Führung braucht Persönlichkeiten
Gerade in Zeiten von Corona wurde eindringlich vor Augen geführt, wie wichtig persönliche Beziehungen für die Bewohner(innen) stationärer Pflegeeinrichtungen, für Patient(inn)en in Krankenhäusern sowie Klient(inn)en der ambulanten Pflege sind.
Die Profession Pflege hat den Anspruch, Beziehungen gerade dort gestalten zu können, wo existenzielle Lebenskrisen bisherige Lebensentwürfe pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen zumindest vorübergehend infrage stellen. Dazu braucht es innerhalb der Organisation ein Führungssystem, das Mitarbeitenden Freiräume ermöglicht, ihre eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Um diesen Anspruch erfüllen zu können, bedarf es einer Entfaltung der Führungspersönlichkeit, die einerseits zur Empathie mit den pflegebedürftigen Menschen befähigt, verbunden mit der Reflexions- und Kritikfähigkeit des eigenen Handelns. Andererseits muss diese professionelle Grundhaltung an den gegebenen organisationalen Vorgaben und institutionellen Rahmenbedingungen ausgerichtet werden, so dass eine optimale Versorgung gewährleistet werden kann. Führen und Leiten sind in diesem Sinne somit deutlich mehr als technisch-instrumentelle Tätigkeiten. Diese Form der reflexiven Professionalität1 stellt an die Führungskräfte und Träger von Einrichtungen einen hohen Anspruch, der aber der entscheidende Faktor bei der Personalgewinnung sein wird und der der entscheidende Vorteil im Feld der Mitbewerber(innen) in Anbetracht der derzeitigen Arbeitsmarktsituation ist.
Wenn die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen zum Angleichen der ökonomischen Voraussetzungen führen (sichtbar beispielsweise bei den Leistungsentgelten in der ambulanten Pflege oder den diagnosebezogenen Fallgruppen (DRGs) im Krankenhaus), entscheidet die Führungsqualität über die Qualität der Mitarbeitenden und daraus resultierend über eine erlebbare Qualität bei den Dienstleistungsempfänger(inne)n.
Führungskräfte in der Pflege: vier relevante Felder
Die Weiterbildung zur Leitung einer Pflege- und Funktionseinheit im Diözesan-Caritasverband (DiCV) Trier ist eine staatlich anerkannte und seit September 2021 auch durch die Pflegekammer Rheinland-Pfalz akkreditierte Bildungsmaßnahme für leitende Angestellte in den Einrichtungen und Diensten der Gesundheits- und Altenhilfe. Sie hat einen Umfang von 720 Stunden und fußt auf dem Grundkonzept von Personalität, reflexiver Professionalität und situationsdynamischem Ansatz von Führung.2 Dieses komplexe Verständnis von Führung stützt sich auf die These, dass Führung auf vier relevanten Feldern in der Lage sein muss, zu interagieren.
Auf der ersten Ebene der Mitarbeiter(innen) besteht der Anspruch, in tragfähigen Arbeitsbündnissen Vertrauen in deren Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, aber auch das Vertrauen in sich selbst, dysfunktionale Haltungen und Handlungen infrage zu stellen und falls erforderlich konflikthaft zu thematisieren.
Auf der zweiten Ebene von Gruppen gilt es, kollektive Deutungsmuster, wie sie sich in beruflichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern zeigen, zu erkennen und für die Organisation nutzbar zu machen. Im Sinne der Koordination besteht der Anspruch an Führung, unterschiedliche Sichtweisen und Handlungsmuster zum Nutzen der pflegebedürftigen Menschen zu einer hochwertigen personengebundenen Dienstleistung zu bündeln und die Erfahrung, aus Differenzen zu lernen, produktiv für organisationale Lernprozesse zu nutzen. Für die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind berufliche "Wissenssilos", wie sie der Schweizer Thinktank "Careum" in seinem Workpaper 7 zur Gesundheitsbildung im 21. Jahrhundert bezeichnet, aufzubrechen und für die interdisziplinäre Zusammenarbeit fruchtbar zu machen.3 So ist es wesentlich, die Handlungslogiken der Kooperationspartner aus anderen Versorgungsbereichen kennenzulernen und in der Differenz anschlussfähig zu werden.
Führung muss entscheiden
Auf der dritten Ebene der Organisation im Sinne eines sozialen Systems zur Lösung eines Problems gilt es, Entscheidungsprozesse zu initiieren. Da Organisationen hochdynamisch mit ihren relevanten Umwelten interagieren, besteht in der Führungsfunktion die zentrale Herausforderung, zu erkennen, wie viel Routine (Struktur) notwendig ist, um den Alltag zu sichern, und wie viel Innovation (Prozesse), um die Zukunft zu bewältigen. Die Kunst des Führens besteht somit in einer reflexiven Fähigkeit, die Ambivalenz zwischen Struktur und Prozess auszuhalten, zwischen Loyalität gegenüber den Organisationsregeln und kreativen Regelbrüchen zu unterscheiden und dies in die Gestaltung der Organisation rückzubinden.4
Auf der vierten Ebene der Referenzsysteme, die von Führung im Sinne struktureller Kopplung mitbearbeitet werden muss, liegen die institutionellen Rahmungen, die in die Organisationen eingebettet sind. Caritative Organisationen referieren bezüglich ihrer Wertehaltung zur kirchlichen Soziallehre. Die Trinität von Personalität, Solidarität und Subsidiarität gilt es seit der Enzyklika Rerum Novarum5, immer wieder an sozialpolitische und gesellschaftliche Veränderungen und die daraus resultierenden sozialen Fragen anzupassen. Mitarbeiter(inne)n in einer Führungsfunktion fällt damit ein politisches Mandat dahingehend zu, dass sie sensibel und offen für gesellschaftliche Fragen sind, sie aber auch aus ihrer Verantwortung für die Organisation relevante Frage- und Problemstellungen in den gesellschaftlichen und (kirchen-)politischen Diskurs einbringen und diesen mitgestalten.
Die komplexen Zusammenhänge von personaler Ebene bis zur Ebene der Referenzsysteme legen nahe, dass Führung nicht mehr ausschließlich mit Vorstellungen einer Führungskraft, die im Lewin’schen Sinne6 zwischen Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung ihr Führungsmodell entwickelt, bewerkstelligt werden kann. Den Ausgangspunkt bildet vielmehr die eigene Persönlichkeit der Führungskraft, die die Funktion "Führung" situativ im jeweiligen Kontext gestaltet.
Theorie und Praxis lernen voneinander
Um Führung als beobachtbares und erlernbares Führungshandeln auf dem Hintergrund der komplexen Zusammenhänge von personaler Ebene bis hin zur Ebene der Referenzsysteme begreifen und nutzen zu können, haben diese Überlegungen in der didaktischen Ausrichtung der Weiterbildung zentrale Bedeutung.
Aus der Perspektive des Bildungsauftrages einer arbeitsplatzorientierten Qualifizierung für Führungskräfte - respektive Führungspersönlichkeiten - ergibt sich vordergründig das Spannungsfeld
◆ Persönlichkeitsentwicklung (im emanzipatorischen Sinne)7;
◆ betrieblicher Kontext (mit dem Anspruch auf (An-)Passung)8;
◆ Praxisort Führungssystem (mit dem Anspruch Entscheidungsfähigkeit)9.
Diese triadische Grundstruktur wird für eine zeitgemäße Erwachsenenbildung adaptiert, um daraus drei grundlegende Kompetenzbereiche für Führungspersönlichkeiten zu beschreiben:
◆ Reflexionsfähigkeit (personale Ebene),
◆ Entscheidungsfähigkeit (Praxis-Ebene),
◆ Begründungsfähigkeit (Theorie-Ebene).
Um diese Führungskompetenzen auszubilden und letztlich in Performanz am Arbeitsplatz münden zu lassen, dient das Konzept der Situationsdynamik mit Blick auf das "Ich", das "Wir", die "Sache" und die "Intention" innerhalb des Kontextes im Hier und Jetzt.10
Die Funktionsweiterbildung "Führen und Leiten einer Pflege- oder Funktionseinheit in der Akut- und Langzeitpflege" im Diözesan-Caritasverband Trier ermöglicht diese Kompetenzentwicklung neben der fortlaufenden Relationierung der Praxis durch Theorie und umgekehrt durch die Formate der Supervision, Lerntriaden, individuelle Lernberatung, Projektarbeit, gruppendynamisches Training und Führungs- und Organisationstraining.
Anmerkungen
1. Euschen, H.: Gastbeitrag. In: Lorenz, F.; Schwarz, M.: Führen als organisationale Funktion und personale Haltung. Mit Kommentaren und Beiträgen von Bernd Dewe, Herbert Euschen und Peter Fuchs. Verlag Dr. Kovač, 2012, S. 253-261.
2. Caritasverband für die Diözese Trier e. V.: Unveröffentlichtes Modulhandbuch zur Funktionsweiterbildung Führen und Leiten einer Pflege- oder Funktionseinheit in der Akut- und Langzeitpflege. Trier, 2022.
3. Sottas, B. et al.: Umrisse einer neuen Gesundheitsbildungspolitik. Careum working paper 7. Careum Stiftung, 2013. Kurzlink: https://bit.ly/3GHffXd
4. Kühl, S.: Brauchbare Illegalität - Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt: Campus Verlag, 2020.
5. Papst Leo XIII.: Rerum Novarum, 1891.
6. Lewin, K.: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Bern: Hans Huber, 1963.
7. Meyer, M. A.; Meyer, H.: Klafki, W.: Eine Didaktik für das 21. Jahrhundert? Weinheim: Beltz Verlag, 2007.
8. Lorenz, F.; Schwarz. M.: Führen als organisationale Funktion und personale Haltung. Mit Kommentaren und Beiträgen von Bernd Dewe, Herbert Euschen und Peter Fuchs. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2012.
9. Luhmann, N.: Organisation und Entscheidung. Wiesbaden: VS Verlag, 2011.
10. Lorenz, F.: Situationsdynamik: eine Rekonstruktion des sozialphänomenologischen Ansatzes nach Herbert Euschen - systemtheoretisch beobachtet. Heidelberg: Carl Auer Verlag, 2022.
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