Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung: Bessere Chancen für alle Grundschulkinder
Lange stritten sich die Geister, ob es Aufgabe des Bundes sein könne, einen bundesweit geltenden Rechtsanspruch auf Betreuung für Grundschulkinder einzuführen. Denn Grundschulkinder gehen, wie der Name schon sagt, in eine Schule. Und für Schulisches haben im Wesentlichen die Länder die Gesetzgebungskompetenz.
Für die Kinder- und Jugendhilfe aber nicht. Auch die Kindertagesbetreuung beziehungsweise die "Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege" ist im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII), dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, geregelt. Deswegen hat der Bund den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder als Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung gefasst - und im SGB VIII verortet. Der Rechtsanspruch tritt zum 1. August 2026 in Kraft. Er gilt zunächst für Grundschulkinder der ersten Klassenstufe und wird in den Folgejahren um je eine Klassenstufe ausgeweitet. Damit wird ab August 2029 jedes Grundschulkind der Klassenstufen eins bis vier einen Anspruch auf ganztägige Betreuung haben.
Gleichzeitig wurde festgehalten, dass der Rechtsanspruch sowohl durch Angebote der Kinder- und Jugendhilfe als auch durch schulische Angebote erfüllt werden kann.
Der Weg dahin war nicht leicht. Groß war die Sorge der Länder und Kommunen vor einer Klagewelle ob nicht erfüllbarer Ansprüche, groß der Respekt vor den notwendigen Ausbauanstrengungen und dem zusätzlichen Fachkräftebedarf. Doch nun kommt Schwung in den Ausbau. Das ist aus Elternsicht - jenseits aller Kompetenzüberlegungen - auch folgerichtig. Seit 1996 gilt in Deutschland der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Der Rechtsanspruch sollte ursprünglich einmal den Entschluss begünstigen, ungeborenes Leben auszutragen. Er gilt für jedes Kind im Alter vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt. 2013 kam dann der Rechtsanspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege für Kinder unter drei Jahren hinzu. Hauptgrund für seine Einführung war es, Müttern einen früheren Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Tatsächlich hat der Ausbau von Krippenplätzen genau dazu geführt.
Das Vereinbarkeits-Dilemma trifft die Familien aber immer noch, wenn ein Kind von der Kita in die Grundschule wechselt. Selbst wenn ein Elternteil in Teilzeit arbeitet, ist der Betreuungsbedarf mit der Unterrichtszeit allein nicht abgedeckt. Deswegen ist es richtig, Familien mit Grundschulkindern durch ein Angebot ganztägiger Betreuung zu unterstützen. Gleichzeitig lassen sich mit der Einführung des Rechtsanspruchs weitere Ziele verfolgen. So sollen Kinder besser gefördert, soll die Chancengerechtigkeit in der Bildung verbessert werden.
Die Betreuungszahlen sind schon ohne Rechtsanspruch hoch
Ganztägige Betreuung allein bringt aber nicht automatisch bessere Bildung und Förderung mit sich. Wenn dem so wäre, hätte sich in den letzten Jahren mehr in Sachen Bildungsgerechtigkeit getan. Seit 2006 ist die Zahl der Grundschulkinder in Hortbetreuung und ganztagsschulischen Angeboten von etwa 579.000 auf rund 1.634.000 im Jahr 2020 um das 2,8-Fache gestiegen. Aktuell besucht schon mehr als jedes zweite Grundschulkind in Deutschland ein Ganztagsangebot. Dabei ist die Inanspruchnahme von Horten weitgehend konstant geblieben, der Ganztagsschulbereich wurde stärker ausgebaut. 2020 besuchten fast 500.000 Schulkinder im Alter von unter elf Jahren eine Tageseinrichtung der Kinder- und Jugendhilfe gemäß § 24 Abs. 4 SGB VIII (Horte oder Hortgruppen in altersgemischten Einrichtungen). Über eine Million Grundschulkinder nahmen ganztagsschulische Angebote in Anspruch.2
Die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen oder armutsgefährdeten Familien in Deutschland ist dennoch weiterhin eklatant. Und auch insgesamt ist bei den schulisch erworbenen Leistungen keine Verbesserung zu beobachten. Die Fähigkeiten der Viertklässler in den vier Kompetenzbereichen Lesen, Zuhören, Rechtschreibung, Mathematik haben abgenommen. In den zehn Jahren von 2011 bis 2021 sanken sie deutschlandweit um durchschnittlich rund 34 Punkte von 500 auf 466 Punkte.3 Außerdem benötigen immer mehr Kinder psychotherapeutische Hilfe.4
Hier müsste gegengesteuert werden mit ganztägig an den Bedürfnissen der Kinder orientierten Angeboten. Doch schlechte strukturelle Rahmenbedingungen (zu wenig Personal, zu große Gruppen, ungeeignete Räumlichkeiten) führen in der Regel zu geringerer pädagogischer Qualität, in Extremfällen sogar zu Kindeswohlgefährdung. Ganztägige Betreuung ist nur dann von Vorteil, wenn sie gut gemacht ist - sonst kann sie sogar von Nachteil sein. Dies zeigen wissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse - beispielsweise zu Auswirkungen der Fachkraft-Kind-Relation und der Gruppengrößen auf die Entwicklung und das Wohlbefinden der Kinder.
Deswegen setzt sich die Caritas für eine gute Qualität der Ganztagsangebote ein. Zum einen als Träger: Die verbandliche Caritas ist, abhängig von den jeweiligen lokalen Betreuungssystemen, auf unterschiedliche Weise seit vielen Jahren in der Ganztagsbetreuung beziehungsweise Ganztagsförderung involviert, etwa in der Betreuung zu Kernzeiten im Schulalltag sowie als Träger von Horten oder im sogenannten "Offenen Ganztag" an Schulen. Zum anderen in der spitzenverbandlichen Vertretung und als Anwalt für die Kinder.
Qualitätsempfehlungen: ein Vorhaben für 2023
Angebote und Einrichtungsformen müssen am Wohlergehen der Kinder, an ihren individuellen Entwicklungsbedürfnissen und Lebenslagen ausgerichtet sein. Pädagogische Konzepte sind systemübergreifend und sozialraumorientiert weiterzuentwickeln. Außerdem müssen die Angebote inklusiv angelegt werden, um Kindern, die Benachteiligung erfahren, eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Dies steht in einem Debattenpapier des Deutschen Caritasverbandes von 2020,5 in welchem Qualitätskriterien für gute Ganztagsangebote zusammengestellt wurden. Gefordert wird dort auch, die unterschiedlichen Lebenslagen, Rechte, Interessen sowie pädagogischen Bedarfe der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. Damit wird das Ziel der Inklusion deutlich weiter gefasst als in Bezug auf festgestellte Formen einer Behinderung. Auch Kinder mit Migrationshintergrund, Fluchterfahrung oder in prekären Lebensverhältnissen machen Exklusionserfahrungen, denen konzeptionell beziehungsweise pädagogisch begegnet werden muss.
Hierfür ist es notwendig, differenzierte Fach- und Personalkonzepte in multiprofessionellen Teams unter Berücksichtigung des Fachkräftegebots (§ 72 SGB VIII) vorzusehen. Außerdem braucht es einen angemessenen Personalschlüssel, der quantitative und qualitative Notwendigkeiten berücksichtigt entsprechend den jeweiligen pädagogischen Konzepten und der soziodemografischen Schulstruktur.
Damit solche Überlegungen nicht beliebig werden, ist es wichtig, einen ordnungspolitisch wirksamen Rahmen zu schaffen. Dies hatte die Ampelkoalition 2021 eigentlich auch verabredet: So wurde im Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode angekündigt, dass ein bundesweit gültiger Qualitätsrahmen für die Ganztagsförderung von Grundschulkindern erarbeitet und verabschiedet werden soll. Dieser sollte in Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam realisiert werden.
Mittlerweile kristallisiert sich jedoch heraus, dass die Länder die Federführung für dieses Thema übernehmen und sich auf Empfehlungen einigen wollen. Es sind auch die Länder, die aktuell mit dem quantitativen Ausbau der Strukturen beschäftigt sind. Dieser Ausbau erfordert bauliche Maßnahmen wie auch eine Lösung für die Tatsache, dass bereits jetzt keine ausreichend große Zahl an Lehrkräften und anderen pädagogischen Fachkräften zur Verfügung steht. Ein Dilemma, das sich durch erhöhte Qualitätsanforderungen noch verstärken könnte.
Schule und Jugendhilfe machen sich gemeinsam auf den Weg
2023 hat das Land Berlin die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz (KMK) übernommen. Als Schwerpunktthema der KMK-Präsidentschaft wurde die "Qualitative Weiterentwicklung der Ganztagsschule in der Primarstufe" angekündigt,6 wobei auch eine Abstimmung mit der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) verabredet wurde. Deren Jahresschwerpunkt ist die "MitWirkung". Konkret wollen KMK und JFMK ein bundesweit relevantes Papier mit Qualitäts-Empfehlungen für die Ganztagsangebote für Grundschulkinder erarbeiten. Alle Angebotsformen, also auch die Horte, sollen dabei mit berücksichtigt werden.7 Ein erster Entwurf soll im Rahmen einer gemeinsamen Konferenz von JFMK und KMK im Mai 2023 vorgelegt werden. Dann wird sich zeigen, ob damit eine verbindlichere Rahmung des Ganztags eingeleitet wird, wie sie zum Beispiel Gesetze und Verordnungen der Länder bieten. Erfreulich ist in jedem Fall, dass die Qualitätsfrage von Kultusministerien und Jugend- und Familienministerien gemeinsam angegangen wird. Frei nach dem Motto: Kindererziehung braucht ein ganzes Dorf.
Anmerkungen
1. BMFSFJ: Kindertagesbetreuung Kompakt Ausbaustand und Bedarf 2020, S. 45.
2. BMFSFJ: Kindertagesbetreuung Kompakt Ausbaustand und Bedarf 2020, S. 42 f.
3. Vgl. IQB-Bildungstrend 2021, https://bit.ly/3YDZZmy
4. Vgl. z. B. Barmer Arztreport 2021.
5. Vgl. Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter - Debattenbeitrag des DCV. Juli 2020.
6. Zitat aus: Pressemitteilung Kultusministerkonferenz vom 8. Dezember 2022.
7. So kolportiert auf einer von BMFSFJ und BMBF ausgerichteten Dialogveranstaltung am 28.2.2023 in Berlin.
Trägervielfalt ist wichtig
Fördermittelmanagement: Die Mittel sind vorhanden
Nie war Kollaboration einfacher
Gut verzahnt im Ganztag
Offene Ganztagsschule Hombüchel, Wuppertal (NRW)
„ISBA“: Ganztagsbildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Köln
Sankt-Antonius-Schule, Wuppertal (Nordrhein-Westfalen)
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