Die Vergütung außer der Reihe anpassen
Die Corona-Pandemie stellt Leistungserbringer vor sehr unterschiedliche Herausforderungen. Dabei stehen zunächst die fachlichen Probleme im Vordergrund. Doch auch die wirtschaftlichen Herausforderungen müssen bewältigt werden. Auf der Kostenseite kann es zu erheblichen Steigerungen kommen, auf der Einnahmenseite wiederum zu erheblichen Einbußen. Die Sozialleistungsträger nach § 12 SGB I unterliegen einem Sicherstellungsauftrag, der in § 17 SGB I geregelt ist und der in allen Teilen des Sozialgesetzbuches vorrangig gilt. Das ergibt sich aus § 37 Satz 2 SGB I. Das Gesetz weist den Sozialleistungsträgern damit die originäre Verantwortung dafür zu, dass die Einrichtungen und Dienste, die die unterschiedlichen Leistungen erbringen, die das Sozialgesetzbuch vorsieht, vorhanden und arbeitsfähig sind.
Wegen der Corona-Krise hat der Gesetzgeber mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) Regelungen geschaffen, die Leistungserbringern helfen können. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat ergänzende Hinweise zum SodEG veröffentlicht. Die Regelungen des SodEG sehen jedoch keine vollständige Kompensation des wirtschaftlichen Schadens vor, den die Krise verursacht. Für soziale Unternehmen, die meist gemeinnützig und nicht gewinnorientiert arbeiten, kann das erhebliche Schwierigkeiten bedeuten.
Doch bevor diese Regelungen greifen, ist zu prüfen, welche Ansprüche die Leistungserbringer bereits nach bestehendem Recht haben. Die leistungsvereinbarungsrechtlichen Vorschriften des Rechts der Kinderund Jugendhilfe (SGB VIII), der Sozialhilfe (SGB XII), der Eingliederungshilfe (2. Teil SGB IX) und der Pflegeversicherung (SGB XI) sehen alle vor, dass im Falle unvorhersehbarer Änderungen eine Anpassung der Vergütung verlangt werden kann.
Die Corona-Krise ist ohne Zweifel eine Situation, die nicht vorhersehbar war und die einen Anspruch auf Anpassung der Vergütung nach sich ziehen kann. Die Anpassung der Vergütung dürfte im Verhältnis zu den besonderen Leistungen nach dem SodEG vorrangig sein. Sie ist darüber hinaus in aller Regel die bessere Lösung für die Leistungserbringer. Denn die Anpassung der Vergütung soll die durch die unvorhergesehene Situation hervorgerufenen Kosten oder Ausfälle grundsätzlich vollständig kompensieren.
Gestörte Geschäftsgrundlagen und außergewöhnliche Ausgaben
Zivilrechtlich sind unvorhergesehene oder unvorhersehbare Situationen in diesem Sinne Störungen der Geschäftsgrundlage, die einen Anspruch auf Anpassung eines zivilrechtlichen Vertrages an veränderte Bedingungen begründen können (§ 313 BGB). Auf dieser Grundlage kann ein Leistungserbringer auch gegenüber den leistungsberechtigten Personen einen Anspruch auf Anpassung der Vergütung haben.
Veränderungen auf der Kostenseite können zum Beispiel durch die Notwendigkeit von Schutzmasken und -kleidung, durch außergewöhnlichen Personalausfall wegen Krankheit oder Quarantäne oder durch deutlich erhöhten Aufwand im Zusammenhang mit erforderlichen Änderungen der Betriebsabläufe verursacht werden. Auf der Einnahmenseite kann es zu erheblichen Ausfällen kommen, wenn Leistungen vorübergehend nicht erbracht werden können, zum Beispiel, weil eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung schließen muss. Eine durch die Corona-Krise verursachte Erhöhung der Kosten führt zu einem Anspruch auf eine den besonderen Kosten entsprechende Erhöhung der Vergütung. Verluste auf der Einnahmenseite sollten in der Regel durch eine entsprechende Anpassung der Auslastungsquoten, die der Kalkulation der Vergütung zugrunde liegen, kompensiert werden.
Einzelne Leistungsbereiche
Eingliederungshilfe
In der Eingliederungshilfe ergibt sich der Anspruch auf Anpassung der Vergütung aus § 127 Abs.3 SGB IX. Voraussetzung sind hier "unvorhergesehene wesentliche Änderungen der Annahmen, die der Vergütungsvereinbarung […] zugrunde lagen".
Pflegeversicherung
Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Anpassung der Vergütungsvereinbarung mit der Pflegeversicherung ist § 85 Abs. 7 SGB XI. Voraussetzung sind hier "unvorhersehbare wesentliche Veränderungen der Annahmen, die der Vereinbarung oder Festsetzung der Pflegesätze zugrunde lagen". § 85 Abs. 7 SGB XI gilt zunächst nur für stationäre Einrichtungen. Wegen des Verweises in § 89 Abs. 3 Satz 4 SGB XI gilt die Vorschrift aber auch für ambulante Pflegedienste.
Sozialhilfe
Im SGB XII findet sich die Rechtsgrundlage für den Anpassungsanspruch nach der Reform durch das Bundesteilhabegesetz in § 77 a Abs. 3 SGB XII. Wie in der Eingliederungshilfe ist die Voraussetzung hier eine "unvorhergesehene wesentliche Änderung der Annahmen, die der Vergütungsvereinbarung […] zugrunde lagen".
Kinder- und Jugendhilfe
In der Kinder- und Jugendhilfe ist zwischen ambulanten Leistungen auf der einen und teilstationären oder stationären Leistungen im Sinne von § 78 a SGB VIII auf der anderen Seite zu unterscheiden. Für die letztgenannten Leistungen gilt § 78 d Abs. 3 SGB VIII. Voraussetzung sind "unvorhersehbare wesentliche Veränderungen der Annahmen, die der Entgeltvereinbarung zugrunde lagen".
Für die Vereinbarung von ambulanten Leistungen zwischen Jugendamt und Leistungserbringer enthält das SGB VIII nur sehr rudimentäre Regelungen, die sich im Wesentlichen auf § 77 SGB VIII beschränken. Im Ergebnis besteht hier jedoch erst recht ein Anspruch auf Anpassung der Vergütung.
Ratsames Verfahren
Wenn Leistungserbringer auf der Kostenoder der Einnahmenseite ernsthaft von der Corona-Krise betroffen sind, sind sie gut beraten, wenn sie den Anspruch auf Anpassung der Vergütung schnell schriftlich gegenüber ihrem Leistungsvereinbarungspartner geltend machen - auch dann, wenn sie die Anpassungsforderung noch nicht abschließend beziffern können. Denn die Frage, ob im Ausnahmefall der Störung der Geschäftsgrundlage eine rückwirkende Änderung der Vergütungsvereinbarung (oder nur ein nachträglicher Ausgleich, der nur für die Zeit nach der Geltendmachung wirkt) zulässig ist, ist nicht abschließend geklärt.
Die Geltendmachung erfolgt durch ein Schreiben, mit dem der Leistungserbringer auf seine besondere Situation hinweist und darlegt, dass er auf der Kosten- oder der Einnahmenseite (oder auf beiden Seiten) von der Corona-Krise in einer Weise betroffen ist, die nicht vorhergesehen werden konnte, als die letzten Vergütungsvereinbarung abgeschlossen wurde. Mit dem Schreiben sollte ausdrücklich verlangt werden, dass die Vergütungsvereinbarung außerplanmäßig geändert wird, um der besonderen Situation Herr zu werden. Es ist zweckmäßig, die jeweilige Rechtsgrundlage zu nennen. Sodann sollte es nach Möglichkeit kurzfristig zu einer Nachverhandlung kommen, die den auch sonst üblichen Regeln für die Vergütungsverhandlung folgt. Die Besonderheit liegt lediglich darin, dass die Bindung an den Vereinbarungszeitraum entfällt, soweit das Erfordernis einer Anpassung der Vergütung durch die Corona-Krise verursacht wurde.
Im Streitfall kann die jeweilige Schiedsstelle angerufen werden. Eine Ausnahme gilt für ambulante Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die nach § 77 SGB VIII vereinbart sind. Hier bleibt im Streitfall nur der Weg der Klage vor dem Verwaltungsgericht. Sollte sich die Notwendigkeit ergeben, auch die Leistungsvereinbarung anzupassen, ist in der Regel § 59 SGB X einschlägig. Die oben genannten Vorschriften erfassen lediglich die Vergütungsvereinbarung.
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