Lebensrettung inklusive
Nach dem Tsunami in Japan im Jahr 2011 war die Sterblichkeitsrate bei Menschen mit Behinderung doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung.1 In Vanuatu, einem Inselstaat im Südpazifik, lag im Jahr 2015 die Wahrscheinlichkeit, durch den Zyklon "Pam" getötet zu werden, sogar um das 2,45-Fache höher. Die Gründe für die besondere Gefährdung sind vielfältig: Menschen mit einer Hörbehinderung realisieren eventuell Gefahrenlagen später, weil sie akustische Warnungen nicht bemerken. Überflutungen reißen Krücken und andere Hilfsmittel gehbehinderter Menschen mit sich. Menschen mit Autismus sind mit dem Chaos überfordert und verlieren die Orientierung. Sehbehinderten Menschen, die keine persönliche Hilfestellung in der Notsituation erfahren, da ihr Umfeld in Panik ausgebrochen ist, fehlen Orientierungsmarken, um den Weg zu Evakuierungspunkten zu finden.
Internationale Vereinbarungen tragen dieser besonderen Gefährdung behinderter Menschen Rechnung und fordern, die humanitäre Hilfe inklusiv auszurichten.2 Es soll nicht hingenommen werden, dass behinderte Menschen in Kriegen und Katastrophen schutzloser sind als andere. Um die Belange behinderter Menschen in der humanitären Hilfe zu verankern, gilt es deshalb für Hilfsorganisationen, die Art ihrer Hilfeleistungen zu hinterfragen und alle Phasen der Hilfe zu durchleuchten: von der akuten Nothilfe über den Wiederaufbau bis hin zur Katastrophenvorsorge.
Im Notfall ohne Hilfe
Besonders eklatante Versäumnisse werden immer wieder in der ersten Phase der humanitären Hilfe, der klassischen Nothilfe, offenbar. In dieser ersten "heißen" Phase nach Katastrophen muss unter vollends chaotischen Umständen ebenso schnell entschieden wie gehandelt werden, um eine möglichst große Zahl an Menschen zu retten und ihnen ein Minimum an Nahrung, Trinkwasser und Obdach zur Verfügung stellen zu können. Noch zu selten ist in dieser Phase die humanitäre Hilfe inklusiv.
Zwar gelingt es in Einzelfällen, nach Naturkatastrophen für Lebensmittelverteilungen ebenerdige Zentren zu finden, die mit breiten Zugängen und Rampen versehen sind. Ab und an werden diese Verteilungen auch von Menschen mit Behinderung organisiert und umgesetzt.3 Und gelegentlich wird sogar eine Sonderversorgung von Haus zu Haus zu organisiert.4 Die Regel ist das nicht.
Vielmehr weisen Studien immer wieder nach, dass spezifische Belange von Menschen mit Behinderung in der Nothilfe oft überhört und übersehen werden.5 Das sehen auch die humanitären Helfer(innen) so: 92 Prozent von ihnen gaben in einer Befragung an, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung in humanitären Krisen nicht adäquat berücksichtigt werden.6 Schon die Erhebung der spezifischen Bedarfe von besonders schutzbedürftigen Gruppen überfordert die Helfer(innen) direkt nach der Katastrophe angesichts des Handlungsdrucks.7 Und selbst da, wo diese Bedarfe erhoben werden, genießen sie in der Umsetzung nur selten Priorität.8 So sollen nach Zyklonen auf den Philippinen nur zehn Prozent der Menschen mit Behinderung Schutz in Evakuierungszentren gefunden haben. Ein wichtiger Grund war, dass behinderten Menschen Informationen über die Trainings- und Planungstreffen fehlten, die zuvor stattgefunden hatten.9
Oft waren aber auch sanitäre Einrichtungen für Menschen mit Behinderung auf den Philippinen nicht zugänglich und Fortbildungen sowie Rechtsberatungen für sie nicht in adäquater Form verfügbar. Auch als es im Anschluss an die Soforthilfe darum ging, neue einkommenschaffende Projekte zu entwickeln, gab es solche Angebote für behinderte Menschen kaum. Handelte es sich um behinderte Frauen, erhöhten sich die Zugangsrestriktionen nochmals erheblich.10
Wiederaufbau: Chancen nutzen
Naturkatastrophen und Kriege verursachen neben dem großen menschlichen Leid, das mit psychischen und physischen Beeinträchtigungen einhergeht, auch massive Sachschäden. Gebäude liegen in Trümmern, große Teile der Basisversorgung sind nicht mehr funktionsfähig, und auch spezialisierte Einrichtungen sind oft betroffen. Diese Schäden werfen Regionen und ganze Länder in ihrer Entwicklung oftmals um Jahre zurück.
Solche Krisen können aber auch Chancen bieten, Einrichtungen anders und besser wiederaufzubauen. Wo vorher Treppenstufen für Rollstuhlfahrer(innen) unüberwindbare Hindernisse bildeten, können Gemeindezentren nun mit rollstuhlfreundlichen Rampen versehen werden. Öffentliche Sanitäreinrichtungen können mit breiten Zugängen gebaut, Bordsteine abgeflacht und Wohnhäuser komplett barrierefrei erstellt werden. Neben fachlicher Expertise erfordert ein solcher barrierefreier Wiederaufbau in allererster Linie, dass die ganze Bevölkerung, das heißt auch Menschen mit Behinderung, direkt in die Planung und Umsetzung einbezogen wird.
Caritas international engagiert sich beim inklusiven Wiederaufbau auf drei Weisen: erstens beim Wiederaufbau von spezialisierten Einrichtungen; zweitens beim Wiederaufbau von Wohnungen für Menschen mit Behinderung oder deren Familien; drittens bei der Wiederherstellung von Erwerbsmöglichkeiten für Familien mit behinderten Angehörigen oder für alleinstehende Menschen mit Behinderung.11
Beim Wiederaufbau von Wohnraum orientiert sich Caritas international an einem Fachkonzept, das Menschen mit der größten Verwundbarkeit Vorrang gibt und die breite Partizipation aller Beteiligten voraussetzt. Alle Vorhaben sind verbunden mit dem Ziel, die Eigenverantwortung und Selbstständigkeit der Menschen zu stärken. Liegen Informationen über die Anzahl der Menschen mit Behinderung und die Art der Behinderung vor, können bauliche Aspekte wie Zugänge, Sanitäranlagen oder Raumgröße berücksichtigt werden. Dabei setzt Caritas international auf intensive Begleitung durch eigene Fachleute und auf die Zusammenarbeit mit Expert(inn)en von Fachorganisationen und Vertreter(inne)n von Behindertenorganisationen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten arbeiten die Menschen mit Behinderung bei der Produktion von Bausteinen sowie beim Tragen von Wasser und Baumaterialien selbst mit.
Nach Naturkatastrophen in Lateinamerika unterstützte Caritas international beispielsweise immer wieder den Wiederaufbau von Wohnhäusern, aber auch von spezialisierten Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Insbesondere die Caritas Peru hat es sich seit dem Erdbeben im Jahr 2007 zum Anliegen gemacht, den konkreten Beitrag von Menschen mit Behinderung oder deren Familienangehörigen so weit wie möglich im Wiederaufbau einzufordern. Dieser Ansatz wird seit den Überflutungen des Jahres 2017 weiterentwickelt und soll systematisch in eine inklusive Katastrophenvorsorge integriert werden. Spezialisierte Einrichtungen wie das Behinderten- und Altenheim "Saint Vincent de Paul" in Haiti wiederum konnten nach dem Wiederaufbau zum Ausgangspunkt für eine gemeindebasierte Rehabilitation (CBR) entwickelt werden.
Im Alltag leben, was im Notfall gelingen soll
Als größtes Versäumnis und Hindernis auf dem Weg zu einer inklusiven Nothilfe stellt sich immer wieder heraus, dass schon im Alltag Menschen mit Behinderung zu wenig sichtbar sind. Wo behinderte Kinder Tag für Tag in Städten und Dörfern aus Scham zu Hause versteckt werden, werden diese mit ihren spezifischen Bedürfnissen auch im Notfall nicht mitgedacht. Wo in den Dorfversammlungen behinderte Menschen kein selbstverständliches Teilnahme- und Rederecht haben, werden diese auch in der Katastrophe vergessen und übersehen.
Die Frage, ob eine inklusive humanitäre Hilfe möglich gemacht wird, entscheidet sich deshalb nicht in erster Linie in der akuten Notsituation, sondern in der Zeit davor. Der stark eingeschränkte Zugang zu barrierefreien Einrichtungen im Katastrophenfall ist nicht selten lediglich eine Verlängerung der alltäglichen Missstände und Diskriminierungen.
Chancen für eine bedarfsgerechtere inklusive Nothilfe bieten deshalb vor allem die Katastrophenvorsorge und die soziale Facharbeit: So schult Caritas international seit Jahren beispielsweise in Indien, Indonesien, Guatemala und El Salvador die Familien auf Dorfebene darin, sich auf regelmäßig auftretende Naturkatastrophen besser vorzubereiten. Gemeinsam mit allen Bewohner(inne)n, ausdrücklich auch jenen mit Behinderung, werden beispielsweise Risikopläne erstellt, einfache Frühwarnsysteme etabliert, Erste-Hilfe-Kurse angeboten und Evakuierungen geprobt. In Überschwemmungsgebieten lernen die Familien, Rettungshilfen wie Schwimmwesten, Flöße oder einfache Boote herzustellen und die Anbauzeiten in der Landwirtschaft anzupassen, um die Überflutung stehender Frucht zu vermeiden.
Beteiligt an lokalpolitischen Prozessen
Wesentlich für eine inklusive Katastrophenvorsorge ist, dass Menschen mit Behinderung wie jedes Gemeindemitglied die Möglichkeit haben, an den Dorftreffen und den mit ihnen verbundenen politischen Prozessen teilzuhaben.12 Die damit einhergehende Bewusstseinsbildung geht über die Katastrophenvorsorge hinaus: Die Dorfbewohner(innen) mit Behinderung werden sich ihrer Rechte bewusst und fordern sie ein. Die Caritas ist für diese Art der Katastrophenvorsorge besonders gut aufgestellt, weil die Verbände durch die langfristig angelegten Sozialprojekte bereits dauerhaft in vielen Regionen der Welt in der Gesellschaft verankert sind.
So hat die Caritas in Indien sich zum Ziel gesetzt, mittel- und langfristig die Inklusion von Menschen mit Behinderung in allen sozialen Programmen und insbesondere in der humanitären Hilfe im ganzen Land zu verankern. Dieses "Disability Mainstreaming" wird in einem Pilotprojekt zunächst in ausgewählten, besonders katastrophenanfälligen indischen Bundesstaaten erprobt. Hierbei sind in allen Phasen von "Inclusive Humanitarian Action" - also vor, während und nach der Katastrophe - die besonderen Lagen und Bedürfnisse von Personen mit Behinderung zu berücksichtigen. Sie selbst und ihre Selbstvertretungsorganisationen sind in allen Phasen der Projektplanung und des Projektmanagements maßgeblich mit einzubeziehen.
Anmerkungen
1. CBM/Handicap international (Hrsg.): Disability Inclusive Project Cycle Management in Humanitarian Response. Schulungspapier.
2. U. a. die UN-Behindertenrechtskonvention und das Sendai Framework.
3. Handicap international: Disability in humanitarian context, 2015.
4. Im Sinne des "Double-Track"-Ansatzes, einerseits behinderte Menschen in allen Handlungsfeldern gleichberechtigt mitzudenken, andererseits aber auch ihre besonderen Bedürfnisse im Blick zu behalten und zu befriedigen.
5. HelpAge u. a.: Missing Millions. London, 2018.
6. Handicap international: Disability in humanitarian context, a. a. O., S. 4.
7. Ammann, K. A.: Herausforderungen bei der Umsetzung der internationalen Artikel der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Essen, 2010. Handicap international: Disability in humanitarian action, 2015, S. 26.
8. CBM/Handicap international (Hrsg.): Disability Inclusive Project Cycle Management in Humanitarian Response, a. a. O., S. 2.
9. CBM u.a. (Hrsg.): Disability Inclusion in Disaster Risk Reduction, 2017.
10. Ebd., S. VI.
11 Vgl. Ammann, K. A., a. a. O.
12. Was für die Nothilfe gilt, gilt jedoch auch für die Katastrophenvorsorge: Die Regel ist die inklusive Herangehensweise nicht. Bei einer Umfrage im Jahr 2013 unter 5000 Befragten mit Behinderung gaben 85 Prozent an, niemals an Katastrophenvorsorge und Katastrophenschutzübungen beteiligt gewesen zu sein.
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