. Deshalb setzen sie auf neue politische Kräfte. Diese versprechen einfache Lösungen für komplexe Probleme und stellen dabei die bestehende Ordnung der Bundesrepublik Deutschland infrage. Lagerbildung und gegenseitige Beschuldigungen bringen die Menschen aber nicht näher zusammen. Deshalb hat die Caritas im Osten sich bei der Kampagne auf das Zuhören konzentriert - zum einen, um besser zu verstehen, und zum anderen, um glaubhaft zu signalisieren, dass sie wirklich an Meinungen interessiert ist. Der Blick sollte auf das Empfinden und die Ursachen der Unzufriedenheit gelenkt werden. Die Caritas wollte aktiv zuhören und verstehen, was die Menschen stört, ohne zu bewerten oder oberlehrerhafte Ratschläge zu geben. Diese führen in eine Sackgasse.
#RadikalZugehört
Der Frust muss raus, damit sich etwas ändern kann - das war die Ausgangsthese. Die Berliner Agentur "Social Social" hatte die Idee, einen Frust-O-Mat zu entwickeln, der sich in erster Linie an junge Leute richten sollte. Der Frust-O-Mat bietet eine Plattform, spielerisch die Unzufriedenheit mit der Gesellschaft auszudrücken. Die Influencer-Agentur "peopleperson" unterstützte bei der zielgerichteten Verbreitung. So legte die Caritas im Osten die Grundlagen für einen offenen Dialog. Der Titel der Kampagne: #RadikalZugehört. Radikal zuhören heißt in der Konsequenz auch, Meinungen und Aussagen unzensiert stehen zu lassen, die ganz und gar nicht gefallen. Eine notwendige Voraussetzung für Glaubwürdigkeit, wenn man dem Gegenüber signalisieren will, dass man wirklich an dessen Meinung interessiert ist. Die Kampagne #RadikalZugehört bot eine Chance, Menschen anzusprechen, an denen die üblichen moralischen Appelle abperlen.
Viele haben Angst vor der Spaltung der Gesellschaft
58.000 Menschen haben die Frust-O-Mat-Website in der Laufzeit der Kampagne von August bis Anfang Oktober 2024 aufgerufen. 4300 haben den Frust-O-Mat vollständig ausgefüllt - weitere 9000 teilweise. Die größte politische Angst ist demnach, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. 99 Prozent befürchten das - unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Einstellung. 89 Prozent sind frustriert, dass ihre Werte nicht geteilt werden. 79 Prozent sehen Defizite beim Thema Sicherheit. 74 Prozent haben Sorge, dass ihre Heimat nicht so bleibt, wie sie ist. Das durchschnittliche allgemeine Frustlevel liegt bei 85 Prozent. Mit 60 Prozent ist der am häufigsten geäußerte Wunsch, "dass wir menschlich miteinander umgehen".
Auch die Presse hat über die Kampagne berichtet. Es gab zahlreiche Radiointerviews. Insgesamt wurden über die Social-Media-Aktivitäten mit der Kampagne fast eine Million Menschen erreicht. Der Frust-O-Mat wurde auch bei den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Schwerin drei Tage am Stand des Caritasverbandes für das Erzbistum Hamburg - ganz analog - präsentiert und traf auch dort auf großes Interesse. Die Rückmeldungen aller Besucher:innen waren durchweg positiv - unabhängig von deren politischer Einstellung. Sie sahen in diesem Ansatz eine aussichtsreiche Möglichkeit, wieder mehr aufeinander zuzugehen.
Die Auswertung will keine statistisch fundierte Erhebung sein - sie spiegelt subjektive Einstellungstrends wider. Die Kampagne ist als PR-Instrument angelegt, das kommunikative Botschaften transportieren und damit zum Nach- und Umdenken anregen soll. Sie signalisiert: Bewegt euch heraus aus eurer "Bubble" - versucht, die anderen zu verstehen, auch wenn es schwerfällt. Hört euch zu, ohne gleich zu bewerten. Zudem bietet sie eine Möglichkeit, sich abzureagieren, Gefühle und Ängste einfach einmal herauszulassen, um danach weniger emotionalisiert auf die aktuelle gesellschaftliche Situation zu blicken. So kann es besser gelingen, sich konstruktiven Lösungen zu öffnen. Eine PR-Kampagne mit therapeutischer Wirkung? Vielleicht ein wenig. Die Caritas im Osten hat den Nutzer:innen auch angeboten, mit ihr via E-Mail ins Gespräch zu gehen, was tatsächlich vielfach genutzt wurde. Beim Dialog wurde sie durch die Agentur "Social Social" intensiv unterstützt. Das Community-Management war allerdings eine Herausforderung, weil die Caritasverbände von der Vielzahl der Reaktionen überwältigt wurden. Das zeigt aber auch, dass ein Nerv getroffen wurde.
Es braucht mehr Gesprächsräume
Ulrike Kostka, Direktorin des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin, zog folgendes Fazit: "Mit dem Frust-O-Mat haben wir viele Menschen erreicht. Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen sich mehr persönliche Wertschätzung durch die Politik wünschen und sich nach gesellschaftlichem Zusammenhalt sehnen. Hier können Wohlfahrtsverbände wie die Caritas eine wichtige Mittlerfunktion einnehmen und Gesprächsräume schaffen. Das ist nach den Wahlen genauso wichtig wie vorher." Auf die Organisation und Moderation solcher Gesprächsräume sollte sich die Caritas stärker konzentrieren und mehr zuhören, statt zu belehren.