Theologischer Musterwechsel bei Kirche und Caritas
Diese Veränderung passiert zu einem Zeitpunkt, an dem sich auch an vielen anderen Schnittstellen von Kirche und Gesellschaft die ehemals festen Bindungen verflüssigen. Die anhaltende Missbrauchs- und Vertuschungskatastrophe sowie die gezähmten Reformbemühungen lassen die Austrittzahlen in die Höhe schnellen. Dabei ist aber nicht mehr alles so, wie es lange schien. Heute treten Menschen aus der Kirche aus, um weiter katholisch bleiben zu können. Erst die Distanz zur verfassten Hierarchie rettet ihnen die persönliche Glaubenshoffnung. Andere wie die Autorin Regina Laudage-Kleeberg beschreiben sich als "obdachlos katholisch". Sie tritt nicht aus, kehrt aber dem Arbeitgeber Kirche den Rücken. Das zeigt ganz plastisch: Die Machtverhältnisse haben sich längst umgedreht. Konnte Kirche früher Gehorsam und Dankbarkeit dafür einfordern, dass man für sie arbeiten darf, gilt heute in den Worten eines Papiers des Bunds der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) von 2018: Kirche bewirbt sich! Kirche und Caritas bewerben sich heute bei jungen Menschen, die auch anderswo einen sinn- und wertvollen Arbeitsort finden.
Bindung zur Kirche wird eigenverantwortlich getroffen
Das entspricht einem grundsätzlichen Wandel: Unter spätmodernen Vielfalts- und Freiheitsbedingungen regulieren die Einzelnen ihre Bindung (Nähe/Distanz) zu Religion, Caritas und Kirche eigenverantwortlich und ereignisbasiert. Die Definitionsmacht verlagert sich von der Institution zur Person. Und darauf gilt es sich (auch theologisch) einzustellen. Zwei Aspekte sind hier entscheidend: Erstens schließen sich Distanz zur verfassten Kirche und Nähe zum Evangelium nicht aus. Theologisch ist es seit Jahrzehnten Konsens, dass sich das Evangelium vom Reich Gottes auch außerhalb der sichtbaren Kirche ereignet, weil Gott nicht allein die Kirche, sondern die Welt erlöst (haben wird). Und zweitens sind Caritas und die anderen Orte von Kirche eben selbst keine "societas perfecta", sondern "stets der Reinigung bedürftig" (Vatikanum II, LG 8). Kirchenbindung ist keine unschuldige, rein positive Kategorie. Viele Menschen sind in ihren Biografien von Klerikern und kirchlichen Leitungspersonen verletzt, beschämt und missbraucht worden. Gerade wenn in den fachlichen Bereichen der Caritasarbeit die pastorale Macht von Religion ins Spiel kommt, braucht es eine hohe Sensibilität für subtile Machtspiele und die Ambivalenzen potenziell toxischer Bindungen.
Entsprechend sensibilisiert lässt sich diese Situation mit Daten aus einer empirischen Tiefenbohrung weiterverfolgen. Eine von der Praktischen Theologie an der Universität Tübingen durchgeführte Studie hat die Mitarbeitenden der Stiftung St. Franziskus Heiligenbronn im Südwesten der Republik zu Seelsorgequalitäten und Bindungsaspekten befragt.
Bei der Frage "Warum arbeiten Sie bei der Stiftung?" spielten christliche Werte eine gewisse, die kirchliche Trägerschaft keine ausschlaggebende Rolle. Wichtiger waren die Qualität der konkreten Einrichtung und von Alltagssituationen (etwa Gestaltungsspielraum, Nähe zum Wohnort, Vereinbarkeit von Familie und Beruf).
Bei der Frage "Woher nehmen Sie die Kraft für Ihre Arbeit?" zeigte sich, dass spirituelle und seelsorgliche Angebote eine eher geringe Bedeutung haben. Die primären Kraftquellen liegen in der Caritastätigkeit mit den Menschen selbst und im menschenrechtlichen, fachlichen Berufsethos. Dass das nicht als Abschied von christlichen Inhalten misszuverstehen ist, zeigt sich in den ergänzenden qualitativen Interviews. Die erhobenen Daten sprechen auf allen Ebenen von der Überzeugung, dass der je einzigartige Mensch Maßstab des eigenen (beruflichen) Handelns ist. In den Interviews beschreiben die Mitarbeitenden immer wieder ihre Haltung, den konkreten Menschen in seiner:ihrer Situation und Persönlichkeit wahr- und ernst zu nehmen. Sie wenden sich implizit wie explizit gegen eine Verobjektivierung beziehungsweise eine zu pauschale Kategorisierung von Menschen.
Die Menschenwürde ist ausschlaggebend
Das zeugt von einer Arbeitshaltung, die durch den Glauben an beziehungsweise das Vertrauen in den anderen Menschen und seine Einzigartigkeit geprägt ist. Die existenzielle Zugewandtheit zu einem anderen Menschen, die dessen Verborgenheit und Geheimnishaftigkeit Rechnung trägt, wird zum Signum des Handelns. Nicht ein von der Kirche formuliertes "christliches Menschenbild" ist entscheidend, sondern die von Gott her allen zukommende Menschenwürde. Das liegt zwar nicht völlig jenseits konkreter religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen, aber doch noch einen Tick vor diesen. In solch handlungsleitenden Grundhaltungen lassen sich die christliche Orientierung der Stiftung und der fachliche Anspruch von Mitarbeitenden zusammen denken, auch und gerade im Respekt vor deren weltanschaulicher Vielfalt.
Ähnliches zeigt sich bei der Frage, was es für die Mitarbeitenden heißt, Teil eines christlich-franziskanischen Trägers zu sein. Circa 60 Prozent sind der Meinung, das sei zwar kein Job wie jeder andere. Aber auch hier geht es weniger um traditionelle Kirchenbindung oder darum, Teil eines modernen Sozialunternehmens zu sein. Die größte Zustimmung findet sich in der "Bereitschaft zu einer religionsübergreifenden Kultur des Helfens" und der "Überzeugung, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist". Genau darin würden die franziskanischen Wurzeln wachgehalten.
Insgesamt kommen die Mitarbeitenden mit ihrem eigenen biografischen und fachlichen Wertesetting auf vielfältige Weise in die Stiftung, finden dann allerdings Wege eines dynamischen Zugehörigkeits-Managements. In den Interviews gibt es Anzeichen für graduelle Identifikationsprozesse mit der christlichen Prägung, etwa durch die Erfahrungen guter Arbeitsbedingungen, eines wertschätzenden Umgangs oder die Entdeckung, dass Leitbild und Seelsorge-Konzeption tatsächliche Anknüpfungspunkte an die eigenen Wertvorstellungen bieten. Entscheidend dafür scheinen Freiheit und der Respekt vor der je eigenen Spiritualität und Überzeugung. So sagte jemand bei der Gruppendiskussion mit der Leitungsebene, als es um das franziskanische Profil ging: "Also mir hat es geholfen, dass in dieser Runde eigentlich keiner wirklich so hundertprozentig sagen konnte, was denn das alles ist, ja [Lachen]. Und ich glaube, das ist dann auch ganz wichtig, das dann auch zu akzeptieren oder vielleicht auch mal zu akzeptieren, dass es auch mal einen nicht-christlich-franziskanischen Tag in einem Leben gibt […]."
Bindung folgt Brauchbarkeit
Das führt letztlich zu einer notwendigen Musterunterbrechung im Blick auf Bindungserwartungen von Mitarbeitenden. Die christliche Glaubenstradition wird heute weniger als lebenslange, flächig-kollektive (Kirchen-)Zugehörigkeit verstanden, sondern als offene Ressource für Leben und Beruf entweder situativ aktiviert oder eben undramatisch beiseitegelassen: Bindung folgt Brauchbarkeit. Das entspricht übrigens bester jesuanischer Pragmatik: "Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat" (Mk 2,27).
Die Musterunterbrechung liegt in der Frage nach den Kriterien, an denen die Qualität "Kirchlichkeit" festgemacht wird. Nämlich nicht mehr an den formalen Milieuzugehörigkeiten einer katholischen Sozialisation, Kirchenmitgliedschaft, Gemeindebindung oder einer tadellosen Ehe. Stattdessen besteht die Kirchlichkeit von Caritas inhaltlich und praxisbezogen im Evangelium als der Botschaft von der unverfügbaren Würde jedes Menschen und alles Lebendigen, besonders der Armen und Bedrängten (GS 1). Die grundlegende Bindung von Caritas und ihren Mitarbeitenden besteht im Commitment zu solcher Praxis (einer "Zivilisation der Liebe", wie Papst Franziskus es nennt), auch wo sie nicht explizit auf katholische Weise benannt wird.
Das wirft auch ein anderes Licht auf das Verhältnis von diözesaner Kirche und Caritasverband. Was lange als kirchliches Defizit der Caritas erschien - also Distanz zum gemeindekirchlichen Milieu, weltanschauliche Vielfalt, Pluralität an Lebensstilen -, das ermöglicht heute zugleich eine notwendige und erfahrungsreiche Konfrontation des Glaubens mit "der Welt von heute". Den Orten der Caritas fehlt dann erst einmal nichts, jedenfalls nicht mehr als der diözesanen Kirche und ihren gemeindlichen Orten. Damit transformiert sich auch die Rolle von Caritas-Theologie weg von kirchlichen Rechtfertigungsdiskursen hin zu einem konstruktiven Entdeckungsprojekt der situierten Ressourcen des Glaubens für soziales Engagement von Freiwilligen und für die Menschenrechtsprofessionen der Sozialen Arbeit.
1. Schüssler, M.; Staub, D. (Hrsg.): Seelsorgliche Ressourcen der Caritas. Ein Forschungsbeitrag zur Theologie christlicher Sozialunternehmen. Stuttgart, 2022.
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