Weibliche Genitalverstümmelung im deutschen Straf- und Asylrecht
Die "Verstümmelung weiblicher Genitalien" (Female Genital Mutilation/Cutting, kurz FGM/C) steht seit September 2013 als § 226a des Strafgesetzbuchs (StGB) unter Strafe. Danach wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft, "wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt". Auch vorher waren rituelle Verstümmelungen beziehungsweise Beschneidungen weiblicher Genitalien grundsätzlich strafbar, die ausdrückliche Normierung erfolgte jedoch schließlich als Reaktion auf langjährige zivilgesellschaftliche Forderungen und insbesondere zur Umsetzung der Verpflichtungen, die Deutschland als Vertragspartner der internationalen Menschenrechtsabkommen hat.1
Wie wirksam das Instrument der Strafandrohung im Falle von FGM/C ist, das heißt, wie viele Menschen sich aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen gegen die Durchführung oder Veranlassung einer Beschneidung entscheiden, ist unklar. Das lässt sich mit fehlenden umfassenden Untersuchungen hierzu erklären. Diese werden auch dadurch erschwert, dass mit FGM/C ein höchst intimer Bereich berührt ist, der für alle Beteiligten mit einem Schweigegebot belegt ist.
Wie viele Strafverfahren seit Inkrafttreten des § 226 a StGB geführt wurden, lässt sich ebenfalls nicht erschöpfend beantworten. Seit 2014 wurden zwar jedes Jahr ein paar wenige Aburteilungen durch Strafgerichte in der Strafverfolgungsstatistik erfasst.2 (Aburteilungen beinhalten Verurteilungen - hier ausschließlich zu Geldstrafen - wie auch Einstellungen und Freisprüche. Strafgerichtliche Entscheidungen sind bislang nicht veröffentlicht, so dass Aussagen zu den näheren Umständen des jeweiligen Falls nicht getroffen werden können.) Doch nicht jedes Strafverfahren endet tatsächlich vor Gericht, vielmehr wird allgemein ein Großteil der Ermittlungen vor Eröffnung des Gerichtsverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Wie das in FGM/C-Fällen aussieht, lässt sich erst seit dem Jahr 2018 beantworten, denn seitdem werden bereits die Ermittlungsverfahren - und damit auch die eingestellten Ermittlungen - in der polizeilichen Kriminalstatistik gesondert erfasst. Im Jahr 2018 waren das insgesamt vier Fälle.3
FGM_C als Flucht- und Asylgrund
Von rechtspraktisch größerer Relevanz sind im Vergleich dazu die Sachverhalte, in denen FGM/C als Flucht- und Asylgrund eine Rolle spielt. Dabei geht es zumeist um Konstellationen, in denen weibliche Personen nach einer Flucht in Deutschland Flüchtlingsschutz suchen oder auch hier lebende Personen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus um ein Bleiberecht für sich bzw. ihre Töchter kämpfen, da ihnen bei Abschiebung in das (elterliche) Herkunftsland eine Verstümmelung droht. Statistische Erfassungen in diesem Themenfeld sind ebenfalls nicht veröffentlicht. Allerdings existiert - im Unterschied zum Strafrecht - ein großer Fundus an verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung, in denen über Fälle von Flüchtlingsschutz wegen FGM/C entschieden wurde. Den Vorlauf hierfür bildet jeweils das behördliche Asylverfahren, gegen dessen negativen Ausgang die schutzsuchende Person schließlich Klage erhoben hat.
Anhand dieser Fälle wird deutlich, wie wichtig eine kompetente Beratung für Menschen ist, die um Schutz vor FGM/C nachsuchen. Denn FGM/C ist eine Form geschlechtsbezogener Gewalt, die Mädchen und Frauen besonders schutzwürdig macht. Hinzu kommt, dass diese Form von Gewalt immer im sozialen Nahbereich passiert und häufig Kinder betrifft, die schon allein aufgrund ihres Alters schutzbedürftiger sind.
Nicht zuletzt im Asylverfahren gilt es jedoch zu beachten, dass es sich bei FGM/Cum eine vielschichtige Praktik handelt, in der es den einen Hergang nicht gibt. Ausführungsart, Beschneidungsalter, Begründungsmuster usw. variieren stark von Herkunftsregion zu Herkunftsregion. Auch innerhalb der jeweiligen Regionen werden FGM/C nicht immer gleich ausgeführt. Sie sind vielmehr Veränderungen durch Migrationsbewegungen innerhalb des afrikanischen Kontinents beziehungsweise der arabischen und asiatischen Gebiete ausgesetzt, in denen FGM/C praktiziert wird. Es ist wichtig, das zu beachten, um Mädchen und Frauen, die FGM/C als Grund für ihre Flucht vortragen, nicht vorschnell als unglaubhaft einzustufen - ein Problem, mit dem viele der Schutzsuchenden konfrontiert sind.
Ein weiteres Problem manifestiert sich in dem Schweigegebot, mit dem die Praktik belegt ist. Für die schutzsuchenden Frauen kann es eine zunächst unüberwindbare Hürde bedeuten, über FGM/C zu sprechen, noch dazu mit fremden und gegebenenfalls männlichen Personen, die im Asylverfahren für sie zuständig sind. Trägt die Betroffene eine drohende, auch erneute Verstümmelung erst im bereits laufenden Asylverfahren vor - etwa, weil sie erst nach der ersten Anhörung Beratung erhalten hat oder von sich aus die Sprechhürden erst im Nachhinein überwinden konnte - wird dieser verspätete Vortrag nicht selten als vorgeschoben bewertet und Flüchtlingsschutz ebenfalls versagt. Denn grundsätzlich gilt im Asylverfahren, dass die schutzsuchende Person von sich aus alle relevanten Umstände in der ersten Anhörung vortragen muss.
Internationale Vorgaben zum Asylverfahren
Die Einordnung von FGM/C als eine Form von geschlechtsbezogener Gewalt verpflichtet Deutschland als Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention jedoch dazu, in diesen Fällen bestimmte Maßnahmen im Asylverfahren zu gewährleisten. Nach den Vorgaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) gehört dazu zum einen die Hinzuziehung einer Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung, also eine Behördenmitarbeiterin, die diesbezüglich besonders qualifiziert ist. Weiterhin soll die Befragung durch weibliches Personal, möglichst auch die Sprachmittlung betreffend, mit der gebotenen Sensibilität geführt werden und eine Nachfrage zum möglichen Vorliegen geschlechtsbezogener Gewalt erfolgen, auch ohne dass die Antragstellerin diesen Umstand von sich aus vorträgt.
In Bezug auf die inhaltliche Bewertung der Sachlage soll in Fällen von geschlechtsbezogener Gewalt darauf geachtet werden, dass gerade für alleinstehende Frauen nur dann von einer inländischen Fluchtalternative ausgegangen werden kann, wenn die Betroffene im Falle der Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht neuerlicher geschlechtsbezogener Gewalt und Lebensbedingungen ausgesetzt ist, die nicht im Einklang mit einer menschenwürdigen Existenz stehen. In Konstellationen, in denen es um den Schutz von Mädchen geht, soll beachtet werden, dass Eltern beziehungsweise Elternteile nicht immer in der Lage sind, ihr Kind im Falle der Rückkehr gegen den familiären oder vorherrschenden sozialen Druck vor einer Beschneidung zu schützen, auch wenn sie selbst die Beschneidung ablehnen. Ein von der Tochter abgeleiteter Flüchtlingsschutz muss in solchen Fällen auch für die Eltern gewährt werden.
Schließlich hat UNHCR auch klargestellt, dass eine bereits erlittene FGM/C nicht zwangsläufig gegen die Gewährung von Flüchtlingsschutz spricht. (Auch mit dieser Argumentation ist Betroffenen zum Teil Flüchtlingsschutz verwehrt worden.) Eine bereits erlittene Verstümmelung spreche vielmehr für die Annahme, dass das Mädchen/ die Frau auch anderen Formen geschlechtsbezogener Gewalt - wie etwa häuslicher Gewalt oder Zwangsheirat - ausgesetzt sein kann. Darüber hinaus kann Betroffenen auch eine erneute Beschneidung drohen, etwa wenn die in der künftigen Schwiegerfamilie gebräuchliche Beschneidungsform nicht der bereits durchgeführten Beschneidungsform entspricht. Auch Re-Infibulationen, also das Wiederverschließen der Vagina nach einer Geburt, sind als (erneute) Genitalverstümmelung zu bewerten, so dass den hiervon betroffenen Frauen der Flüchtlingsschutz nicht versagt werden darf.
Bereits erlittene FGM/C schließt Schutzanspruch nicht aus
Um sie in Anspruch nehmen zu können, müssen Mädchen beziehungsweise Frauen, die von FGM/C betroffen oder bedroht sind, diese Rechte jedoch kennen. Eine möglichst frühzeitige und bundesweit flächendeckende Beratung im Asylverfahren erscheint insofern unerlässlich. Angesichts mangelnder finanzieller und personeller Ausstattung der betreffenden Beratungseinrichtungen bedarf es eines dringenden Ausbaus der Ressourcen, damit Beratende - im besten Fall aufsuchend - bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen tätig werden können.
Anmerkungen
1. Vgl. ausführlich hierzu und zu den weiteren Themen des Beitrags Göttsche, A.L.: Weibliche Genitalverstümmelung/ Beschneidung. Tübingen: Mohr Siebeck, 2020.
2. 2014: 1 Einstellung, 1 Verurteilung; 2015: 1 Einstellung, 3 Verurteilungen; 2016: 1 Einstellung; 2017: 1 Einstellung, 1 Verurteilung; 2018: 1 Verurteilung. Die Strafverfolgungsstatistik wird in Bezug auf das ganze vorangegangene Kalenderjahr veröffentlicht und erscheint in der Regel gegen Ende des nachfolgenden Jahres. Daher sind die Zahlen für 2019 noch nicht veröffentlicht.
3. Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) bezieht sich in der Regel ebenfalls auf das vorangegangen Gesamtjahr, die Zahlen für 2019 liegen noch nicht vor.
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