„A wie achtsam“
Über die Notwendigkeit von Missbrauchs- und Gewaltprävention lässt sich viel schreiben: über das Leid der Betroffenen, über die ungeheuren Opferzahlen, über Täter und Mitwisser, über begünstigende Strukturen und über vieles mehr.
Gesellschaftlich weitgehend unbekannt ist, dass Menschen mit Behinderung in besonderem Maße betroffen sind. Unter ihnen sind die Opferzahlen drei- bis viermal so hoch wie unter anderen Teilen der Bevölkerung.
Als wir im Sozialwerk St. Georg im Jahr 2012 auf Basis der damaligen Präventionsordnung unsere "Leitlinien zur Prävention sexualisierter Gewalt" veröffentlichten, die sich ausschließlich auf das Verhältnis Mitarbeiter(in)/Klient(in) bezogen, ging zunächst ein Aufschrei durch die Mitarbeiterschaft: Was ist denn mit unseren Gewalterfahrungen (die im Übrigen, wenn man mit besonders herausfordernden Menschen arbeitet, nicht unerheblich sind)? Sieht man uns nun grundsätzlich als potenzielle Täter?
Solche und ähnliche Fragen forderten uns heraus und hatten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den folgenden Prozess.
Alle und alles müssen in den Blick genommen werden
Prävention gelingt nur, wenn die Menschen in einer Organisation sich das Thema zu eigen machen und ihm eine persönliche Bedeutung zumessen.
Und so war eine unserer ersten Erkenntnisse: Unser Ansatz wird nur dann erfolgreich sein, wenn er alle Menschen gleichermaßen in den Blick nimmt und schützt! Wir entschieden uns, ergänzend zur Präventionsordnung, allen Arten von Gewalt präventiv entgegenzutreten: tätlicher und sexualisierter Gewalt ebenso wie allen Formen von Machtmissbrauch und struktureller Gewalt. Geleitet wurden wir von der Annahme, dass alle Ausprägungen von Gewalt in einem engen systemischen Zusammenhang stehen.
Abgesehen von dieser inhaltlichen Perspektive stellten sich diese Überlegungen im weiteren Verlauf auch als strategisch relevant dar, da das im Jahr 2014 neu gefasste Wohn- und Teilhabegesetz (NRW) ein entsprechendes Schutzkonzept forderte.
Von oben herab
Die Entscheidung, das Thema Prävention in einem umfassenden Rahmen und mit einer derart weiten Perspektive anzugehen, kann nur über die Leitung einer Organisation erfolgen und muss in aller Konsequenz über alle Ebenen hinweg durchgesetzt werden. Die Entwicklung eines Schutzkonzepts, das mehr sein soll als nur eine Hochglanzbroschüre, ist Organisationsentwicklung. Und diese erfordert sowohl eine sehr klare Idee der Führungsebene als auch ein stimmiges Führungsverhalten. Mal abgesehen davon: Schutzkonzeptentwicklung geht nicht ohne die Investition von Ressourcen, welche entsprechend bereitgestellt werden müssen.
Dreh- und Angelpunkt ist hierbei das mittlere Management. Führungskräfte dieser Ebene agieren in der Mitte des "Sandwichs" von Unternehmensanforderungen und Mitarbeiterbedürfnissen. Sie sorgen für die organisatorischen Rahmenbedingungen, müssen sich mit allen praktischen und ethischen Fragen auseinandersetzen und "Whataboutism" (Ablenkungsstrategien) von ernster Sorge unterscheiden können. An ihnen messen sowohl Mitarbeitende als auch Klientinnen und Klienten die Glaubwürdigkeit, aber auch die Verbindlichkeit von Leitideen.
Von unten herauf
Im Jahr 2014 begannen wir, zweitägige Schulungen zur Prävention sexualisierter Gewalt durchzuführen. Dabei war uns wichtig, dass alle Mitarbeitenden, unabhängig von Hierarchie und Funktion, an diesen Schulungen teilnahmen. Inhalte waren sowohl die Durchführung von Risikoanalysen als auch intensive Debatten um das Thema Kultur: Ist es normal, dass wir uns ansprechen, wenn uns etwas am Verhalten des Gegenübers unstimmig erscheint? Wie kritikfähig sind wir? Was tun wir, wenn es wirklich schwierig wird? Welche Rolle spielen bei der Bewertung von Situationen unsere eigenen Ängste? Welche institutionellen Eigendynamiken führen zu geschlossenen Systemen, die Macht und Machtmissbrauch begünstigen?
Die Schulungen mündeten, bis zur endgültigen Formulierung des Schutzkonzepts mit dem Titel "A wie achtsam" im Jahr 2016, in einer Beteiligung der Teilnehmenden an der Erstellung eines Verhaltenskodex. Dieser ist ein elementarer Anteil des Konzepts. Mit Beantwortung der Fragen "Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem Gelernten? Was würden Sie unterschreiben wollen?" wurden rund 1500 Mitarbeitende in den Prozess einbezogen.
Die Schulungsoffensive selbst endete im April 2017. Zu diesem Zeitpunkt hatten rund 2700 Menschen teilgenommen. Für neue Mitarbeitende werden diese Angebote seither fortlaufend verpflichtend durchgeführt.
Parallel zu den Schulungen für Mitarbeitende führten wir Praxisdialoge mit Klientinnen und Klienten unserer Einrichtungen und Dienste durch und gingen mit ihnen über die gleichen Themen ins Gespräch. Im Rahmen einer kleineren qualitativen Untersuchung hatten auch sie die Möglichkeit, sich an der Erstellung des Verhaltenskodexes zu beteiligen. Der Kodex ist seit seiner Veröffentlichung sowohl für Mitarbeitende als auch für Klientinnen und Klienten verbindlich.
Unterschiedliche Arbeitsgruppen, die die verschiedenen Kapitel des Schutzkonzepts formulierten, waren stets paritätisch besetzt. Sie bestanden aus Mitarbeitenden, Leitungskräften und Klientinnen und Klienten aus allen Unternehmensbereichen.
Die Annahme, dass dieser breite partizipative Prozess zu einer kritiklosen Akzeptanz des Schutzkonzepts führen würde, war jedoch trügerisch. Das eingangs beschriebene Misstrauen war dabei jedoch nur ein Aspekt. Dieses konnte in langen Diskussionen und Verhandlungen mit den Partnern der betrieblichen Mitbestimmung und einer abschließenden gemeinsamen Positionierung zwar gemildert, nie aber ganz ausgeräumt werden. Die Erkenntnis, dass Präventionsarbeit ein dauerhafter Prozess mit immerwährenden Diskussionen ist, mag einerseits ermüdend wirken. Andererseits führt die andauernde kritische Auseinandersetzung aber auch zu kontinuierlichem Fortschritt und immer weiter aufbrechenden Systemen.
Die Säulen des Konzepts
Unser Schutzkonzept ist nun bereits zwei Jahre praxiserprobt. Und trotz aller Debatten ist es ein weithin anerkanntes Arbeitsinstrument geworden. Im Zuge seiner aktuell laufenden ersten Revision haben wir noch einmal seine vier Grundpfeiler beschrieben, die sich für eine lebendige Präventionsarbeit als besonders relevant herausgestellt haben:
Kultur
Eine gute Kultur ist geprägt von einer Haltung, die Kritikfähigkeit (und zwar im Nehmen als auch im Geben) fördert und Diskussionen zulässt. Eine solche Kultur schützt vor vorschnellen Urteilen, vor zu einfachen Lösungen und beugt damit auch einem Klima von Generalverdacht und Vorverurteilung vor.
Klarheit
Neben der Klarheit der Leitungsverantwortung braucht Prävention verbindliche, personenungebundene Verfahren und Prozesse. Dazu gehören Meldewege und zu nutzende Instrumente genauso wie ein entschiedenes Handeln "im Falle eines Falles" und eine Nachsorge, die verbindlich durchgeführt wird.
Kompetenz
Menschen müssen wissen, was sie dürfen und was verboten ist. Sie müssen einen Rahmen erhalten, innerhalb dessen sie Handlungsalternativen erlernen können. Dazu zählen unter anderem Sexualaufklärung, Deeskalationsstrategien, Schulungen zum Thema Nähe und Distanz, zum Spannungsfeld von Fürsorge und Autonomie, Wissen um Nachsorgemöglichkeiten und Rechtssicherheit.
Kontrolle
Institutionelle Eigendynamiken führen manchmal dazu, dass die Personen, die die Organisation bilden, nicht in der Lage oder willens sind, ihr Eigenleben selbst kritisch zu beleuchten und im Sinne des Schutzkonzepts zu handeln. Häufig geschieht dies nicht aus bösem Willen oder gar mit Absicht. In diesen Situationen hilft nur ein kontrollierender und begleitender Blick von außen. In extremen Fällen muss den Kontrollinstanzen auch eine Eskalationsmacht zustehen.
Und nun?
Vielleicht fragen Sie sich am Ende dieses Artikels nach den Ergebnissen unserer Bemühungen. Was hat man denn davon, wenn man einen solchen Aufwand betreibt?
Mit einer konsequenten Präventionsarbeit wird zunächst einmal Transparenz hergestellt. Man wird viel darüber erfahren, was in den einzelnen Verantwortungsbereichen tatsächlich vor sich geht. Und das ist meistens leider deutlich mehr, als man vielleicht angenommen hat. Gleichzeitig, und das ist die gute Nachricht, schafft man aber Handlungsräume und Lösungen. Unserer Erfahrung nach werden die gemeldeten Situationen auch nach mehreren Jahren nicht weniger. Sie nehmen sogar weiterhin zu. Allerdings verändert sich ihre Qualität. Früher mussten wir uns weitaus häufiger mit arbeits- oder strafrechtlich relevanten Tatbeständen auseinandersetzen. Heute sind es viel häufiger ethische Fragestellungen (zum Beispiel solche zur Lösung struktureller Gewalt) oder auch pädagogische Themen.
Weiterhin sorgt man für ein gutes Klima. Und findet damit möglicherweise auch Antworten auf Fragen, die man in diesem Kontext gar nicht gestellt hätte. Eine grundsätzliche Achtsamkeit endet nicht bei Missbrauchs- und Gewaltprävention. Fehlerkultur, Umgang mit süchtigen Mitarbeitenden, Umgang mit herausforderndem Verhalten usw. - diese und mehr Themen werden unserer Erfahrung nach mindestens ebenso berührt.
In dem Moment, in dem eine solche Kultur gut entwickelt ist und ein Schutzkonzept in aller Tiefe greift, zeigen sich auch unmittelbare monetäre Konsequenzen, die sich zum Beispiel in einem geringeren Personalausfall (bedingt durch Übergriffe) äußern.
Bemerkenswert für uns war die Erkenntnis, dass Gewaltprävention einen Attraktivitätsfaktor darstellt. Sehr häufig formulieren neue Mitarbeitende, dass sie sich maßgeblich für das Sozialwerk St. Georg entschieden hätten, weil sie selbst schlechte Erfahrungen bei ehemaligen Arbeitgebern gemacht und sich sehr genau im Vorfeld angesehen hätten, wie wir uns zum Thema Prävention aufstellen. In Zeiten des demografischen Wandels ist dies ein nicht zu unterschätzender Faktor.
Schlussendlich: Man erhält gestärkte, aufgeklärte und selbstbewusste Klientinnen und Klienten und Mitarbeitende. Und dies ist, bei allen Instrumenten und Maßnahmen, immer noch der beste Schutz!
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