Digitalisierung und Teilhabe – passt das zusammen?
Digitalisierung durchdringt mittlerweile alle gesellschaftlichen Bereiche, sei es kollaboratives Arbeiten, vernetzte Bildungswelten oder digitales Engagement. Soziale und digitale Teilhabe bedingen einander in immer stärkerem Maße. Diese Entwicklung bietet breiten Raum für Chancen zur Teilhabe, aber auch enorme Exklusionsrisiken, insbesondere für Menschen mit Behinderung. Daher stellt sich die Frage: Wie beeinflusst Digitalisierung die Teilhabe von Menschen mit Behinderung?
Zu diesem Zweck wurde vom Sinus-Institut im Auftrag von Aktion Mensch eine auf einem dreistufigen Forschungsdesign basierende Studie durchgeführt. Im ersten Schritt werden einschlägige Daten zu gesellschaftlichen Trends im Kontext von Digitalisierung aufbereitet und entsprechende Implikationen abgeleitet. Im zweiten Schritt ist die Trendexpertise um die Perspektive unterschiedlicher Handlungsfelder erweitert worden. Dazu wurden zwölf Expert:innen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft in einstündigen Telefoninterviews befragt. Im dritten Schritt erfolgte die Exploration der Fragestellungen und der jeweiligen identifizierten Trends und Treiber bei 43 qualitativen Face-to-Face-Tiefeninterviews mit Menschen im Alter von 20 bis 68 Jahren mit Seh-, Hör- oder Mobilitätseinschränkung, Lernschwierigkeiten oder chronischer psychischer Erkrankung.
Unter digitaler Teilhabe versteht man zunächst einmal Teilhabe an entsprechenden Technologien, das heißt, dem einfachen und sicheren Zugang zu digitalen Medien mit dem Ziel, deren souveräne Nutzung zu ermöglichen. Weiter gibt es Teilhabe durch digitale Technologien, die alternative Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Bereichen und Ausgleich von Behinderung ermöglichen. Indem Beeinträchtigungen kompensiert werden, sollen damit mehr Lebensqualität und bessere Chancen erreicht werden. Drittens umfasst digitale Teilhabe die Teilhabe in digitalen Technologien, das heißt Vernetzung, (politischer) Partizipation und Selbstbestimmung sowie bürgerschaftlichem Engagement durch Präsenz und Mitgestaltung in digitalen Medien.
Wie tangieren Trends die digitale Teilhabe?
Bei den Treibern der Entwicklung sehen wir einen wahren Trend-Dschungel, beispielhaft seien hier einige Trends genannt, die positiv, neutral oder aber auch hinderlich für die Teilhabe sind. Positiv wirken sich laut Expert:innen die gesellschaftlichen Strömungen demografischer Wandel, Diversität und Wissenskultur aus. Auch Treiber wie Assistenz (Sensorik, Bionik, Robotik), Autonomie oder Vernetzung können positive Effekte haben. Bei Virtual Reality, Automatisierung oder Personalisierung können sowohl Pros wie auch Contras festgestellt werden. Negative Auswirkungen werden mit Blick auf den Umgang mit Daten sowie die weit verbreiteten Beschleunigungsprozesse vermutet.
Ähnliche Beeinträchtigungen, aber unterschiedliche (digitale) Welten
Bei den Auswirkungen ist es essenziell, Menschen mit Behinderung nicht als homogene Gruppe zu betrachten, weder in Bezug auf die Beeinträchtigungsarten noch in Bezug auf ihre Lebenswelten. In der empirischen Betrachtung des digitalen Alltags der interviewten Menschen in den unterschiedlichen Beeinträchtigungskategorien zeigt sich einerseits, dass sich die prinzipielle Nutzung gängiger digitaler Technologien nicht von der der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Dies betrifft sowohl die Ausstattung mit Geräten wie die Nutzung verschiedener Anwendungen. Andererseits ist wie auch bei Menschen ohne Beeinträchtigung die grundsätzliche Affinität zu Technologien, die Bereitschaft, sich Digitalisierungsangeboten zu öffnen, die Souveränität im Umgang mit und die Nutzungsintensität von diesen Angeboten, lebensweltlich unterschiedlich ausgeprägt.
Neben den für eine Beeinträchtigung spezifischen Bedarfen und Wünschen existieren solche, die über alle Gruppen der Interviewten hinweg geäußert wurden. So wünscht man sich eine zentrale Anlaufstelle zur Informationsbeschaffung, vor allem über Hilfsmittel und finanzielle Unterstützung. Zudem bedeutet Inklusion für viele insbesondere Teilhabe an Bildung und am Arbeitsmarkt. Hier fehlen Kenntnisse über Rahmenbedingungen und technische Möglichkeiten. Autonome Mobilität ist für alle Befragten höchst erstrebenswert, sie bedeutet Unabhängigkeit und Teilhabe, etwa durch autonomes Fahren.
Zudem konnte festgestellt werden, dass der Zeitpunkt des Eintretens der Behinderung sehr wichtig für die Erwartungen ist. Menschen, die ab Geburt beeinträchtig sind, wünschen sich oft eine Verbesserung der Lebensqualität. Menschen, bei denen die Behinderung später eintritt, wünschen sich häufig, in den Ausgangszustand zurückversetzt zu werden.
Die Chancen überwiegen
Wenig überraschend sind die Expert:innen und die Menschen mit Behinderung nicht in allen Punkten einer Meinung. Aber insgesamt urteilen sie, dass es mehr Licht als Schatten gibt, das heißt, beide sehen generell mehr Chancen als Risiken in der Digitalisierung. Auch besteht weniger digitale Ernüchterung als in der Gesamtbevölkerung. Die wahrgenommenen Chancen sind, dass Digitalisierung Begegnung ermöglicht und ergänzt sowie Aussichten auf Zugang (zum Beispiel zu Bildung und Information), Selbstbestimmung und Vernetzung bestehen. Diese Chancen wiegen so schwer, dass Datenschutz und Datensicherheit als weniger dominant wahrgenommen werden als in der Gesamtbevölkerung.
Digitalisierung schafft aber auch neue Ängste. Es entstehen neue Barrieren aufgrund von zu schneller technologischer Entwicklung ohne Anpassungsmöglichkeit. Vor allem Menschen mit Behinderung fürchten Arbeitsplatzverlust: Der Fokus auf Gewinnmaximierung und der Kampf um die besten Köpfe bringt Menschen mit Behinderung ins Abseits. Es entsteht Angst vor Einsamkeit, denn digital ersetzt nicht analog, Digitalisierung nicht echten Kontakt und Begegnung. Daher ist eine verbesserte Mobilität durch Digitalisierung (Stichwort 5G und autonomes Fahren) die große Hoffnung aller. Keine Alternative ist hingegen, andere etwa durch Homeoffice überhaupt nicht mehr persönlich zu treffen. Zudem wird befürchtet, dass maßgeschneiderte Lösungen nur für Wohlhabende verfügbar sein werden.
Für Menschen mit Behinderung ist oft der lebensweltliche Hintergrund entscheidender als die spezifische Beeinträchtigung; beide Faktoren zusammen bestimmen die Chancen und Risiken. Und es besteht die Gefahr, verschiedene Gruppen von Menschen mit Behinderung zu spalten, also bestimmte Gruppen noch weiter als bisher abzuhängen.
In der Summe bestehen für Menschen mit Behinderung aber dieselben Herausforderungen wie in der Gesamtgesellschaft: der Implementierungsstau von neuen Technologien, die fehlende digitale Kompetenz im Umgang mit Technik und Medien, Datenschutz, Risiken im Netz, die hohen Kosten für Firmen, für Einrichtungen, für den/die Einzelne:n sowie die neue Ausprägung sozialer Ungleichheiten durch Digitalisierung.
Befähigen, um Teilhabe zu sichern
Digitalisierung als Mittel zu mehr Autonomie und Partizipation kann Inklusion fördern. Die entscheidenden Fragen dabei sind: Werden technologische Innovationen implementiert und wie? Wer bestimmt, in welche Richtung es geht? Werden alle Gruppen der Gesellschaft berücksichtigt?
Als Handlungsfelder ergeben sich dabei zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen - das heißt, verlässliche digitale Infrastrukturen und IT-Services (5G und Breitband), Verankerung von Barrierefreiheit als Prinzip in der Normgebung sowie die Aufnahme von Assistenztechnologien in Leistungskataloge. Im Handlungsfeld Gesellschaft und Politik muss eine gesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgen, wie Technologie das Ziel Inklusion und Teilhabe unterstützen kann, und es ist nötig, Kompetenz aufzubauen (mehr Informationen, Schulungen, neues Verständnis von Betreuung und Pflege). Im Handlungsfeld Technologie und Innovation braucht es innovative Geschäftsmodelle und nutzerzentrierte Entwicklung von Produkten sowie weitere technologische Durchbrüche.
Entscheidend zur Sicherstellung der digitalen und damit der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe ist, Menschen mit Behinderung zu befähigen, sich souverän in der digitalen Welt zu bewegen und Risiken richtig einzuschätzen sowie eine Gesellschaft, die Inklusion und Vielfalt als Grundbestandteile eines zukunftsfähigen Zusammenlebens erkennt.
Anmerkung
1. Aktion Mensch: Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Trendstudie. Bonn, 2020, www.aktion-mensch.de/inklusion/barrierefreiheit/studie-digitale-teilhabe
Pflege braucht Fortschritt
Wenn es klappt, ist es ein Gewinn für alle
Das Fenster zur Welt
Teilhabe gelingt nicht „einfach so“
Nichts tun oder kräftig investieren?
An den Zukunftsmodellen bauen
Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}