Streik als Ultima Ratio in kirchlichen Einrichtungen
Aktuelle Anfragen an den sogenannten Dritten Weg betreffen auch die Frage nach dem Streik. Es lohnt sich, einen Blick auf die Tradition der katholischen Soziallehre (KSL) und deren Positionierung zum Thema Streik zu werfen, zumal auch der Entwurf für eine Neufassung der Grundordnung (6. Mai 2022) ausdrücklich auf die KSL rekurriert.
Im Diskurs werden unterschiedliche Vorbehalte gegenüber dem Streik in kirchlichen Einrichtungen angeführt:
◆ Kirchenvertreter betrachten den Streik oft als Relikt des Klassenkampfes, als "sozialistisches Kuckucksei"1 , das in kirchliche Einrichtungen geschmuggelt werden soll.
◆ Die katholische Kirche könne in ihren Einrichtungen Streik nicht zulassen, weil es für sie ein anderes Mittel gebe, um Streitigkeiten zu beheben; sie sei konsensorientiert.
◆ Es sei nicht mit dem Sendungsauftrag der katholischen Kirche vereinbar, die Glaubensverkündigung und ihr caritatives Wirken wechselseitigem Druck auszusetzen.
◆ Weiterhin gehöre zum Streik immer auch die Möglichkeit des Arbeitgebers zur Aussperrung, das heißt, der Arbeitgeber verwehrt der Belegschaft den Zugang zur Arbeit und zahlt ihnen in dieser Zeit keinen Lohn. Die Caritas aber könne sich einen derartigen Schritt im sozialen und pflegerischen Bereich nicht vorstellen.
◆ Im sozialen und pflegerischen Bereich, wo es direkt um die Zuwendung zu Menschen geht, könne und dürfe man nicht streiken, da dies gegebenenfalls zulasten der Menschen gehe. Hier sei die Daseinsvorsorge aller Betroffenen tangiert.
Auf der anderen Seite der Debatte wird betont, dass …
◆ … der Streik ein Grundrecht ist (Artikel 9 Absatz 3 GG). Mit welcher Begründung wird dieses Grundrecht den kirchlichen Mitarbeiter:innen vorenthalten?
◆ … die Menschen in ihrem politischen und gesellschaftlichen Alltag erfahren haben, was ein freiheitliches, selbstbestimmtes Leben mit eigenen Rechten bedeutet. Von daher sind sie nicht mehr länger bereit, in ihrer "kirchlichen Existenz" genau die gegenteilige Erfahrung zu machen.
◆ … sich auf der Basis des kirchlichen Arbeitsrechts eine Unternehmenskultur fernab all der arbeitsweltbezogenen Standards der Gesellschaft entwickelt.
Streik und katholische Soziallehre
Passt der Streik mit Blick auf die Tradition der katholischen Soziallehre in den Kontext des kirchlichen Arbeitsrechts?
In der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum (RN, 1891) bezeichnet Papst Leo XIII. den Streik als Übel (vgl. RN 31), aber zugleich verurteilt er ihn nicht vollends, denn er sieht die Missstände, um die es den Streikenden geht, und auch die Berechtigung der Forderungen. Die Rede von den Missständen bezieht sich auf die miserablen Arbeitsbedingungen. Streik hat also seine Legitimation im Hinblick auf die Forderung nach menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.
Im Konzilsdokument Gaudium et spes (GS)von 1965, ist die Rede davon, dass immer zunächst eine friedliche Lösung im Konsens gesucht werden muss. Das aber ist eine prinzipielle Forderung an alle Arbeitnehmer:innen und Betriebe. Warum also sollte die Kirche deswegen in ihren Einrichtungen einen anderen Weg wählen? Die Kirche könnte hier allerdings zum Leuchtturm werden.
Das zweite relevante Element aus GS ist das vom Streik als Ultima Ratio. Streik ist kein beliebiges Instrument, sondern ist als letzter Behelf zu werten, von dem aus man möglichst zügig an den Verhandlungstisch zur Konsenssuche zurückkehren soll.
Papst Johannes Paul II. ergänzt in seiner ersten Sozialenzyklika Laborem exercens (LE, 1981) zwei weitere Aspekte: zum einen das Recht auf Streik, das nur durch eine entsprechende Ordnung garantiert werden kann. Zum anderen wird der Bezug zum Gemeinwohl hergestellt. Hier wird zwar eigens die Daseinssicherung erwähnt - aber offensichtlich als Bedingung, nicht als Gegenargument. Weiterhin ist zu beachten, dass der Arbeitskampf nach Johannes Paul II. kein Kampf gegen andere ist, sondern Engagement für soziale Gerechtigkeit, "für die berechtigten Ansprüche der Arbeitenden in den verschiedenen Berufen" (LE 20).
In Centesimus annus (1991) fordert Johannes Paul II. letztlich eine rechtsstaatlich und sozialstaatlich abgesicherte, einklagbare Rahmenordnung für gute Arbeit, also auch eine entsprechende Institutionalisierung des Streiks im Einsatz für ein Mehr an Gerechtigkeit. Dem widerspricht der Dritte Weg mit der spezifischen Verantwortung für eine faire Konfliktlösung innerhalb der Dienstgemeinschaft sicher nicht insgesamt. Wenn aber ein Vermittlungsverfahren nicht erfolgreich ist, könnte ein Streik (im Sinne der Ultima Ratio) den Forderungen Nachdruck verleihen.
Als Kriterien der Tradition der KSL für einen geordneten und erlaubten Streik sind also festzuhalten:
◆ menschenwürdige Arbeitsbedingungen;
◆ Lösung im Konsens;
◆ Ultima Ratio;
◆ Recht auf Streik;
◆ Gemeinwohl als Begrenzung der Streikberechtigung;
◆ soziale Gerechtigkeit;
◆ rechts- und sozialstaatlich abgesicherte Rahmenordnung.
Einwände gegen Streik in kirchlichen Einrichtungen nicht tragfähig
Was ist vor diesem Hintergrund den eingangs genannten Einwänden dem Streik in kirchlichen Einrichtungen gegenüber zu entgegnen?
◆ Dass Streik ein sozialistisches Kuckucksei sei, den Kirchen ins Nest gelegt, kann angesichts der differenzierten, letztlich aber im Sinne einer Ultima Ratio positiv ausfallenden Wertung des Streiks in den Dokumenten der KSL ausgeschlossen werden. Der Blick in die Geschichte der KSL und Sozialethik zeigt, dass es bis zur Akzeptanz des Streiks ein langer Weg war. Aber es gab und gibt nicht nur die Position, die den Streik höchstens zähneknirschend in Kauf nahm, sondern auch diejenigen, die die Möglichkeit des Streiks sozialethisch begründet.
◆ Dass die konstruierte Alternative von Streik bei weltlichen Aushandlungen einerseits und Konsensorientierung in kirchlichen Einrichtungen andererseits so nicht haltbar ist, wurde deutlich, gibt doch GS den Hinweis darauf, dass immer erst der Weg des Konsenses zu suchen sei, auch im weltlichen Recht.
◆ Dass der Streik im Widerspruch zum Sendungsauftrag stehe, ist ein ernst zu nehmender Einwand, geht es doch hier um den zentralen Anspruch caritativer Einrichtungen, Anteil zu haben am Auftrag der Kirche zur "zeichenhafte(n) Verwirklichung des Reiches Gottes in der Welt"2. Dieser Sendungsauftrag gilt aber nicht nur denen gegenüber, für die in den Einrichtungen gesorgt wird, sondern auch den Mitarbeiter:innen gegenüber. Der Sendungsauftrag ist folglich nicht geeignet als Grund für das Verbot eines bestimmten Instrumentes, sondern als Leitplanke für einen Weg, auf dem man mit unterschiedlichen Hilfsmitteln, gegebenenfalls auch mit Streik, unterwegs sein kann.
◆ Dass aufgrund der prinzipiellen Möglichkeit von Aussperrung auch der Streik nicht in den kirchlichen Kontext passt, stimmt nur dann, wenn man ein untrennbares Junktim zwischen Streik und Aussperrung annimmt. Beides steht aber nicht in zwangsläufiger oder quasi naturgesetzlicher Folge. Hier liegt eine große Herausforderung für die weiteren Überlegungen.
◆ Dass es einen Notfallplan geben und die Daseinsvorsorge gesichert sein muss, wird von Johannes Paul II. in LE deutlich herausgestellt, wenn er das Gemeinwohl als zentralen Orientierungspunkt betont. Aber dabei handelt es sich nicht um ein Spezifikum kirchlicher Einrichtungen.
Es geht um den Menschen
Wenn die Mittelpunktstellung des Menschen bei der Sorge um menschenwürdige Arbeitsbedingungen zentral ist, dann spielen in der Konsequenz auch das Subsidiaritäts- und das Solidaritätsprinzip eine wichtige Rolle: Ersteres besagt, dass jeder Einzelne und alle kleineren Einheiten verpflichtet sind, aber auch die Berechtigung haben, die Angelegenheiten, die sie angehen, auch selber zu erledigen, und dass erst in einem zweiten Schritt, wenn die Selbsthilfefähigkeit nicht mehr, noch nicht oder überhaupt nicht ausreicht, die nächsthöhere Einheit subsidiäre Hilfe leisten darf und muss. Die Wahrnehmung dieser Eigenverantwortung der kleineren Einheit ist genau das, was die Menschen tun, wenn sie streiken: Sie solidarisieren sich (hier wird das zweite Prinzip realisiert) und engagieren sich für menschenwürdigere und gerechtere Arbeitsbedingungen. Nun ist Solidarität auch im Blick auf die Gesamtgesellschaft zu üben - es geht um das Gemeinwohl. Dass hier Solidarität besonders mit denen gefordert ist, die auf die Versorgung und Fürsorge durch Mitmenschen angewiesen sind, dass folglich die basale Versorgung in der Gesellschaft garantiert bleiben muss, ist eine klare Grenze der Streikmöglichkeiten. Aber ein "sozialistisches Kuckucksei" ist der Streik nicht - er steht vielmehr als Ultima Ratio in untrennbarem Zusammenhang mit den Grundpfeilern christlicher Soziallehre.
Wie glaubwürdig ist Kirche?
Eine abschließende Überlegung zur Frage der Glaubwürdigkeit der Kirche: Lange war klar, dass die Kirche ihre Soziallehre auf die Gesellschaft hin entwirft, sich selbst aber als ein Sozialgebilde besonderer Art versteht, das eine eigene Ordnung hat. Aber entbindet dieses Proprium sie davon, die Maßstäbe, die sie für die Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftswelt ad extra formuliert hat, in ihren eigenen Kontexten, also ad intra, einzufordern und anzuwenden? Das, was die Kirche in die Gesellschaft hinein kommuniziert hat, kann jener nun wiederum ad intra als Good-Practice-Beispiel dienen. Die Kirche kann und muss von der Gesellschaft lernen, besonders das, was sie ursprünglich dort eingespeist hat, was ihr aber intern oftmals fremd geblieben ist. Die Kirche könnte im "Fremdlernen" von der Gesellschaft innerhalb ihrer internen Strukturen ihre eigene Soziallehre endlich einholen.
Anmerkungen
1. Arnd Küppers, stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Rezension zu Priddat, B.P.: Leistungsfähigkeit der Sozialpartnerschaft in der Sozialen Marktwirtschaft. Marburg: Metropolis, 2011. In: AMOS. Internationale Zeitschrift für Christliche Sozialethik Heft 4/2012, S. 51 f.
2. Entwurf für die Grundordnung vom 6. Mai, Art. 2 Abs. 1.
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