Soziale Mobilitätswende: Worauf es ankommt
Sachsenhausen ist ein beliebtes Touristenviertel. Dort gibt es die bekannten Apfelweinkneipen und Schnitzel mit grüner Soße. Allein drei S-Bahn-Stationen hat das Frankfurter In-Viertel. Eine Fahrt in die Innenstadt dauert fünf Minuten. Nur Wolfgang Heilmann braucht eine gute halbe Stunde. Der 76-Jährige ist lernbehindert, sitzt im Rollstuhl und wohnt in einem Betreuten Wohnen der Caritas Frankfurt. Eigentlich wäre die nächste S-Bahn-Station genau gegenüber seiner Einrichtung, aber dort gibt es keinen Aufzug, den Wolfgang Heilmann braucht, um zu den Gleisen zu kommen. Also muss er die Straßenbahn nehmen. Die nächste Haltestelle ist zehn Minuten entfernt, zurzeit dauert es für Rollstuhlfahrer noch länger - die vielen Baustellen. An diesem Mittwochnachmittag regnet es. Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle wird Wolfgang Heilmann nass werden. Aber das hält ihn nicht ab. Er möchte raus, auf die Zeil, die große Einkaufsmeile in Frankfurt, einen Kaffee trinken.
Noch in seiner Wohnung kämpft er mit seiner Regenjacke. Er kann nur den rechten Arm bewegen und es will ihm einfach nicht gelingen, seinen linken Arm durch den verkrumpelten Kunststoff der Jacke zu schieben. Stoisch probiert er es immer und immer wieder. Tanja Schmidt steht geduldig daneben. Die Sozialarbeiterin fragt: "Wolfgang, soll ich dir helfen?" Er grummelt, gibt ihr zu verstehen, dass er es allein schaffen will. Also wartet Tanja Schmidt ab. "Es ist seine Zeit. Es steht mir nicht zu, ihn zu drängeln", erklärt sie später beim Spazierenfahren, als ihr Klient sie gerade nicht hört.
Nach zehn Minuten gibt Wolfgang Heilmann auf und bittet Tanja Schmidt, ihm die Jacke anzuziehen. Das wäre geschafft - sie rollen los.
Caritas-Sozialarbeiterin Tanja Schmidt und Wolfgang Heilmann warten auf die Straßenbahn, die sie in die Innenstadt bringt. An dieser Haltestelle in Frankfurt-Sachsenhausen ist der Einstieg barrierefrei. Das heißt, der Bordstein ist auf Höhe der Straßenbahntür.
Wenn Wolfgang Heilmann Ausflüge machen will oder zum Arzt muss, braucht er die Hilfe der Sozialarbeiterin. Mit nur einem Arm kann er seinen Rollstuhl nicht durch die Stadt steuern, Tanja Schmidt muss ihn schieben. Seit 2007 arbeitet die 42-Jährige für den Caritasverband in Frankfurt und begleitet Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung durch den Alltag. Tanja Schmidt möchte ihren Klienten und Klientinnen Selbstbestimmung zurückgeben, das ist ihre Mission. Sie erzählt: "Wenn ein Klient sagt, er möchte auf den Weihnachtsmarkt, dann gehen wir auf den Weihnachtsmarkt. Auch wenn ich weiß, dass es super anstrengend wird."
Wann wäre die Mobilitätswende gelungen?
Menschenmassen und Kabelbrücken, wie sie auf Großveranstaltungen wie einem Weihnachtsmarkt zu erwarten sind, verlangen nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auch ihren Unterstützerinnen und Unterstützern viel Muskelkraft, Konzentration und Durchsetzungswillen ab. Tanja Schmidt hilft gerne, die Ausflugspläne der Klient:innen zu erfüllen, doch sie würde sich wünschen, dass sie ihre Hilfe weniger bräuchten.
Wann also wäre die Mobilitätswende gelungen? "Wenn Menschen mit Behinderungen weniger abhängig sind", sagt die Caritas-Sozialarbeiterin. Dabei ginge es nicht nur um den Abbau von Barrieren, sondern vor allem auch darum, dass sie sich mehr gesehen und gehört fühlen. Für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, so wie Wolfgang Heilmann, müssen andere die Stimme erheben. Caritas-Sozialarbeiterin Tanja Schmidt ist eine von ihnen.
Frankfurt hat ambitionierte Vorhaben, um die Mobilität und den Verkehr in der Stadt künftig nachhaltiger und inklusiver zu gestalten. Doch noch ist der vorgelegte Masterplan nicht beschlossen. Solange die Stadtpolitik um Lösungen ringt und bis die Vorhaben umgesetzt sind, muss Wolfgang Heilmann also weiterhin 30 anstatt fünf Minuten in die Innenstadt fahren und hoffen, dass ihm auf dem Weg keine unüberwindbaren Barrieren einen Strich durch die Ausflugspläne machen. Um in die U- oder S-Bahn zu kommen, ist Wolfgang Heilmann auf den Aufzug angewiesen. Es gibt bereits eine App, die anzeigt, wenn einer kaputt ist, aber die Infos sind nicht immer aktuell.
Und dann geht plötzlich der Aufzug nicht mehr …
An diesem Mittwoch verläuft zumindest die Fahrt mit der Straßenbahn ohne größere Probleme. Auf der Zeil angekommen, stehen Wolfgang Heilmann und Tanja Schmidt etwas unentschlossen am Anfang der Einkaufsmeile. Wo sollen sie den Kaffee trinken? Wolfgang Heilmann will nicht zu Starbucks - der wäre ebenerdig auf der Einkaufsstraße zu erreichen -, sondern möchte einen Cappuccino vom Bäcker. Der nächste Backshop ist im Untergeschoss, oberhalb der U-Bahn-Gleise. Also heißt es: Aufzug fahren. Tanja Schmidt spart sich die Gegenargumente.
Beim Hinabfahren geht alles glatt, doch als sie mit dem Kaffee in der Hand wieder hinauffahren wollen, hakt es. Die Tür vom Aufzug geht nicht mehr zu, egal, wie oft Tanja Schmidt drückt, es tut sich nichts. Wieder bleibt die Sozialarbeiterin ruhig, auch Wolfgang Heilmann regt sich nicht auf. In Gedanken versunken fahren sie in dem U-Bahnhof hin und her. Tanja Schmidt denkt laut nach: Die Treppen sind keine Option - zu steil. Alle anderen Aufzüge fahren nach unten auf die Bahnsteige. Eine Station weiter mit der U-Bahn fahren und dann den Weg zurücklaufen? Eine Option, aber anstrengend. Vor allem bei dem Regen! Schließlich entscheidet sich die Sozialarbeiterin, es noch mal mit dem Aufzug zu versuchen. Und siehe da: Plötzlich geht er wieder. Eine Minute später stehen sie mit dem Cappuccino in der Hand wieder auf der Zeil. Erleichtert oder enthusiastisch wirken die beiden nicht. Für Wolfgang Heilmann und Tanja Schmidt sind diese Barrieren Alltag.
Wo viele kein Auto haben, ist der ÖPNV besonders wichtig
Markus Eisele kennt die Herausforderungen. Der Diakoniepfarrer ist Vorsitzender der Liga Frankfurt, einem Zusammenschluss der sechs regionalen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, die sich für soziale Infrastruktur in Frankfurt einsetzen. Genauso wie Tanja Schmidt fordert auch Markus Eisele mehr Barrierefreiheit in der Frankfurter Innenstadt, betont aber, dass insbesondere auch die armutsgefährdeten Stadtteile bei den Bemühungen zur Mobilitätswende nicht vergessen werden dürften. In den strukturschwachen Vierteln, die oft außerhalb liegen, wohnen viele Menschen mit Behinderung, die von Sozialhilfe leben, berichtet Markus Eisele. Viele besitzen kein Auto und sind auf den ÖPNV dringend angewiesen. Doch in diesen Bezirken gibt es weniger Auswahl an öffentlichen Verkehrsmitteln, die Stationen liegen weiter auseinander, sind seltener barrierefrei und die Wartung der Anlagen erfolgt nicht so regelmäßig. Das bestätigt auch Tanja Schmidt, die Klienten in genau diesen Vierteln hat. Der Masterplan Mobilität der Stadt Frankfurt sieht eine bessere Anbindung der Außenbezirke vor. Doch auch das wird dauern - was tun?
Jonas Deister, Geschäftsführer bei dem bundesweit tätigen Verein Sozialhelden und selbst Rollstuhlfahrer, weiß Rat. Als Übergangslösung nennt er Sonderfahrdienste wie das "WirMobil" aus seiner Heimatstadt Berlin. Im Auftrag des Landes holt der Fahrdienst Menschen mit Beeinträchtigungen zu Hause ab und bringt sie zu ihren Freizeitaktivitäten. Die Fahrten können per App, Website oder Telefon gebucht werden und kosten für den Fahrgast nur wenige Euro. Den Rest übernimmt das zuständige Landesamt. Vergleichbare Beförderungsangebote gibt es in einigen deutschen Städten. Auch Frankfurt fährt ähnliche Programme. Am Berliner Modell lobt Jonas Deister, dass sogar ein Treppenservice angeboten wird. Das sei für Menschen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht allein aus der Wohnung kommen, ein großer Schritt in Richtung mehr Selbstbestimmtheit.
Sonderfahrdienste können gute Übergangslösungen sein, bis der ÖPNV deutschlandweit besser ausgebaut ist, findet Inklusionsexperte Deister. Er wünscht sich mehr solche innovativen und niederschwelligen Konzepte - vor allem auf dem Land, da hinke man deutlich hinterher. Auch deswegen haben die Sozialhelden das Programm "Barriere-Scouts" auf den Weg gebracht. Die Scouts sind Menschen mit Behinderungen, die täglich mit Barrieren zu tun haben und ihre Erfahrungen nutzen, um Städte und Kommunen oder auch die Betreiber von Kinos, Apotheken und Geschäften zu beraten. Auf Anfrage besuchen sie Orte und Gebäude, um gemeinsam mit den Verantwortlichen pragmatische Lösungen zu entwickeln, um Barrieren abzubauen. Das Angebot gibt es inzwischen in fast jedem Bundesland, der Verein Sozialhelden listet die Kontakte der Barriere-Scouts auf seiner Website.
Auf die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen aufmerksam zu machen und Entscheidungsträger:innen zum Umdenken zu bewegen, ist auch bei der Caritas Frankfurt Teil der Mission. Erst vor kurzem hatte sie Erfolg. Eine Gruppe Klient:innen hatte zu einer Ortsbegehung nach Sachsenhausen eingeladen. Sie wollten den Stadtpolitiker:innen vorführen, wie ein Bahnübergang vor einer Caritas-Unterkunft ihre Bewegungsfreiheit behinderte, weil er nicht angemessen gesichert war. Die Abgeordneten erkannten das Problem, der Bahnübergang ist jetzt sicher. Für Tanja Schmidt ein gutes Beispiel dafür, wie viel aktive Mitsprache bewirken kann.
Der Wunsch: Menschen mit Behinderungen aktiver befragen
Zurück auf der Zeil: Wolfgang Heilmann ist mit Hilfe von Tanja Schmidt ein paar Meter über die Einkaufsmeile gerollt. Jetzt ist er müde und möchte gerne heim. Knapp vier Stunden sind vergangen, seitdem sie die Wohnung in Sachsenhausen verlassen haben. In der Zeit sind sie Straßenbahn und Aufzug gefahren und waren beim Bäcker Kaffee holen - für Wolfgang Heilmann ein schöner Tag. Er war draußen an der frischen Luft, der kaputte Aufzug war nur eine kleine Barriere, und der Cappuccino hat geschmeckt. Nur das Wetter hätte besser sein können, erzählt er später Tanja Schmidt. Die erwidert: Im Gegensatz zu den Barrieren im Frankfurter Stadtalltag ließe sich das leider nicht ändern.