Identität wird zur Aufgabe
Wer kennt ihn nicht, den Moment, wenn der PC und das Betriebssystem abstürzen? Dann hilft nur der Reset-Knopf. Ein Neustart ist nötig. Genau dies ist am 22. November 2022 mit der neuen Grundordnung des kirchlichen Dienstes (GrO) geschehen. Nun hat der Neustart nicht nur die Benutzeroberfläche dramatisch verändert, sondern es wurde ein neues Betriebssystem zur Sicherung und Entwicklung der katholischen Identität in caritativen beziehungsweise kirchlichen Einrichtungen aufgespielt. Die Verantwortlichen wie die Mitarbeitenden reiben sich die Augen. Das alte Programm "Katholisches Profil durch katholische Mitarbeitende" wurde ersetzt durch das neue Programm "Christliches Selbstverständnis durch Diversität". Ging es früher um konfessionelle Identitätssicherung, so geht es jetzt um kontinuierliche Identitätsentwicklung. Das Programm wurde ausgeliefert, aber es fehlt aktuell noch ein Handbuch beziehungsweise eine Schulung für das neue Betriebssystem.1 Spürbar ist: Die Herausforderung ist enorm.2
Identitätsentwicklung statt -sicherung
Das alte System der Identitätssicherung verlangte moralisch begründete Loyalitätsobliegenheiten bis in die private Lebensführung und präferierte die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche (personenbezogene Identitätssicherung). Das neue System erwartet Offenheit, Diskursbereitschaft, Wertekohärenz, denn "Vielfalt … ist Bereicherung".3 Jetzt trägt in erster Linie der Dienstgeber die Verantwortung für den Schutz und die Stärkung des kirchlichen Charakters der Einrichtung (institutionsbezogene Identitätsentwicklung). Dies geschieht unter Einbeziehung der Mitarbeitenden in den Prozess. Die Religionszugehörigkeit der Mitarbeitenden ist nur dann ein Kriterium bei der Einstellung, wenn es sich um pastorale und katechetische Dienste oder Tätigkeiten handelt, die das katholische Profil der Einrichtung inhaltlich prägen, mitverantworten und nach außen repräsentieren. Kritisch und theologisch höchst zweifelhaft bleibt hier die Bewertung des Austritts aus der katholischen Kirche als Anstellungshindernis beziehungsweise Kündigungsgrund.4
Diversität wird zum christlichen Markenkern
Entscheidend bleibt der Neuansatz: "Alle in den Einrichtungen der Kirche Tätigen", mit ihrer ganzen Vielfalt, "arbeiten gemeinsam daran, dass die Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann (Dienstgemeinschaft)".5 Dabei können alle Mitarbeitenden "unabhängig von ihren konkreten Aufgaben, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrem Alter, ihrer Behinderung, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Identität und ihrer Lebensform Repräsentantinnen und Repräsentanten der unbedingten Liebe Gottes und damit einer den Menschen dienenden Kirche sein. Vorausgesetzt werden eine positive Grundhaltung und Offenheit gegenüber der Botschaft des Evangeliums und die Bereitschaft, den christlichen Charakter der Einrichtung zu achten und dazu beizutragen, ihn im eigenen Aufgabenfeld zur Geltung zu bringen." Diversität ist somit der christliche Markenkern!6
Das neue Betriebssystem verstehen!
Identität, Identifikation und Bindung (Employer Branding) mit dem kirchlichen Arbeitgeber sind mit dem Ende der Volkskirche nicht mehr einfach gegeben. Wie jedes andere Unternehmen im Sozial- und Gesundheitswesen braucht es jetzt unternehmensstrategische Maßnahmen, um als attraktiver Arbeitgeber von Mitarbeitenden wahrgenommen zu werden. Das Management muss sich fragen: Haben wir für zu gewinnende und angestellte Mitarbeitende eine glaubwürdige und attraktive Außendarstellung, entsprechende glaubwürdige Onboardingprozesse und berufsbegleitende Konzepte mit passgenauen Formaten und Angeboten, die uns als christlichen Träger auszeichnen und Identifikation mit unserer spezifischen (kirchlichen) Sendung ermöglichen? Das reicht bis in die Tiefe aller Systemprogramme: Gibt es christliche Anreicherungen der klassischen Bindungsmerkmale (Entlohnung, Arbeitsplatz, Personalprozesse, Leben und Arbeiten, Gesundheit, Karriere, Kultur) und darüber hinaus spezifische christliche Überzeugungen, Haltungen, Motivationen und Verhaltensweisen, die Identifikation ermöglichen? Caritative Einrichtungen sind somit gefordert, ihr christliches und konfessionelles Selbstverständnis darzulegen, es kontinuierlich zu vermitteln und gemeinsam mit allen Mitarbeitenden im laufenden Betrieb fortzuentwickeln.
Die alte GrO basierte auf dem Denken, dass katholische Mitarbeitende eine hinreichende Identifikation mit den Werten und Zielen mitbrachten. Hier ist die neue GrO realistischer und anspruchsvoller. Denn nur wenn der Träger unter Wahrung der Diversität seiner Mitarbeitenden Angebote und Formate der Auseinandersetzung anbietet, kann er "von allen Mitarbeitenden … im Rahmen ihrer Tätigkeit die Identifikation mit den Zielen und Werten der katholischen Einrichtung" erwarten.7 Seit dem 22. November 2022 ist "die Arbeit an der christlichen Identität der Einrichtung … eine Pflicht und eine Gemeinschaftsaufgabe aller und ein permanenter, dynamischer Prozess"8.
Von der Glaubens- zur Überzeugungsgemeinschaft
Unter den veränderten Voraussetzungen (plural-säkulare Gesellschaft, religiöse Autonomie, Fachkräftemangel, negatives Image von Kirche …) gilt es, die Prozesse der Mitarbeitendengewinnung und -bindung neu aufzustellen. Der personenbezogene Ansatz sah in den Mitarbeitenden zuerst die/den katholisch Gläubige:n. Es reichte hier, die vertrauten kirchlichen Angebote (Messfeier, Sakramente, Oasentage, Exerzitien, geistliche Impulse, Meditation, Seelsorge …) zu machen. Diese dienten dem individuellen Glauben (religiöse Persönlichkeitsentwicklung) und waren Ausdruck kirchlichen Gemeinschaftserlebens (sakramentale Glaubensgemeinschaft). Mit der konkreten Arbeit und deren Herausforderungen hatten diese eher liturgischen Formate meist wenig zu tun. Zugleich wurde unterstellt, dass jegliche Tätigkeit für die Mitarbeitenden zugleich eine erfüllende Sinnstiftung als Dienst am Nächsten bedeutete (Dienstgemeinschaft).
Heutige Mitarbeitende kommen mit ihrer Religiosität oder ohne diese.9 Sie erwarten daher eine Darlegung der religiösen Vorstellungen und Beweggründe sowie der ethischen Haltungen des christlichen Trägers. Nur so können sie diese in der Tätigkeit umsetzen. Weiter fragen sie, wie dies in der Kultur des Unternehmens- und Führungshandelns erfahrbar wird.
Die vorgestellten Ziele und gelebten Werte müssen dann mit den eigenen Vorstellungen kohärent sein beziehungsweise als Bereicherung erlebt werden. Was ist die Motivation, die Vision (Zukunftsbild) sowie die konkrete Mission (Daseinszweck) dieses kirchlichen Trägers? Kann und will ich mich als Mitarbeitende:r damit identifizieren? Was ist bei diesem Träger der Mehrwert für die Klient:innen, Bewohner:innen, Patient:innen, Kund:innen …? Erlebe ich mich darin als selbstwirksam? Kann ich meine Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben und Entwicklungen hier verwirklichen? Was trägt die Religion zu meinem professionellen Handeln bei? (Kompetenzerweiterung).
Von der Unterscheidung zur Entschiedenheit
Das neue Betriebssystem setzt nicht einfach auf ein statisches Verständnis von Katholizität, welches seine Identität in der Unterscheidung von Anderen sucht (Profildiskussion). Ein solches, eher bipolares Vorgehen führt zu einem exklusiven Selbstverständnis und in der Folge zur Abwertung anderer sozial engagierter Einrichtungen und Träger. Stattdessen verlangt das christliche Menschenbild ein inklusives Identitätsverständnis. Gottesliebe als Ursprung jedes Lebens ist nicht exklusiv katholisch, sondern in jedem Menschen anwesend und findet in seinem sozialen Handeln seinen Ausdruck. Daher sagt die GrO, alle können Repräsentanten der Liebe Gottes sein. Diese allen Menschen geschenkte Liebe Gottes ist religionsunabhängig und weltweit mit der ganzen Menschheit (Ebenbild Gottes) aktiv. In diesem Sinne braucht es eine kirchliche Kultur der Demut in Bezug auf das eigene Tun und eine Hochachtung in Bezug auf das soziale Handeln Anderer. Das christliche Selbstverständnis (Ethos) entsteht nicht durch Unterscheidung, sondern durch eine bewusste Entschiedenheit. Aus welchem Grund setzt sich ein christlicher Träger oder seine Einrichtung für eine gesellschaftliche Fragestellung oder eine benachteiligte beziehungsweise ausgegrenzte Personengruppe ein? Mitarbeitende wollen verstehen, was dies mit den dahinterliegenden Glaubensüberzeugungen zu tun hat, unabhängig davon, ob sie selbst diesen Glauben teilen.
Welche Kirchlichkeit? Wir sind gefordert!
Neben Leitbildern, Führungsgrundsätzen oder einem Code of Conduct ist die eigentliche Herausforderung, den permanenten Diskurs zu den Werten und Zielen in der Einrichtung wie in der konkreten fachlichen Arbeit auf der Grundlage des christlichen Glaubens zu begründen und zu entwickeln. Wie geht dies mit Mitarbeitenden, die nicht Teil der zugleich kleiner werdenden Glaubensgemeinschaft sind? Das heißt, es geht um eine fachliche christlich angereicherte Diskursstrategie zur Förderung und Fortentwicklung der Identifikation mit der Mission und Vision des jeweiligen Trägers. Hier konkretisiert sich die jeweilige "kirchliche Sendung".
Wo lernen Führungskräfte, dies angemessen im täglichen Dienstgespräch, in Strategieprozessen oder in der Krisenbewältigung einzuspielen? Welche Kompetenzen (kirchlich-institutionell und religiös-spirituell) benötigen sie? Früher brauchte es für die ausschließlich katholischen Mitarbeitenden eine:n geistliche:n Begleiter:in. Jetzt braucht es Personen, die den Diskurs um eine christlich angemessene und glaubwürdige Träger- und Managementkultur, Personalführung, Fort- und Weiterbildung sowie erwartbare Fachlichkeit aus dem christlichen Glauben entwickeln, fördern und unterstützen.10 Konkret braucht es oft Stabsstellen für christliche Unternehmenskultur oder -profil, die das christliche Menschen-, Welt- und Gottesbild in die jeweiligen fachlichen Prozesse einbringen können und hierzu Fachreferent:innen und Vorgesetzte befähigen. Der Bedarf an klassischen religiösen Formaten wie allgemeinen Glaubenskursen sinkt mit dem Rückgang der konfessionellen Mitarbeitenden. Künftig braucht es verstärkt entsprechende tätigkeitsbezogene, inklusive religiöse Inhalte der fachlichen Fort- und Weiterbildung, um eine entschieden christlich geprägte Professionalität anzubieten.11 Es sind Diskursformate zur Stärkung der Überzeugungsgemeinschaft zu fördern (Motivations- und Wertegemeinschaft). Es braucht Konzepte der Mitarbeitendengewinnung wie auch zur beruflichen Begleitung, die kompatibel zur Arbeitswelt sind. Es gilt eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit christlichen Inhalten in der beruflichen Tätigkeit anzubieten.12 Dies ist künftig zu unterscheiden von "freiwilligen Angeboten zu Spiritualität und Seelsorge …, um sich mit den eigenen Sinn- und Glaubensfragen des Lebens zu beschäftigen"13.
Hierzu gibt es bei caritativen Trägern viele vorzeigbare Aufbrüche. Sie stehen schon länger vor der Herausforderung, im wohlfahrtsstaatlichen System ihr christliches Selbstverständnis als Teil der fachlichen Arbeit zu reflektieren und zu beschreiben. Entsprechende Handreichungen, Arbeitshilfen sowie Fort- und Weiterbildungen finden sich unter: https://caritas-pastoral.de
1. Der Rat des Verbands der Diözesen Deutschlands hat aktuell eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die eine entsprechende Handreichung zur Umsetzung und zu möglichen Gestaltungsformaten zum institutionsbezogenen Ansatz der neuen Grundordnung erarbeiten soll.
2. Schrage, B.: Christlich managen in säkularen Zeiten. Wer steuert die christliche Unternehmenskultur? In: Koch, C. u. a. (Hrsg.): Mehr als Leitbilder. Ansprüche an eine christliche Unternehmenskultur. Reihe Kirche in Zeiten der Veränderung, Kopp, S. (Hrsg.), Bd. 8, Freiburg: Herder Verlag, 2021, S. 64-86.
3. GrO Art. 3 Abs. 2; hier ist besonders das Engagement und der Mut der Initiative #OutInChurch zu würdigen.
4. Schrage, B.: Der Kirchenaustritt - ein Fall für das Arbeitsrecht und den EuGH? Eine Neujustierung des kirchlichen Selbstverständnisses ist nötig (30.8.2023). Mehr unter Kurzlink: t.ly/Zq7xA (letzter Online-Abruf 18.10.2023).
5. GrO Art. 2 Abs. 2.
6. GrO Art. 3 Abs. 2.
7. GrO Art. 6 Abs. 2.
8. GrO Art. 3 Abs. 4.
9. Vgl. Ebertz, M.; Segler, L.: Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Freiburg i. B., 20161.
10. Schrage, B.: Caritaspastoral - das auch noch! In: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück, 4/2017, S. 108-113.
11. Zu der Thematik "christlich geprägter Professionalität" und entsprechender spirituell-religiöser wie kirchlich-institutioneller Kompetenzen siehe: Schrage, B.: Christliche Identität wandelt sich. Christliche Professionalität: ChrisCare 4/2018, S. 14-16.
12. So die GrO Art. 5 Abs. 1: "Alle Mitarbeitenden haben Anspruch auf berufliche Fort- und Weiterbildung. Diese umfasst die fachlichen Erfordernisse ebenso wie die ethischen und religiösen Aspekte des Dienstes und Hilfestellungen zur Bewältigung der spezifischen Belastungen der einzelnen Tätigkeiten." … Abs. 2: Ziel ist es, "berufs- und tätigkeitsbezogen spezifische religiöse und ethische Kompetenzen erwerben (zu) können".
13. GrO Art. 5 Abs 2.
Migration: Wir brauchen einander
Theologischer Musterwechsel bei Kirche und Caritas
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