Für Betroffene da sein – und die Täter benennen
Das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hat in den vergangenen Jahren mehrere Studien zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt innerhalb der katholischen Kirche realisiert.1 Dabei standen bestimmte institutionelle Systeme im Fokus, darunter die Benediktinerabtei Ettal, das Stift Kremsmünster, das Bistum Hildesheim und bayerische Kinderheime. Im Rahmen dieser Untersuchungen konnten eine Reihe von Indikatoren ermittelt werden, die auf spezifische Gefährdungen für Kinder und Jugendliche in katholischen Einrichtungen hinweisen, zum Beispiel repressive Erziehungsvorstellungen, mangelnde Qualifikation des Personals, problematische Vorstellungen zu Sexualität und Männlichkeit, institutioneller Narzissmus oder geringe Durchlässigkeit nach außen. Als Trägerin einer Vielzahl von Einrichtungen, in denen Minderjährige betreut werden, steht die Caritas vor der Aufgabe, den sich wandelnden Diskurs zu diesen Themen zu rezipieren, mitzugestalten und in eine Praxis umzusetzen, die Mädchen und Jungen eine gesunde und förderliche Entwicklung erlaubt.
Sowohl Interventionspraxis als auch Empirie machen deutlich, dass ein professioneller Umgang mit sexualisierter Gewalt zutreffende Einschätzungen dahingehend erforderlich macht, welche Art von Situationen und welches Ausmaß an Grenzverletzungen Interventionshandeln verlangen. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Kompetenzen gefragt, nämlich Kommunikationsfähigkeit und Differenzierungsfähigkeit. Die Einschätzung kritischer Situationen bedarf einer multiperspektivisch begründeten Übereinkunft mehrerer Fachkräfte gepaart mit einer ausgeprägten Sensibilität für Unterschiede.
Inzwischen gebräuchliche begriffliche Differenzierungen zwischen sexuellen Grenzverletzungen, sexuellen Übergriffen und strafrechtlichen Formen sexualisierter Gewalt bieten dazu wichtige Orientierungen, werden aber in der Interventionspraxis der Vielgestaltigkeit konkreter Vorfälle nicht immer gerecht. Zwischen polarisierenden Urteilen wie „Ist nicht so schlimm“ einerseits und „Das muss sofort angezeigt werden“ andererseits eröffnet sich im pädagogischen Alltag ein häufig schwer zu durchschauendes Feld an Grenzverletzungen, Übergriffigkeiten und Sexualisierungen von Interaktionen, die pädagogisches Fingerspitzengefühl erfordern und mit instruktiven Vorgaben häufig nur schwer „einzufangen“ sind.
Systemgrenzen erkennen
Leitlinien zur Einschaltung von Strafverfolgungsbehörden erfüllen vor diesem Hintergrund eher den Zweck, ein illusionäres Gefühl von Sicherheit und Transparenz herzustellen und die Institution von dem prominenten Vorwurf der Vertuschung zu befreien. Dagegen stehen wiederum Fälle, in denen Kolleg(inn)en, für die man „die Hand ins Feuer legt“, nicht angezeigt werden, um unkontrollierbare Schwierigkeiten zu vermeiden. In einem unsicheren Arbeitsfeld unterliegen Verantwortliche häufig einem Sog zur Vereinfachung und zur schnellen Lösung. Der Umgang mit komplizierten Fällen erfordert aber Langatmigkeit, Kommunikationsfähigkeit und das Aushalten von Ambiguitäten.
Um im Feld der Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt handlungsfähig zu bleiben, ist es erforderlich, Systemgrenzen und damit verbundene Verantwortungsbereiche zu klären und zu definieren. Im Falle der Caritas bedeutet dies, dass eine Auseinandersetzung unter anderem mit folgenden Fragen notwendig ist: Erfolgt die Implementierung von Schutzkonzepten in erster Linie über Top-down-Prozesse? Über welche ­Instanzen werden mit welcher Wirkmächtigkeit weltanschauliche Positionen zum Beispiel zu Fragen der Sexualität vermittelt? Geschieht dies in Form von Dogmen oder hierarchieübergreifenden Aushandlungsprozessen? Wer repräsentiert im Rahmen von Interventionen die „externe Instanz“? Bedeutet „extern“ eine Lokalisierung außerhalb der betroffenen Einrichtung, außerhalb des Trägers Caritas oder außerhalb der katholischen Kirche?
Das Verhältnis von innen zu außen und die Frage der Durchlässigkeit von Systemgrenzen sind elementar für einen professionellen Umgang mit möglichen Gefährdungen durch sexualisierte Gewalt. Der Einbezug externer Instanzen ist im Übrigen kein Qualitätskriterium per se. In der Praxis zeigt sich nämlich, dass Informationen gegenüber solchen Instanzen gefiltert werden und dass die zeitliche Dauer der Zusammenarbeit häufig willkürlich gehandhabt wird. Die Hinzuziehung einer außerhalb des Systems liegenden Expertise kann im Sinne des Kinderschutzes aber nur dann einen handlungspraktischen Mehrwert erzielen, wenn Informationen vollumfänglich zur Verfügung gestellt werden und die Zusammenarbeit sowohl verbindlich als auch prozesshaft gestaltet wird.
Prävention nicht zum Selbstzweck
Die vielschichtigen innerkirchlichen Bemühungen um Prävention von sexualisierter Gewalt, die durchaus nicht erst seit dem Jahr 2010 zu beobachten sind und durch die Verabschiedung einer Rahmenordnung für Prävention durch die Deutsche Bischofskonferenz weitere wichtige Impulse erhalten haben, bedürfen einer ständigen kritischen Reflexion. Prävention erfüllt keinen Selbstzweck, und die Kriterien ihrer Wirksamkeit sind nur begrenzt bestimmbar und zu evaluieren. Die in diesem Bereich ausgeprägten Aktivitäten aufseiten der katholischen Kirche erwecken in der Außenperspektive zuweilen den Eindruck eines kompensatorischen Aktionismus, der zumindest partiell dem Primat einer positiven Außenwirkung unterworfen ist. Es ist, als würde das schlechte Gewissen über das nicht mehr zu leugnende Ausmaß an sexualisierter Gewalt innerhalb der katholischen Kirche eine wesentliche Triebfeder für diesen Aktionismus darstellen. Aufgrund des hohen Drucks der Öffentlichkeit, der von den Medien immer wieder neu entfacht wird, entsteht ein offensichtlich wirkmächtiger gesellschaftlicher Imperativ, der nicht notwendig mit intrinsischen Motivationen katholischer Einrichtungen und Akteure korrespondiert. Symptome dieser Diskrepanz werden an den Grenzen institutioneller Machbarkeit sichtbar, wenn personelle, finanzielle, räumliche oder mentale Ressourcen zur Umsetzung gut gemeinter Präventionsaktivitäten fehlen. Symptome zeigen sich auch in der „Übersättigung“ von Fachkräften, die gegen die fortdauernde Auseinandersetzung mit dem aus ihrer Sicht in der Praxis selten anzutreffenden Thema sexualisierte Gewalt zunehmend Widerstände entwickeln. Symptome zeigen sich ebenso in der in den Diözesen (und in einzelnen Einrichtungen) höchst unterschiedlichen Bereitschaft, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Symptome zeigen sich in den Widerständen älterer Kleriker und möglicherweise auch in einer Art Überformalisierung von Schutzkonzepten und Verfahrensabläufen, die stärker auf das Bemühen um eine Absicherung der Institution und ihres Personals als auf einen wirksamen Schutz von Mädchen und Jungen hinweisen. Diese Symptome müssen ernst genommen werden. Die katholische Kirche ist in einer Situation, in der sie es sich nicht leisten kann, „zu wenig“ für den Schutz von Minderjährigen vor sexualisierter Gewalt zu tun. Sie muss nach außen einen Perfektionsanspruch behaupten, der tatsächlich gar nicht realisierbar ist. Dies steht im Widerspruch zu einer Kultur der Fehlerfreundlichkeit, wie sie für das Gelingen von institutioneller Prävention konstitutiv ist. Symptome, Widersprüche, Paradoxien müssen als solche erkannt, benannt und einem angstfreien Diskurs zugeführt werden. Der reaktive, Perfektion behauptende Aktionismus auf äußeren Druck ist kein wirksames Mittel gegen sexualisierte Gewalt.
Sexualität: Was ist schädigend, was ist erlaubt?
Der Diskurs über sexualisierte Gewalt bewirkt eine sich zunehmend ausdifferenzierende Verständigung darüber, was im Bereich der Sexualität verboten, inakzeptabel, schädigend ist. Prävention heißt aber auch, darüber ins Gespräch zu kommen, was im Bereich der Sexualität erlaubt ist. Ist es in Ordnung, wenn eine 14-Jährige mit ihrem 13-jährigen Freund schläft? Ist es in Ordnung, wenn zwei 15-jährige Jungen miteinander Analverkehr haben? An solche Fragen heften sich vielfältige Normativitätsdimensionen, die durchaus miteinander konkurrieren können: Geht es bei der Beurteilung von Normalität um moralische Empfindungen, um statistische Häufigkeiten, um Gefährdungen für die (psychische) Gesundheit oder um altersbezogene Entwicklungsnormen? Woran orientieren sich Fachkräfte, wenn sie darüber entscheiden sollen, wie Jugendliche in stationären Einrichtungen der Caritas ihre Sexualität leben dürfen? Es bedarf eines fachlich fundierten, diskursiv gestaltbaren Referenzrahmens, um hier zu einer pädagogischen Praxis zu gelangen, die die Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen ebenso im Blick hat wie deren Bedürfnis nach Nähe, Explorationsmöglichkeiten und Schutz.
Der katholische Referenzrahmen zur Sexualität ist problematisch. Man kann hier von einem jahrhundertelang tradierten geschwätzigen Beschweigen von Sexualität sprechen: Zölibat, Ehe, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Homosexualität, kirchenrechtliche Bestimmungen, Abtreibung … Die katholische Kirche äußert sich wirkmächtig zur menschlichen Sexualität, aber sie hat dies von jeher in einer dogmatischen und nicht diskursiven Form getan. Das Dogma bestimmt, was man nicht darf, aber es beinhaltet keine Aussage über die Komplexität, Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Veränderbarkeit menschlicher Sexualität und zwischenmenschlicher sexueller Beziehungen. Der geschwätzig verschweigende katholische Referenzrahmen zur Sexualität nimmt zuweilen die Form einer ­institutionellen Aphasie an, wobei dieser Begriff durchaus sowohl im klinischen als auch im philosophischen Sinne verstanden werden kann. Dieser Referenzrahmen wird immer noch in wesentlichen Teilen von zölibatär lebenden Männern gehütet, und man versteht nicht so recht, warum ausgerechnet sie Richtungsweisendes zum Thema beitragen können.
Aufarbeitung heißt: sich aussetzen, sich hinterfragen
Die katholische Kirche steht seit einiger Zeit vor der großen Aufgabe der Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt, die in ihrem Verantwortungsbereich verübt wurde. Hier wäre für die Caritas erneut die Frage zu überlegen, wie die jeweiligen Systeme zu definieren sind, die Aufarbeitung zu leisten haben. Aufarbeitung muss nicht unbedingt von "der Kirche" umgesetzt werden. Jede Organisation ist aufgefordert, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, in welchem Ausmaß es in ihrem eigenen Bereich Ansatzpunkte zur Aufarbeitung gibt. Aufarbeitung bietet wichtige (und wahrscheinlich unverzichtbare) Impulse für die Prävention. Aufarbeitung ist ein Prozess, der nur gemeinsam mit Betroffenen initiiert und gestaltet werden kann. Auch das heißt für Institutionen: sich aussetzen, Gefühle aushalten, die eigene Funktionsweise hinterfragen, Widersprüche als solche akzeptieren. Das heißt auch: Für Betroffene da sein und Täter benennen - und nicht in jener Paradoxie zu verharren, in die sich das Bistum Hildesheim verstrickte: "Wir glauben Betroffenen - wenn sie tatsächlich betroffen sind."
Anmerkung
1. Siehe dazu Hackenschmied, G.; Mosser, P.: Gutachten: Untersuchung von Fällen sexualisierter Gewalt im Verantwortungsbereich des Bistums Hildesheim - Fallverläufe, Verantwortlichkeiten, Empfehlungen. München: Institut für Praxisforschung und Projektberatung, München, 2017. Verfügbar unter: www.ipp-muenchen.de/texte/IPP_Muenchen_Gutachten_Bistum_Hildesheim.pdf ;
Keupp, H.; Straus, F.; Mosser, P.; Hackenschmied, G.; Gmür, W.: Schweigen, Aufdeckung, Aufarbeitung. Sexualisierte, psychische und physische Gewalt im Benediktinerstift Kremsmünster. Wiesbaden: Springer VS, 2017.
Keupp, H.; Straus, F.; Mosser, P.; Gmür, W.; Hackenschmied, G.: Sexueller Missbrauch und Misshandlungen in der Benediktinerabtei Ettal. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Wiesbaden: Springer VS, 2017.
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