Kommunikation und Verstehen sind die Schlüssel
Und ich muss mir das alles gefallen lassen?!" - Solche Fragen oder manchmal auch konkrete Aussagen fallen in Präventionsschulungen gegen sexualisierte Gewalt in Einrichtungen und Diensten der Altenhilfe oft. Seit dem Jahr 2012 finden in den Einrichtungen des Diözesan-Caritasverbandes Passau Präventionsschulungen gegen sexualisierte Gewalt statt. Durch diese Sensibilisierung zum grenzachtenden Umgang wurde schnell klar, dass den Mitarbeiter(inne)n im Bereich der stationären und ambulanten Altenhilfe mehr als das bereits gut eingeführte Präventionsprogramm geboten werden sollte.
Die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt im Arbeitskontext rückte auch die Alltagserfahrungen der vorwiegend weiblichen Pflegekräfte in den Fokus, wenn es um grenzverletzendes Verhalten der überwiegend männlichen Pflegebedürftigen ging. O-Ton einer Schulungsteilnehmerin: "Was passiert hier eigentlich, wenn ich als professionelle Pflegefachkraft zu einer mir anvertrauten Person komme und diese mit großer Sorgfalt und Empathie im Pflegealltag begleite? Nicht immer begegnet mir die gleiche Achtsamkeit und Geduld, wie ich sie weitergebe und eventuell auch erwarte."
"Ziele guter Pflege sind", so das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), "Wohlbefinden, Gesundheit und Sicherheit pflegebedürftiger Menschen."1 Die Präventionsschulungen haben zum Ziel, die Handlungskompetenzen des Fachkräftepersonals zu erweitern. Schwierige und unangenehme Situationen beziehungsweise wahrgenommene Reaktionen sollen noch besser reflektiert beziehungsweise hinterfragt werden, die vermutete Intention des Gegenübers angesprochen und das prospektive Handeln danach ausrichtet werden. Denn erfahrungsgemäß geht es dabei auch um das Wohlbefinden, die Gesundheit und Sicherheit der Pflegefachkräfte.
Das Passauer Modell beruht auf therapeutischer Intervention
Das Präventionsprogramm des Diözesan-Caritasverbands wurde um eine therapeutische Komponente erweitert: Dieses so betitelte "Passauer Modell" bezieht sich auf eine mentalisierende2 Intervention, die bedeutet, mentale Zustände (die eigenen und die anderer) im Zusammenhang mit Gefühlen und Verhaltensweisen zu verstehen.3 Dieser systemische Ansatz, der aus der Familientherapie kommt, soll es den Pflegefachkräften erleichtern, in der stationären wie der ambulanten Pflege auf vielschichtige Kommunikationsprozesse einzugehen und zu neuen, beziehungsweise zusätzlichen Lösungsmöglichkeiten zu gelangen. Dazu braucht es eine mentalisierende Haltung, die sich im reflektierenden Betrachten einer schwierigen Interaktion zwischen der Pflegefachkraft und einer zu pflegenden Person widerspiegelt. Wichtig ist, das zugrundeliegende Vertrauen von Pflegefachkraft und zu pflegender Person zu wahren und zu fördern.
Wenn also weibliche Pflegefachkräfte in Kontakt mit einem zu Pflegenden kommen, werden diese nicht ausschließlich als professionelle Fachkräfte in Erscheinung treten. Sie werden auch als eine der vier
relevanten Bezugspersonen, nämlich Mutter, Frau/Partnerin, Tochter oder Schwester wahrgenommen,
je näher sie mit familiären oder intimen Kontakten assoziiert werden (zum Beispiel Körperpflege, Assistenz beim Essen). Gerade bei mit Schwierigkeiten behafteten Pflegesituationen kann dieses Bewusstsein helfen, problematisches Verhalten besser einzuordnen und empathisch zu reagieren (das Modell lässt sich sowohl auf männliche wie weibliche Pflegekräfte übertragen).
Die Rolle der Mutter
Ganz häufig führt die Rolle der Mutter bei der zu pflegenden Person zur Regression. Gemeint ist damit die Rückkehr von einem bereits erreichten Entwicklungsniveau auf ein früheres Niveau.4 In erster Linie ist die Mutterrolle an Attribute wie Versorgen, Ernähren oder Pflegen gekoppelt. Andererseits ist diese Rolle auch oft durch disziplinierendes Verhalten gekennzeichnet, beispielsweise wenn es um Themen wie Sauberkeit oder Ernährung geht.
Im Regressionsverhalten kann Widerstand gegen die wahrgenommene Autorität der Mutterrolle, aber auch Angst vor dem Verlust von Autonomie vorkommen und eine wehrhafte Reaktion von Patient(inn)en provozieren. Hier die Sorgen, Ängste und Nöte des anderen besser zu verstehen, diese einmal anzusprechen und anzuerkennen, kann die daraus resultierende Interaktion nachhaltig verändern.
Beispiel: Frau M. ist mit der Essenseingabe am Pflegebett von Herrn S. beschäftigt und fordert ihn besorgt auf, er müsse doch ein wenig mehr essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Herr S. spuckt das Essen wieder aus.
Gerade beim Thema Essensassistenz, dem womöglich letzten autonom gesteuerten Vorgang des/der Pflegebedürftigen, zeigt sich häufig diese Form von Regression und Widerstand. Vermutlich nutzt hier kein Appell an Herrn S., doch "vernünftig" zu sein. Ein aussprechendes Anerkennen dieser Verlustangst der vielleicht letzten Selbstständigkeit und der Darstellung der eigenen Rolle kann die Situation entspannen.
Die Rolle der Frau/Partnerin
In dieser Rollenzuschreibung können weibliche Pflegefachkräfte durchaus als potenzielle Partnerinnen gesehen werden. Die einseitigen Sympathiebekundungen mit einer eventuell tieferen Absicht können zu grenzverletzendem Verhalten gegenüber weiblichen Angestellten führen.
Schnell werden Annäherungsversuche als absolut unangebracht und übergriffig empfunden. Deutlich ist auch hier das prägende Frauenbild des Mannes in der Interaktion erkennbar. Die Bewältigungsstrategien von betroffenen Kolleginnen wurden meist beschrieben als "Rückzug", "Gegenwehr" oder "doppelte Besetzung bei Pflegehandlungen" (also nur noch zu zweit zum Patienten gehen). In aller Regel bleibt jedoch ein Gefühl der Unsicherheit zurück, das eine Einordnung solcher Vorkommnisse erschwert. Ein reflektierendes Betrachten könnte hier hilfreich sein, um zu verstehen, dass ein übergriffiger Pflegebedürftiger die Pflegekraft wohl in dem Moment als Partnerin wahrnimmt. Ganz gezielt können dann Fragen an die zu pflegende Person gestellt werden (Voraussetzung ist hier ein sprachlicher Zugang), die das eigene Empfinden der erlebten Situation wiedergeben und dadurch die Übergriffe aufhören lassen.
Die Rolle der Tochter oder der Schwester
Vor allem jüngere weibliche Pflegekräfte kommen schnell und unbewusst in die Rolle der Lieblingstochter und werden gern mit väterlichem Charme bedacht. Wenn aus dieser Konstellation übergriffiges Verhalten erfolgt, werden hier ähnliche Fragen wie bei der Rolle der Partnerin notwendig.
Die zugedachte Rolle der Schwester ist oft, aber nicht immer konfliktärmer. Sie kann mit viel Vertrauen besetzt und von Humor und kumpelhafter Natur geprägt sein und bietet dann die gewünschte Sicherheit für beide Seiten. Möglicherweise können aber auch ungelöste Geschwisterkonflikte getriggert werden.
Verstehen ist besonders wichtig
Es ist wichtig, die genannten Rollenzuschreibungen und Rollenübernahmen im Pflegealltag anzudenken und unklare Begebenheiten gegenüber den zu pflegenden Personen anzusprechen. Nicht immer wird das bei allen anvertrauten Menschen möglich sein. Doch soll dieser Impuls die Handlungsfähigkeit der Mitarbeitenden um einen weiteren Lösungsweg bereichern. Kommunikation ist ein Schlüssel zum Auflösen von zwischenmenschlichen Konflikten, denen nicht primär ein sexuell missbräuchlicher Ton anhaftet. Pflege bedeutet immer auch, dem Menschen ganz nah zu sein. Die Achtsamkeit gegenüber den eigenen mentalen Zuständen und denen des Gegenübers ermöglicht es, sowohl die zu pflegende Person in ihrer Ganzheit als auch die Beziehung zwischen sich und dem/der Pflegebedürftigen zu sehen. Die eigenen Gefühle und Gedanken werden bereichert und verändert, wenn man etwas über die mentalen Zustände des anderen erfährt und bereit ist, dessen Sichtweisen, Bedürfnissen und Gefühlen Rechnung zu tragen.5 Oft gibt ein Hinweis auf das Verstehen und Nachempfinden der wahrgenommenen Situation, in der sich zu pflegende Personen wähnen, einen ersten Impuls. Eventuell folgt dann ein nächster und befreiender Schritt: "Ja - nicht alles ist so, wie ich mir das für meinem letzten Lebensabschnitt vorgestellt habe!" - Pflegefachkräfte sind keine ausgebildeten Therapeut(inn)en, doch das Passauer Modell kann neue Impulse für ein konfliktfreieres Miteinander setzen und Schule machen.
Anmerkungen
1. Zentrum für Qualität in der Pflege: Gute Pflege erkennen. Professionelle Pflege zu Hause. Berlin, 2017.
2. Fonagy, P.; Steele, M.; Steele, H.; Moran, G.; Higgitt, A.: The capacity for understanding mental states: the reflective self in parent and child and its significance for security of attachment. Infant Mental Health Journal, 13/1991, S. 200-217.
3. Asen, E.; Fonagy, P.: Mentalisierungsbasierte therapeutische Interventionen für Familien. In: Blickpunkt EFL-Beratung 04/2017, S. 7-21.
4. Mertens, W.: Psychoanalytische Grundbegriffe. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union, 1998.
5. Asen, E.; Fonagy, P., a.a.O., 2017.
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