Teilhabe für wirklich alle: Dafür braucht es ein Konzept
Die deutschen Landkreise und kreisfreien Städte stehen vor enormen Herausforderungen: Sie müssen die regional höchst unterschiedliche demografische und sozioökonomische Entwicklung samt ihren Konsequenzen bewältigen, die Daseinsvorsorge organisieren und Einwohner(innen) mit schlechten Teilhabechancen in die Stadt- oder Dorfgesellschaft integrieren. Dabei befindet sich im Werkzeugkoffer der Kreise und Städte ein politisches Instrument, mit dem sie das Leben aller Bewohner(innen) verbessern können: ein teilhabeorientiertes Integrationskonzept, das allen Unterstützung bietet, die sie benötigen.
Gerade ländliche Regionen können davon profitieren, wenn mehr Menschen zuziehen und damit die Dörfer und Kleinstädte wiederbeleben. Doch bemühen sich die Verantwortlichen in den Rathäusern um neue Einwohner(innen) mit Migrationsbiografie, stößt dies nicht selten auf Ablehnung. Vor allem in Regionen mit geringen Teilhabechancen kann bei den Alteingesessenen das Gefühl entstehen, dass Neuankömmlinge Unterstützung erhalten, die ihnen selbst verwehrt geblieben ist.
Viele Landkreise und Gemeinden versuchen daher mit vielfältigen Konzepten und Maßnahmen, nicht nur die Zugewanderten zu integrieren, sondern die Teilhabechancen aller zu verbessern.
Eine Integrationspolitik, die auf Teilhabe für alle abzielt, hat das Potenzial, die Trennung zwischen Menschen mit Migrationsbiografie und Alteingesessenen zu überwinden. Sie rückt die wichtigste Frage in den Vordergrund: Wer braucht was, um gleichberechtigt am Stadt- oder Dorfleben teilzunehmen? Vor diesem Hintergrund untersuchte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in seiner von der Stiftung Mercator geförderten Publikation "Alle sollen teilhaben"1, wie Landkreise und kreisfreie Städte ihre Integrationsarbeit gestalten und gleichzeitig die Teilhabechancen vor Ort in den Blick nehmen.
Integrationsarbeit mit Konzept
Die Publikation zeigt, dass die Hälfte der 401 Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland Integration und Teilhabe bereits systematisch angehen. So haben 221 von ihnen ein Integrationskonzept oder inhaltlich gleichwertiges Papier erstellt. Davon stellen 149 klar, dass es ihnen bei Integration im Kern um die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen geht.
Besonders in der Stadt sind Integrationskonzepte bereits die Regel. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass dort schon lange eine internationale Bevölkerung lebt. Seit der hohen Fluchtzuwanderung 2015/16 ist aber auch auf dem Land ein Wandel zu beobachten, der dazu führt, dass immer mehr Kreise Integrationskonzepte veröffentlichen - mehr als drei Viertel davon in ihrer aktuellen Form seit 2016 (vgl. Abb. 1, unten). Die Beratungs- und Integrationsangebote von Trägern der freien Wohlfahrtspflege sind Teil einiger dieser Konzepte
Fördermittel in einigen Ländern
Integrationskonzepte liegen insbesondere dort vor, wo die Landespolitik Anreize wie Fördergelder bereitstellt und der Lokalpolitik beratend zur Seite steht. So haben etwa in Nordrhein-Westfalen alle Landkreise und kreisfreien Städte nach Einführung des Teilhabe- und Integrationsgesetzes im Jahr 2012 neue Konzepte entwickelt. Liegt ein Integrationskonzept vor, fördert das Land hier sogenannte Kommunale Integrationszentren. Diese koordinieren und unterstützen die Integrationsarbeit vor Ort.2 Ein weiteres Beispiel ist das Programm "WIR - Vielfalt und Teilhabe" in Hessen.3 Hessische Kommunen mit 10.000 bis 50.000 Einwohner(inne)n können seit 2014 Fördergelder für die Erstellung eines Integrationskonzepts beantragen.
Viele Gemeinden und Kreise sind auf solche Fördermittel angewiesen, weil die Erstellung eines Integrationskonzepts sehr aufwendig sein kann. Zum Beispiel organisierte die Region Hannover 2014 eine Auftaktveranstaltung mit 200 Teilnehmenden, bevor Mitarbeitende über 19 Monate Hunderte Expert(inn)en aus 713 Vereinen, Verbänden und anderen relevanten Organisationen befragten. Doch Politik und Verwaltung beteiligen nicht überall so viele Expert(inn)en und Interessierte, um ihre Integrationsarbeit zu planen.4 Viele Kommunen mit klammen Kassen können sich aber auch ein weniger aufwendiges Verfahren nicht leisten. Daher sind es oft die Landkreise, die für ihre Kommunen ein Integrationskonzept erstellen.5 Sie verfügen eher über das nötige Geld und Personal, um Konzepte anzuregen und Beteiligungsverfahren zu organisieren.
Integrationskonzepte sollen die Teilhabe insgesamt fördern
Kreise und Gemeinden halten in den Konzepten Leitlinien und konkrete Maßnahmen für die lokale Integrationsarbeit fest (s. dazu Abb. 2, oben). Mehr als die Hälfte der teilhabeorientierten Integrationskonzepte nennen Arbeit, Bildung, Sprache, Wohnen und Gesundheit als wichtige Handlungsfelder. Kreise und Städte fragen sich etwa, wie sie Menschen besser zu einer ihrer Qualifikation entsprechenden Beschäftigung verhelfen oder allen Kindern gleiche Chancen auf einen guten Bildungsabschluss bieten können.
Auf Konzepte sollten Taten folgen
In ihren jeweiligen Handlungsfeldern nehmen sich die Landkreise und kreisfreien Städte einen umfassenden Maßnahmenkatalog vor. Der thüringische Landkreis Schmalkalden-Meiningen etwa organisiert Schulungen zur interkulturellen Kompetenz für Verwaltungsmitarbeitende, fördert ein Begegnungszentrum für alle und bietet Unterstützung bei der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs an.6 Damit reagiert die Politik auf die ungleichen Teilhabechancen von Menschen mit Migrationsbiografie und alteingesessenen Bewohner(inne)n zugleich. Eine teilhabeorientierte und inklusive Ausrichtung der Integrationsarbeit kann so auch in Regionen mit geringen Teilhabechancen eine Verbesserung der Lebensbedingungen für viele Menschen anstoßen.
Bei vielen Konzepten klaffen jedoch Anspruch und Wirklichkeit noch weit auseinander. Oft nennen sie Teilhabe für alle als wichtiges Ziel, richten sich mit ihren Maßnahmen aber nach wie vor nur an Zugewanderte oder lassen offen, ob auch andere Gruppen davon profitieren könnten. Außerdem weisen längst nicht alle Regionen mit geringen Teilhabechancen ein Integrationskonzept vor. Das bedeutet, dass dieses Instrument dort noch nicht umfassend genutzt wird, wo es besonders großes Potenzial besitzt - etwa in vielen ländlichen und strukturschwachen Regionen, wo junge Menschen häufig keine Perspektiven für sich sehen und in die Großstädte abwandern.7
Dabei können teilhabeorientierte Konzepte eine wichtige Bewältigungsstrategie im demografischen Wandel sein. Die Konzepte schaffen einen Rahmen dafür, dass neu Zugewanderte gut in der Stadt oder auf dem Dorf ankommen. Gleichzeitig enthalten sie Angebote für all diejenigen, die ebenfalls Unterstützung benötigen. Langfristig können sie so helfen, die Lebensverhältnisse vor Ort zu verbessern und zugleich die Attraktivität der Gemeinden zu steigern - durch ein Klima, das neue Mitbürger(innen) willkommen heißt und Alteingesessene am Ort hält.
Anmerkungen
1. Download: www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/alle-sollen-teilhaben; die Publikation ist Teil eines größeren Forschungsprojekts, in dem das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung über anderthalb Jahre die Integrationsarbeit in zwölf Gemeinden aus sechs verschiedenen Landkreisen mit einem teilhabeorientierten Ansatz untersuchen wird. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung Mercator.
2. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Steuern, was zu steuern ist: Was können Einwanderungs- und Integrationsgesetze leisten? Jahresgutachten 2018. Download: www.svr-migration.de/publikationen/jahresgutachten_2018
3. Ministerium für Soziales und Integration Hessen: Vielfältige Fördermöglichkeiten im Landesprogramm WIR. 2018. Kurzlink: https://bit.ly/3xcn1mW (27.7.21).
4. Region Hannover Koordinierungsstelle Integration: Vielfalt und Zusammenhalt. Integrationskonzept der Region Hannover. Hannover, 2016.
5. Münch, C.; Schreiner, F.: Kommunale Integrationspolitik: Zusammenarbeit von Landkreisen und angehörigen Gemeinden sowie Städten stärken. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung, 2019.
6. Landkreis Schmalkalden-Meiningen: Konzept zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Schmalkalden-Meiningen, 2019.
7. Vgl. die gemeinsame Studie des Deutschen Caritasverbandes und des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung "Demografischer Wandel - die Caritas packt’s an", Download: https://bit.ly/3oDW1fd
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