Irgendwie normal
Sommer, Sonne und dazu ein Eis: Steffen, Ayhan, Nicole und Sandra haben sich einen schattigen Platz vor ihrer Lieblingseisdiele in Berlin Lichtenrade gesucht. Soweit alles normal. Oder?
Ayhan und Michael sitzen in ihren Rollstühlen mit speziellen Kopf- und Beinstützen. Ayhan formt seine Hände permanent zu abgeknickten Fäusten. Steffen nestelt an einem weißen Frotteetuch. Abwesend, so scheint es, blicken sie mit geneigten Köpfen vor sich hin, bis Nicole und Sandra ihnen einen von den kleinen Plastiklöffeln mit etwas Eis an die Lippen führen. Steffen lacht und Ayhan streckt seinen rechten Daumen aus der Faust nach oben. Ayhan und Steffen sind schwerstmehrfach behindert. Sie leben im St. Elisabeth-Haus Lichtenrade und sind heute Vormittag mit zwei Mitarbeiterinnen des Begleitenden Dienstes, Nicole und Sandra, unterwegs.
Menschen mit Behinderung sind in im Alltagsbild noch immer nicht wirklich normal, ist die Erfahrung von Sabine Zerrahn-Wank, die im St. Elisabeth-Haus Wohngruppenleiterin ist. "In meinem Freundeskreis ist das etwas anderes. Die kennen mich und meine Arbeit, fragen und unterstützen", berichtet die gelernte Krankenschwester. "Auch meine Kinder habe ich so erzogen, dass sie Menschen mit Behinderung entsprechend begegnen. Aber wenn ich mich in meinem Kiez umschaue, sind Menschen mit Behinderung nicht präsent."
Daher sind Ausflüge wie sie Ayhan und Steffen heute machen wichtig. Wichtig und schön für sie selbst, genauso wie für die Gesellschaft. Nur wenn Menschen mit Behinderung im Alltagsleben in Erscheinung treten, kann es gelingen, sie als selbstverständlich - und vollwertig wahrzunehmen, ist Sabine Zerrahn-Wank überzeugt. Sie verweist auf ein Dorf in Niedersachsen. Neuerkerode ist ein inklusives Dorf, in dem Menschen ohne, aber auch etwa 800 mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen leben. Die Strukturen, Straßen, Supermärkte und örtlichen Gegebenheiten werden seit 2007 ganz bewusst barrierefrei entwickelt. Ein Modellprojekt, das zeigt, wie Inklusion gelingen kann, wenn Menschen mit Behinderung ihren Alltag öffentlich leben können.
Für eine Stadt wie Berlin klingt das nach Illusion. Dennoch zeigt der Ausflug von Steffen und Ayhan, dass es für Menschen mit Behinderung möglich sein muss, am öffentlichen Leben teilzunehmen. "Wir können sie doch nicht 24-Stunden in ihren Betten liegen lassen", betont Sabine Zerrahn-Wank, die aus tiefster Überzeugung in der Behindertenpflege arbeitet, wie sie sagt. "Unsere Bewohner müssen uns ihr tiefstes Vertrauen schenken, wenn wir sie waschen oder in einem Tuch sitzend per Lifter umlagern." Die unmittelbare Reaktion, im Normalfall ein Lachen, bestätigen sie in ihrem täglichen Tun.
48 Menschen mit schwerst mehrfachen Behinderungen haben ihr Zuhause im St. Elisabeth-Haus Lichtenrade. "Ihnen ein würdevolles Leben und behagliches Wohnumfeld zu schaffen, ist das Anliegen unseres gesamten Teams, das unter anderem aus Pflegefachkräften, Heilerziehungspflegern, Pädagogen und Therapeuten besteht", erklärt Einrichtungsleiterin Anja Prager. Ermöglicht wird dies durch individuell und persönlich gestaltete Einzelzimmer, sowie einer internen Tagesstruktur mit Freizeit- und Therapieangeboten. Diese finden zwar überwiegend auf dem Gelände statt, dennoch versuchen die Mitarbeiter immer wieder große und kleine Ausflüge zu organisieren.
Die Eisbecher von Ayhan und Steffen sind restlos ausgekratzt. Die beiden Männer wirken zufrieden in ihren Rollstühlen, wenn Sandra und Nicole sie Richtung Zuhause schieben. Ein paar Passanten auf dem Fußweg drehen sich nach ihnen um. Ein kleiner Junge fragt seine Mutter: "Warum sitzen die im Rollstuhl?". Alles normal.