Wachsender gesellschaftlicher Bedarf bei geringerem Angebot
Problemanzeigen, die auf das Abschmelzen von lange gültigen Qualitätsstandards in unterschiedlichen Bereichen der Sozialen Arbeit hinweisen, haben in den vergangenen Monaten verstärkt den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) beschäftigt. Diese Entwicklungen werden oft mit dem Fachkräftemangel in Verbindung gebracht, sowohl in der Praxis Sozialer Arbeit als auch in der Lehre, der Weiterbildung sowie der Anerkennung vergleichbarer nationaler und internationaler Studien- und Berufsabschlüsse.
Qualitätsstandards in der Sozialen Arbeit können nur hinreichend in ihren Verbindungen zwischen Praxis, Wissenschaft, Lehre, Weiterbildung, Planung, Politik und anderen Bereichen betrachtet werden. Die DGSA hat deshalb zwei Projekte gestartet, um systematischer die Zusammenhänge von Fachkräftemangel und Qualitätsstandards zu analysieren. Zum einen wird aktuell ein Sammelband erstellt, der Hintergründe, Problemdiagnosen, Lösungsansätze und Forderungen systematisch, datenbasiert und theoretisch betrachtet und aufbereitet.2 Zum anderen wird an einem Positionspapier gearbeitet, das die Entwicklungen gebündelt darstellt und nötige Forderungen ableitet.3 An dieser Stelle soll ein erster Zwischenstand abgebildetwerden.
Als Hauptursachen und Hintergründe für den steigenden Bedarf an Fachkräften in der Sozialen Arbeit wird vor allem der wachsende gesellschaftliche Bedarf an Lösungen für soziale Problemlagen und Entwicklungsaufgaben, das Entstehen neuer Handlungsfelder und ein Generationswechsel innerhalb der Berufsgruppe selbst gesehen. Gleichzeitig wurden in den letzten Jahren deutlich zu wenig Fachkräfte ausgebildet. Die Länder haben es versäumt, hinreichend Studienplätze zu planen und auszubauen. Zudem haben Fachkräfte neue, erweiterte Erwartungen und Anliegen an gute Arbeitsbedingungen, verweilen oft nicht ihr ganzes Berufsleben in der Sozialen Arbeit und wandern in andere Felder ab. Hinzu kommt, dass die Anerkennung von vergleichbaren Abschlüssen aus dem Ausland nicht ausreichend gut organisiert ist und dass das Potenzial der neu hinzugekommenen Masterabsolvent:innen im Arbeitsmarkt noch nicht im nötigen Umfang erkannt und genutzt wird.
Neue Formen von Personal- und Organisationspolitik sind nötig
Diese Entwicklungen wirken sich auf drei Ebenen sichtbar aus. Erstens sehen sich die Mitarbeiter:innen und Träger in der Praxis Sozialer Arbeit infolge vakanter Stellen und weniger verfügbarer Fachkräfte mit zunehmenden Aufgaben und Verantwortungen sowie einer Verdichtung ihrer Arbeitslast konfrontiert. Dies geht einher mit Überforderungen, organisationalen Krisen, Konflikten, Arbeitskämpfen, einer individualisierten Überlastung oder der Kündigung von Fachkräften. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass neue Formen einer internen und externen Personal- und Organisationspolitik nötig sind. Mitarbeiter:innen und Träger brauchen bessere Rahmenbedingungen, um ihre Tätigkeiten gut ausüben sowie Beruf und Familie vereinbaren zu können. Neue Formen des Arbeitens und förderliche Arrangements für wachsende Aufgaben müssen so gestaltet werden, dass sie nicht den Bedarfen von Personal, Trägern, Adressat:innen und Nutzer:innen entgegenstehen.
Gute Bedingungen für Forschung und Lehre schaffen
Zweitens steigt auch an den Hochschulen der Druck, Qualität in Forschung und Lehre mit schwindender Personaldecke, wachsenden allgemeinen Aufgaben und den oft zunehmenden Studierendenzahlen weiterhin fachlich und didaktisch zu sichern. Dabei müssen die Hochschulen den sich diversifizierenden Ansprüchen und Konfliktlagen gerecht werden und wissenschaftliche sowie berufspraktische Kompetenzen adäquat vermitteln. Mit einer stärkeren Verlagerung der Studiengänge an privatgewerbliche Hochschulen geht einher, dass Kosten- und Marktdynamiken dazu einladen, Qualität, Arbeitsbedingungen und die Freiheit von Forschung und Lehre aus Gewinnabsichten zu unterlaufen.4 Im Zuge dieser Entwicklungen konnten die Bundesländer die oft hohen Studienkosten an Studierende, Eltern und Arbeitgeber outsourcen. Für Forschende nimmt der Druck zu, in teils prekären Verhältnissen zu arbeiten, mehr Anträge zu stellen, Drittmittel einzuwerben, komplexer werdende Forschungsprojekte durchzuführen und neue Aufgaben, wie die Promotionsbegleitung oder die Schaffung von Transferformaten5 zu bewältigen. Studierende sind herausgefordert, stärker verregelte Studiengänge in Einklang mit eigener Lohnarbeit, steigenden Lebenshaltungskosten und Sorgetätigkeit sowie persönlichen und gesellschaftlichen Krisen zu bringen.
Qualität für Zielgruppen halten
Drittens sind die sozialen und bildungsbezogenen Angebots- und Infrastrukturen und damit die Hilfs- und Lernangebote für die vulnerablen Zielgruppen der Sozialen Arbeit besonders betroffen. Fehlende Fachkräfte machen sich hier in längeren Wartezeiten, vermehrten Schließzeiten, erschwerten Zugängen, geringerer Nutzbarkeit, stärker schematisierten und verdichteten Formaten, fehlenden Räumen sowie geringeren Möglichkeiten für Reflexion, Innovationund Weiterentwicklung bemerkbar. Gleichzeitig erhöht sich bei den Trägern der Druck, fachliche Standards und Ansprüche in ihrer Personalauswahl herabzustufen, weniger oder geringer qualifizierte Fachkräfte einzusetzen, mit Trägern zu kooperieren, die fachlich geringere Qualität anbieten, oder auch Adressat:innen abzuweisen, die nicht in das eingeschränktere Angebotsspektrum "passen".
All diese Fragen sind anhaltend präsent und dringlich - und gleichzeitig werden sie aktuell viel zu wenig bearbeitet. Vor diesem Hintergrund hält die DGSA eine eingehendere Beschäftigung mit dieser Materie für besonders relevant. Die Beteiligten benötigen dazu noch mehr Wissen über das Ausmaß, Ursachen, Bedingungen und Entwicklungsdynamiken, die den Mangel an Fachkräften in der Sozialen Arbeit hervorrufen und verstärken sowie darüber, wie sich dieser Mangel bei den Trägern und in den Organisationen bemerkbar macht.
Stärker in den Blick genommen werden müssen die Verbindungen zwischen Professionalität und Fachlichkeit, Arbeits- und Rahmenbedingungen in der Praxis sowie die Arbeits-, Lehr-, Studien- und Forschungsbedingungen an Hochschulen und Studiengängen für Soziale Arbeit.
Strukturen für Qualität und Fachlichkeit schaffen
Basierend darauf müssten Strategien und Bearbeitungsweisen zum Fachkräftemangel abgeleitet werden. Dabei ist die Frage der Schaffung von Studien- und Ausbildungsplätzen sowie von qualitativ hochwertigen und gut zugänglichen Nach- und Weiterqualifizierungsangeboten von Relevanz. Wichtig erscheint zudem die Frage nach den Studien-, Forschungs- und Arbeitsbedingungen an den Hochschulen, die Sicherung der Qualität in Forschung und Lehre sowie die Klärung des Verhältnisses von Studiengängen an privatgewerblichen Hochschulen und Studiengängen an staatlichen beziehungsweise staatlich geförderten Hochschulen.
Um Qualität zu gewährleisten und wiederzugewinnen, sind Fachkräfte, Träger, Adressat:innen, politisch Verantwortliche und Fachverbände angehalten, den hier genannten Fragen weiter nachzugehen und diese öffentlich zu diskutieren. So kann Soziale Arbeit ihr Potenzial als Profession entfalten und ihrem fachlichen und gesellschaftlichen Auftrag und den Bedarfen ihrer Adressat:innen gerecht werden.
1. Dieser Beitrag wurde gemeinsam formuliert und stellvertretend für alle aktuell amtierenden Vorstandsmitglieder der DGSA eingereicht von Prof. Dr. Christian Spatscheck. Die anderen aktuellen Vorstandsmitglieder sind: Prof. Dr. Dieter Röh, Prof. Dr. Stefan Borrmann, Wolfgang Antes, Prof. Dr. Julia Franz, Prof. Dr. Heiko Löwenstein, Prof. Dr. Anne van Rießen, Prof. Dr. Claudia Steckelberg.
2. Zu diesem Sammelband wurde aktuell ein Call for Papers veröffentlicht. Dieser ist unter www.dgsa.de einsehbar.
3. Der Vorstand der DGSA veröffentlicht regelmäßig Stellungnahmen und Positionspapiere. Diese sind einsehbar unter: www.dgsa.de/veroeffentlichungen/stellungnahmen
4. Vgl. hierzu auch die Stellungnahme "Qualitätsstandards für duale, trägernahe und reguläre Studiengänge Sozialer Arbeit" des DGSA-Vorstands unter Kurzlink: t.ly/bt4nc
5. Seit einigen Jahren verpflichten sich die Hochschulen, ihr Wissen aus Forschung und Lehre stärker über Transferformate für Gesellschaft und Unternehmen zugängig zu machen und dabei wiederum neue Impulse für Forschung und Lehre aufzunehmen.
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