Chirurg ohne Grenzen – ein Arzt schult Geflüchtete
"Ich konnte nicht einfach auf dem Sofa sitzen bleiben und zusehen, was da in Syrien passiert", erzählt Hans-Ulrich Thürck. Er sitzt am Esstisch seines geräumigen Hauses im hessischen Rödermark - 40 Autominuten von Frankfurt am Main. Im Hintergrund läuft dezent klassische Musik. Die Abendsonne wirft warmes Licht auf großformatige Fotos, die auf dem Esstisch ausgebreitet liegen. Zu sehen ist eine skurrile Szenerie: Bekannte Urlaubsmotive von südländischen Märkten und entspannten Abendstunden im Sonnenuntergang wechseln sich ab mit Bildern von menschlichen Gliedmaßen auf OP-Tischen - alle mit größeren Fleischwunden, manche sind so durchlöchert, dass man durchsehen kann. Auf einem der Fotos sieht man das Gesicht von Dr. Hans-Ulrich Thürck. Er trägt Brille und Mundschutz, beides mit deutlich erkennbaren Blutspritzern. Der pensionierte Unfallchirurg reiste im Oktober 2017 für Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) ins nordsyrische Tal Abyad - wenige Wochen nachdem die IS-Truppen aus der Stadt Raqqa, 70 Kilometer südlich von Tal Abyad, vertrieben worden waren.
Nach dem Sicherheitstraining ins verminte Kriegsgebiet
Für ihn als erfahrenen Unfallchirurgen lag es nahe, sich bei MSF zu bewerben. Doch das sei gar nicht so einfach gewesen, berichtet der Mediziner. Zunächst musste er einen ausführlichen Fragebogen im Internet ausfüllen und zwei persönliche Referenzen von leitenden Ärzten einreichen - "dabei war ich selbst fast 25 Jahre lang Chefarzt an der Asklepios Klinik in Langen", sagt er und schmunzelt.
Nach den erforderlichen Impfungen, unter anderem gegen Gelbfieber, bereitete sich der Unfallchirurg gemeinsam mit anderen Freiwilligen aus Schweden, Kanada und Holland eine Woche lang bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Bonn auf den Ernstfall vor. "Da haben wir Anti-Aggressions-Trainings bekommen und in Rollenspielen gelernt, wie man sich verhalten muss, wenn man eine Pistole an den Kopf gehalten bekommt. Es ging so weit, dass wir nachts von vermeintlichen Terrorgruppen überfallen und verschleppt wurden. Manche konnten Spiel und Realität nicht mehr unterscheiden", erzählt der Pensionär. Er selbst empfand das Training als realitätsnah und eine gute Vorbereitung auf unangenehme Überraschungen in Syrien - die es später tatsächlich geben sollte.
Doch zunächst ging es von seinem damaligen Wohnort Freiburg im Breisgau nach Basel (Schweiz) und von dort aus über die Türkei in den Irak. "Wir fuhren mit dem Jeep über die irakische Grenze", berichtet Hans-Ulrich Thürck. "Da habe ich gedacht, was geht hier ab? Ganze Kolonnen von Tanklastwagen fuhren mit uns über die Grenze, und genauso viele Laster kamen uns entgegen. Hinterher habe ich erfahren, dass die Laster aus Syrien randvoll mit Öl waren und die anderen leer." Die Türkei, so der Unfallchirurg, soll der Terrororganisation "Islamischer Staat" das Öl abgekauft und zudem Waffen wie Anti-Personen-Minen geliefert haben. Einige Medienberichte stützen diese Aussage. "Diese Minen sind bösartigst: Sie sind gezielt dafür konstruiert, Menschen zu töten. Der Ablauf bei einem Minenräumkommando ist so: Erst wird ein Roboter geschickt. Dann ein Minensuchhund. Erst danach betritt ein menschlicher Entschärfer das Gebiet. Und erst dann geht die Mine in die Luft."
Mit Handbohrer und Smartphone-Taschenlampe im Safe-Room
Der Arzt weiß, wovon er redet: Drei Monate versorgte er überwiegend Minenopfer in Syrien. "Das ist ein interessantes Bild", sagt Thürck und greift nach einem der Fotos auf dem Tisch. "Das ist ein Unterschenkel mit einem sogenannten externen Fixateur. Um den anzubringen, musste ich mit einem Handbohrer die notwendigen Bohrlöcher für die Metallpins vorbereiten. Da es kein Röntgengerät gab, mussten wir bei solchen Operationen auf unser Gefühl vertrauen. In Deutschland dürftest du unter diesen Bedingungen nicht arbeiten. Aber es ging, es hat funktioniert."
In seiner dreimonatigen Einsatzzeit verbrauchte Hans-Ulrich Thürck den gesamten Vorrat an Fixateuren - insgesamt 70 Stück. Ein paar weitere konnten über Schmuggelwege nachgeordert werden. "Manchmal fielen mitten in der Operation die Stromgeneratoren aus", berichtet der Chirurg. "Dann hat unser Übersetzer sein Handy rausgeholt, die Taschenlampe angemacht, und wir haben weiteroperiert."
Durch seine jahrzehntelange Erfahrung als Unfallchirurg fühlte er sich während der Operationen trotz der vorherrschenden Bedingungen immer auf sicherem Terrain. Selbst eine überraschende Gefahrensituation konnte ihn nicht davon abhalten, um jedes einzelne Leben der Menschen auf seinem OP-Tisch zu kämpfen: "Ich habe gerade eine junge Frau mit einer starken Leberverletzung operiert. Sie verlor eine Menge Blut: Es ging um Leben oder Tod. Dann ging plötzlich der Alarm los und das gesamte Team, 20 Männer und Frauen, rannte in den Operationssaal - der war gleichzeitig unser Safe-Room." In der Ambulanz kam es zu einer Schießerei. Zwei Männer kamen in die Ambulanz gerannt. Einer mit Stichwunde, der andere mit Pistole. Der Pförtner versuchte, die Situation zu deeskalieren, und schoss mit seiner Waffe mehrmals in die Luft. "Jeder im Raum war bis auf die Haarspitzen angespannt. Aber an Aufhören war nicht zu denken. Ich habe alle gebeten, 30 Zentimeter Abstand zum sterilen Bereich einzuhalten, und habe weiteroperiert."
Nach dem Vorfall wurde ein anderes Team - mit der für Thürck so wichtigen Fachärztin für Plastische Chirurgie - abgezogen. Die Lage war zu gefährlich. Nach zehn weiteren Tagen verließ auch der Unfallchirurg aus Rödermark das Land und verbrachte Weihnachten 2017 wieder daheim - seitdem war er kein weiteres Mal für MSF im Ausland. Doch sein Engagement für Flüchtlinge ging weiter.
Gesundheitsschulungen für Geflüchtete
Mitte 2018 meldete sich Zohreh Rezvany bei Hans-Ulrich Thürck. Die gebürtige Iranerin ist Projektleiterin im Bereich Flüchtlingsberatung bei der Caritas in Rodgau. "Sie rief mich an und fragte, ob ich einer Gruppe von Geflüchteten etwas zum Thema Gesundheit im Alltag erzählen könnte. Da ich mich weiter engagieren wollte, sagte ich zu."
Aus dem Anruf und der darauf folgenden Zusammenarbeit entstand eine ganze Schulungsreihe mit mehreren Themenblöcken: Hygiene im Alltag, Kinderkrankheiten, gesunde Ernährung, posttraumatische Belastungsstörungen, Impfungen sowie Frauen- und Männerkrankheiten. Aus diesen ersten sechs Schulungen sind mittlerweile zwölf geworden.
"Die ersten Themen haben wir noch vorgegeben", erzählt Zohreh Rezvany. "Aber dann kamen von ganz allein die Fragen der teilnehmenden Frauen und Männer. Daraufhin passen wir das Angebot immer wieder an die aktuellen Bedürfnisse an."
Integrationslotsinnen und -lotsen unterstützen die Schulungen, indem sie die Vorträge etwa ins Persische und Arabische übersetzen. So entsteht ein multilingualer Singsang, in dem man sich als Außensteher schnell verlieren kann. Aber alle Teilnehmenden lauschen aufmerksam ihrem jeweiligen Übersetzer, und an den Rückfragen erkennt man, dass die Inhalte ankommen.
"Es freut mich, dass alle so begeistert mitmachen - und am Ende, wenn sie ihre Teilnahmeurkunde in den Händen halten, stolz auf sich sind", sagt die Projektleiterin.
Ob der Herr Doktor, wie er von den Teilnehmenden genannt wird, noch mal ins Ausland geht? Vermutlich nicht. "Aber", so Hans-Ulrich Thürck, "man sieht ja, dass es in Deutschland ebenfalls genügend Probleme und Herausforderungen gibt. Um zu helfen, muss ich nicht nach Syrien oder in den Jemen. Das kann ich auch direkt vor meiner Haustür machen."