Kein Raum für Missbrauch und kein Schweigen bei Verdacht
Das Thema sexueller Missbrauch in Institutionen ist in Politik und Öffentlichkeit angekommen. Auslöser war das Bekanntwerden von schwerem Missbrauch, unter anderem im Jahr 2010 am Canisiuskolleg in Berlin. Die Politik hat seitdem zusammen mit weiteren Akteuren Präventionsinitiativen gebündelt und angestoßen. Dabei wurde sichtbar, dass sexueller Missbrauch kein Einzelphänomen ist, sondern ein Skandal inmitten unserer Gesellschaft, der nicht weiter weggeschwiegen werden kann. Betroffene haben Gehör gefunden. Die Gesellschaft ist allmählich sprach- und handlungsfähiger zu einem Thema geworden, das keiner wahrhaben wollte.
Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen. Wenn Missbrauch in katholischen Institutionen stattfindet, die sich der Nächstenliebe und dem Schutz der Anvertrauten, oft sozial schwacher Menschen, verpflichtet haben, ist dies besonders perfide. Mitarbeitende in katholischen Einrichtungen sind erschüttert über die Erkenntnisse aus der Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“1. Damit ist die Glaubwürdigkeit der Kirche infrage gestellt. Sie ist zu strukturellen und systemischen Veränderungen und der Befassung mit klerikaler Macht aufgerufen. Es braucht endlich ein entschiedenes Vorgehen, damit alle katholischen Einrichtungen sichere Orte werden.
Prävention, Intervention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt haben in den letzten Jahren in der Caritas einen Professionalisierungsschub erfahren. Im Kinder- und Jugendhilfebereich sowie in der Behindertenhilfe konnte man an Präventionsmaßnahmen anknüpfen. Handreichungen waren bereits vorhanden. Über die Vereinbarungen mit öffentlichen Leistungsträgern gab es bereits Standards zum Schutz der Anvertrauten.
Auf den verschiedenen verbandlichen Ebenen, der Bundes-, Diözesan- und Orts­ebene, in den Diensten und Einrichtungen, wurden nach 2010 weitere Arbeitsstrukturen und Verfahrensabläufe geschaffen, Konzepte erarbeitet und Verantwortlichkeiten festgelegt. Viele Tausend Mitarbeitende wurden in verpflichtenden Präventionsschulungen sensibilisiert und konnten mehr Handlungssicherheit gewinnen. Leitungsverantwortlichen kommt dabei eine besondere Rolle zu: Sie müssen das Thema als Kernaufgabe verstehen, Ressourcen und einen Instrumentenmix zur Verfügung stellen und dafür Sorge tragen, dass ihre Einrichtung ein sicherer Ort für alle Menschen ist, die sich der Caritas anvertrauen. Es geht darum, über Personal- und Organisationsentwicklung eine Kulturveränderung zu bewirken. Alle Haupt- und Ehrenamtlichen der Caritas sollen Grenz­überschreitungen erkennen, sprach- und handlungsfähig sein, um gemeinsam im Team und als Organisation Übergriffe zu verhindern – auch gegenüber Teammitgliedern. Die Devise lautet: kein Raum für Missbrauch und kein Schweigen bei Grenzüberschreitungen und Verdachtsmomenten.
Sozialpolitisches Engagement für die Anvertrauten
Unter der Leitung von drei Bundesministerien (Familie, Justiz, Forschung) wurde 2010 unter Mitwirkung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen, darunter die Kirchen und der Deutsche Caritasverband (DCV), der Runde Tisch Kindesmissbrauch2 eingerichtet, der Handlungsnotwendigkeiten herausarbeitete. Die Bundesregierung hat das Amt der „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) geschaffen und damit einen Themenanwalt. Der Betroffenenrat wurde etabliert und außerdem die Aufarbeitungskommission3 berufen. Öffentliche Hearings der Aufarbeitungskommission gaben Betroffenen eine Stimme. Dies trug entscheidend dazu bei, dass die Öffentlichkeit anfing zu verstehen, dass die Folgen des Missbrauchs die Opfer ein Leben lang stark beeinträchtigen können.
Entschädigungsfonds wurden eingerichtet, Gesetze nachjustiert, Projekte, Forschung und Juniorprofessuren wurden initiiert. Rückblickend kann man von einem interdisziplinären Kompetenzaufbau sprechen, der in Deutschland seit etwa zehn Jahren stattfindet.
Der Deutsche Caritasverband hat vielfältige Arbeitskooperationen aufgenommen und sich wie andere Akteure in einer Vereinbarung mit dem UBSKM zu Präventionsmaßnahmen verpflichtet, unter anderem dafür Sorge zu tragen, dass bis hin zur örtlichen Ebene Schutzkonzepte eingeführt werden. Die Caritas unterstützte das Monitoring und Kampagnen des UBSKM zum Schutz in Institutionen, die Kinder betreuen. Im Bewusstsein, dass erlittenes Leid nicht wieder gutgemacht werden kann, beteiligte sich der Deutsche Caritasverband an Entschädigungsleistungen.
Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Schutz von Minderjährigen konzentriert, hat die Caritas auch schutz- oder hilfebedürftige Erwachsene im Blick. Sie weist die Politik auf Handlungsbedarf hin. Der Deutsche Caritasverband hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass Beschäftigte, zu deren Tätigkeiten der Umgang mit vulnerablen Gruppen gehört, in allen Bereichen des Sozialleistungsrechts ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen. Damit ist ausgeschlossen, dass verurteilte Sexualstraftäter eingestellt werden.
Fachliche Standards werden großgeschrieben
Die Caritas engagiert sich für den Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Einrichtungen für geflüchtete Menschen. Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Der Deutsche Caritasverband hat in der Bundesinitiative „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ zusammen mit dem BMFSFJ, Unicef und anderen Partnern einheitliche Mindeststandards erarbeitet.4 Damit diese Regelungen greifen, muss noch viel geschehen.
Schulungen und Supervision
Um Missbrauch zu verhindern, setzt die Caritas auf Fachlichkeit und unterstützt als größte Arbeitgeberin Deutschlands ihre Mitarbeiter(innen) beim Kompetenzaufbau durch Schulungen, Teamreflexion und Supervision. Sie sollen im Umgang mit Grenzachtung und in der Wahrnehmung von Grenzverletzungen gestärkt werden.5
Empfehlungen zur Prävention
Außerdem hat der DCV im Jahr 2010 in Abstimmung mit der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und dem UBSKMM als praxisnahes Regelwerk die DCV-Empfehlungen6 erarbeitet und damit bundesweit allen Gliederungen einen Handlungsleitfaden zur Prävention, Intervention und Aufarbeitung zur Verfügung gestellt.
Der Leitfaden gab den Einrichtungen Impulse, ihre Strukturen und Abläufe zu überprüfen und regelhaft eine professionelle Auseinandersetzung mit dem
Thema herbeizuführen. Erstmalig stand ein Rahmen-Schutzkonzept zur Verfügung, das für das jeweilige Setting konkretisiert werden konnte. Ziel ist, dass Mitarbeitende Risiken frühzeitig erkennen, sie ansprechen und wissen, dass immer das Wohl der Anvertrauten und die konsequente Aufklärung im Zentrum stehen.
Gegenstand der Empfehlungen sind unter anderem:
- Regelungen für die Personalauswahl,
- Einarbeitung und Schulungen,
- Verhaltensregeln zum Schutz aller Anvertrauten (Verhaltenskodex),
- Selbstverpflichtungserklärung,
- Zusammenarbeit mit unabhängigen externen Ansprechpersonen und Fachkräften sowie den Strafverfolgungsbehörden und Aufsichtsbehörden,
- Information der Anvertrauten über ihre Rechte,
- interne und externe Beschwerdeverfahren,
- Risikoanalyse,
- einrichtungsspezifisches Präventionskonzept,
- sexualpädagogisches Konzept,
- Ablaufplan bei Verdacht/ Missbrauch, Notfallplan.
Die Empfehlungen sind quasi eine Konkretisierung der „Rahmenordnung Prävention“ und der „Leitlinien der DBK“7 für die Praxis der Dienste und Einrichtungen der Caritas. Im Zuge der derzeitigen Überarbeitung der Rahmenordnung und Leitlinien der DBK steht nun auch bei der Caritas eine Überarbeitung ihrer Empfehlungen an. Das Ziel ist ein bundesweit einheitliches Vorgehen in gesamten Raum der Kirche.
Wissensmanagement
Der DCV moderiert das jährliche Austauschforum Prävention. Hier kommen die Präventionsbeauftragten der Diözesan-Caritasverbände zum Erfahrungsaustausch zusammen. Der Verband hat im Zusammenspiel mit den Gliederungen Materialien und Handreichungen erarbeitet und eine Fachkräfte-Homepage erstellt. Er gibt einen Infoservice heraus, der die Fachöffentlichkeit über politische Entwicklungen, Fortbildungen und Konzepte informiert. Besonders zu erwähnen ist die Publikation "Kinder dürfen nein sagen! Kinder vor Gewalt schützen"7, die zum Beispiel von Kitas, Schulen, der Behindertenhilfe genutzt wird. Sie ist in sechs Sprachen übersetzt.
Kooperation und gemeinsame Standards
Die Zusammenarbeit zwischen der Caritas als Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche und den Strukturen der verfassten Kirche auf Bundesebene und in den Diözesen ist Grundlage für ein gemeinsames wirksames Vorgehen. Auf der Ebene der 27 Bistümer gibt es oft enge, spezifisch ausgestaltete Kooperationen und Arbeitsteilungen sowie gemeinsame Schulungsangebote. Auf Bundesebene besteht eine intensive Zusammenarbeit mit dem Büro von Bischof Stephan Ackermann, dem Missbrauchsbeauftragten der DBK. Aktuell werden die Leitlinien und die Rahmenordnung Prävention der DBK überarbeitet und die Caritas-Empfehlungen abgestimmt.
Die Präventionsarbeit sieht sich dabei vor weiteren Herausforderungen. Für den katholischen Bereich sind gemeinsame Standards zu entwickeln und in allen Handlungsfeldern umzusetzen. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die sich der Caritas anvertrauen, sind dabei zu beteiligen. Die Wirksamkeit der Maßnahmen muss kontinuierlich überprüft werden. Dafür ist ein Monitoring einzusetzen. Die Präventionsarbeit muss auch die Folgen der Digitalisierung ausloten, die Tätern zum Beispiel mit Darknet und Cybergrooming neue Möglichkeiten bietet.
Anmerkungen
1. Die Ergebnisse wurden Ende September 2018 anlässlich der Vollversammlung der deutschen Bischöfe in Fulda auf einer Pressekonferenz vorgestellt, siehe Kurzlink: https://bit.ly/2xRbSMg
2. Runder Tisch Bundesregierung: Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich.
3. 2016: Einberufung "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs".
4. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat im Dezember 2015 gemeinsam mit Unicef die Initiative "Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften" gestartet. Die Initiative sieht insbesondere vor, das Personal in Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge in Fragen des Kinderschutzes zu schulen und für Fälle von Gewaltanwendung zu sensibilisieren. Dabei wurden erstmals 2016 "Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften" herausgegeben, siehe Kurzlink: https://bit.ly/2tQKcYC
5. Zum Beispiel "Vertrauenspersonen in Diensten und Einrichtungen der Caritas" in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -Vernachlässigung und fortlaufende Fortbildungen zur Sexualpädagogik.
6. Deutscher Caritasverband: Empfehlungen zur Prävention gegen sexuellen Missbrauch sowie zum Verhalten bei Missbrauchsfällen in den Diensten und Einrichtungen der Caritas. Freiburg, 27. Januar 2014, siehe Kurzlink https://bit.ly/2tWqjiM
7. "Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" sowie die "Rahmenordnung zur Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz". In der aktuellen Fassung vom 25. Juni 2019 siehe Kurzlink: https://bit.ly/2JAmXI1
7. DCV, CBP, KTK (Hrsg.): "Kinder dürfen nein sagen!", Freiburg, 2015. Siehe https://bit.ly/32tVNKn
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