Abstinenz-Ziel im Wandel
Zugegeben, diese Debatte ist nicht ganz neu: Schon seit geraumer Zeit diskutiert die Fachwelt über Abstinenzorientierung als Therapieziel der ersten Wahl in der Beratung und Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen. Zudem gilt die Abstinenzorientierung in bestimmten Suchthilfekontexten - etwa in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (Entwöhnungsbehandlung) und der Sucht-Selbsthilfe - weiterhin als übergeordnetes wesentliches Ziel.
Die abstinenzorientierten Ziele in Beratung und Behandlung für Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Suchtstörungen haben sich aber zwischenzeitlich deutlich differenziert und eine neue Bedeutung erfahren. Der vorliegende Beitrag ist auch ein Ergebnis von Fachdebatten in der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchthilfe (AKS).
Die Suchthilfe arbeitet bereits seit 2001 nach der Zielesystematik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), die unterschiedliche Teilziele bis zum Erreichen einer dauerhaften Abstinenz kennt.2 In der Praxis der professionellen Suchtarbeit haben sich, neben dem Therapieziel der Abstinenz als erste Wahl, zwischenzeitlich weitere Zieloptionen etabliert. Das eigentlich Neue an ihnen ist, dass sie nicht grundsätzlich von einem Fernziel der vollständigen Abstinenz als Behandlungsziel ausgehen. Die Praxis der Suchtarbeit orientiert sich vielmehr auch an Zielen wie Teilabstinenz (bezogen auf bestimmte Suchtmittel), Punktabstinenz (ausgerichtet auf einen situativen Anlass des Konsums), kontrollierte Abstinenz, die eine Trinkmengenreduktion erreichen will, oder Abstinenz unter fortgesetzter Dauermedikation (zum Beispiel bei Substitution, bei zusätzlichen psychiatrischen Diagnosen sowie bei Cannabis als Medikament) oder der Begleitung des Konsums im Rahmen von Harm Reduction (Schadensreduzierung und Überlebenshilfe).
Auf diese Entwicklungen hat auch die Behandlungsleitlinie Alkoholbezogene Störungen (AWMF 2015) reagiert, die zwar unverändert Abstinenz als Therapieziel der ersten Wahl für Alkoholabhängige empfiehlt, andererseits aber auch auf Maßnahmen zur Konsumreduktion und Risikoverringerung bei schädlichem oder riskantem Alkoholkonsum setzt.3
Die Hintergründe für diese Debatten und Entwicklungen in der professionellen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe sind ebenso vielschichtig wie deren Erscheinungsformen und Strömungen.
Entwicklungen der professionellen Suchthilfe
Ansätze von Harm Reduction mit dem Ausgangspunkt, der Verelendung in der Drogenszene entgegenzuwirken, haben in der Vergangenheit zu einer Vielfalt von Maßnahmen geführt, die nicht primär Abstinenz zum Ziel haben. Maßnahmen von Harm Reduction, wie beispielsweise die Einrichtung von Konsumräumen, zielen darauf ab, "die negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen des Drogenmissbrauchs für die betroffenen Menschen und die Gesellschaft insgesamt zu verringern. Maßnahmen der Harm Reduction richten sich nicht primär gegen den Konsum von Betäubungsmitteln, sondern gegen seine nachteiligen Folgen, wie etwa die Ansteckung mit übertragbaren Krankheiten oder auch die soziale Verelendung".4
Die substitutionsgestützte Behandlung, bei der ein Medikament (Substitutionsmittel) die Droge ersetzen soll, ist fester Bestandteil der Drogentherapie - mit dem Ziel der Abstinenz (letztendlich auch vom Substitutionsmittel). In der Praxis der Suchthilfe diskutiert und von Teilen der Expert(inn)en gewünscht ist die Ausweitung der bestehenden abstinenzorientierten Behandlung substituierter Drogenabhängiger auf eine Substitutionsbehandlung unter fortlaufender Substitution als Regelbehandlung (ohne Abdosierung des Substitutionsmittels).
Die Behandlungsbedarfe von Menschen mit Suchtproblemen sind individueller und differenzierter geworden. Dementsprechend breiter gefächert beziehungsweise individuell sind heute auch die Beratungs- und Behandlungsansätze und die Angebote bei Suchtproblemen. Gemeinsam mit den Betroffenen werden bedarfsgerechte und realisierbare Behandlungsziele herausgearbeitet. Bestimmend für die Entwicklung von Beratungs- und Behandlungszielen sind darüber hinaus maßgeblich diagnostische Aspekte wie auch Rahmensetzungen beispielsweise von Leistungsträgern, die für die Entwöhnungsbehandlung Abstinenz als Ziel definieren.
Damit in Zusammenhang steht auch die Diskussion über die sogenannte "zieloffene Suchtarbeit", die auf den Ansatz von Joachim Körkel zurückgeht. "Zieloffene Suchtarbeit bedeutet, mit Menschen an einer Veränderung ihres problematischen Suchtmittelkonsums zu arbeiten, und zwar auf das Ziel hin, das sie sich selbst setzen."5 Der Ansatz der zieloffenen Suchtarbeit nach Körkel (ZOS) verbindet die beiden Zieloptionen "Abstinenz" und "Konsumreduktion". Dabei setzt er konsequent an Zielvorstellungen und -entscheidungen der Klient(inn)en an und sieht Abstinenz- und Reduktionsbehandlungen für alle einschlägigen Substanzen vor.6 Zwischenzeitlich haben Angebote des "kontrollierten Trinkens" beziehungsweise der "Trinkmengen-Reduktion" sowohl im Bereich der Wohnungslosenhilfe als auch bei Maßnahmen der Frühintervention in der Suchthilfe Einzug gehalten.
Zu Fragen der Abstinenzorientierung und zur Differenzierung im Behandlungsangebot gehört auch die seit Jahren geführte Debatte um die sogenannte "vergessene Mehrheit" (Günther Wienberg)7. Wesentliche These dieser Debatte ist, die Angebote der Suchthilfe erreichten die tatsächliche Zahl der von Suchtproblemen betroffenen Menschen nicht. Viele der Betroffenen nähmen zwar Behandlungsangebote im Rahmen des Gesundheitswesens wahr, zum Beispiel in Akutkrankenhäusern, bei niedergelassenen Ärzt(inn)en und Therapeut(inn)en usw. Diese Menschen würden aus unterschiedlichen Gründen aber nicht unmittelbar von den Behandlungsangeboten der Suchthilfe erreicht.
Der Versuch, das Beratungs- und Behandlungsspektrum der Suchthilfe zu erweitern, hat in einem wesentlichen Schritt auch zum Ausbau von Früherkennungs- und Frühinterventionsangeboten geführt wie SKOLL (Selbstkontroll-Training)8, FreD (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten)9 oder HaLT (Hart am Limit)10 wie auch von Kurzzeitinterventionen. All diese Maßnahmen haben zum Ziel, Betroffene frühzeitiger zu erreichen. Das bedeutet auch, sie in einem Stadium des riskanten und/oder missbrauchenden Konsums zu erreichen und zu begleiten, das eine Abstinenz als Behandlungsziel nicht zwingend voraussetzt. Maßnahmen in diesem Bereich setzen am Versuch der Konsumreduktion an, beinhalten aber auch motivierende Hilfen zur Abstinenz.11
Derzeit sind mehrere Medikamente zur Behandlung von Alkoholabhängigkeit auf dem Markt, die durchaus auch das Ziel suggerieren, Abstinenz zu erreichen. Genauer betrachtet geht es bei der medikamentösen Behandlung jedoch um Rückfallvorbeugung und/oder um Trinkmengen-Reduktion. Daher sollten die Erwartungen an medikamentöse Behandlungsstrategien realistisch bleiben. Auch in Zukunft ist nicht davon auszugehen, dass Suchterkrankungen medikamentös "geheilt" werden können.12
In den letzten Jahren wurde auch dem Phänomen der Selbstheilung bei Alkoholabhängigkeit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. Von Selbstheilung wird ausgegangen, wenn jemand ohne professionelle Hilfe zwölf Monate lang nicht mehr die Kriterien einer Abhängigkeit aufweist.13 Dabei bedeutet Selbstheilung nicht Abstinenz. Nur ein Teil der Selbstheiler(innen) entscheiden sich für Abstinenz, andere finden zu einem "klinisch unauffälligen Konsum". Nach Studien von Rumpf et al. liegt die Selbstheilungsrate bei Alkoholabhängigkeit in Deutschland bei 53 Prozent.14
Erforderliche Veränderungen in der Sucht-Selbsthilfe
In der Sucht-Selbsthilfe fällt auf, dass seit geraumer Zeit die Abstinenzorientierung kontrovers diskutiert wird - dies vor dem Hintergrund der veränderten Konzepte in der professionellen Suchthilfe sowie einer sehr unterschiedlichen Praxis einzelner Selbsthilfegruppen: Ist Abstinenz alternativlos? Was ist unter einer niedrigschwelligen Selbsthilfe zu verstehen? Wie wirken sich unterschiedliche Abstinenzakzentuierungen - Abstinenz als Ziel oder als Prozess - auf die Selbsthilfe-Praxis aus?
Im Kreuzbund15 als Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und ihre Angehörigen haben sich seit Jahren vielfältige Gruppenkulturen etabliert. Die weit überwiegend abstinenzorientierten Gruppen haben sich als suchtmittelfreie Auseinandersetzungs- und Schutzräume bewährt. Sie sind und bleiben bedeutsam.
Unter ihnen gibt es Gruppen, für die es mittlerweile selbstverständlich geworden ist, Hilfesuchende zu begleiten, die hinsichtlich ihres Abstinenzwillens (noch) nicht entschieden, jedoch an einer Stabilisierung ihrer Lebenssituation interessiert sind und dabei Unterstützung suchen. Diese Hilfesuchenden werden vor allem in Selbsthilfegruppen mit mehrfach abhängigen Menschen suchtbegleitend unterstützt. Hier darf es zum Beispiel das erklärte Ziel eines Hilfesuchenden sein, nur auf das Primärsuchtmittel zu verzichten und andere Suchtmittel weiterzunutzen, um im Schutze der Gruppe entsprechende Möglichkeiten und Erfahrungen darüber auszutauschen und sich zufriedenstellende Perspektiven zu erarbeiten.
Diese niedrigschwellig begleitende Selbsthilfearbeit mancher Gruppen ist in vielen Kreuzbund-Settings nicht bekannt und wird deshalb oft aus Unkenntnis als nicht umsetzbar bewertet. Daher gilt es, auf allen Verbandsebenen offensiv zu kommunizieren, dass es in etlichen Regionen bereits ein funktionierendes Mit- beziehungsweise Nebeneinander von abstinenzorientierten und niedrigschwellig begleitenden Gruppen gibt.
Eine an den vielfältig gewordenen Bedarfen der Hilfesuchenden orientierte Suchthilfe ist dringend angezeigt; auch die Sucht-Selbsthilfe sollte für sie gewonnen werden. Dies entwertet keinesfalls den von der überwiegenden Zahl der Selbsthilfe-Mitglieder von großer Überzeugung getragenen persönlichen Weg in die Abstinenz. Eine offene Diskussion um die Vielfalt möglicher Wege in ein selbstbestimmtes Leben, das nicht von Suchtmitteln dominiert wird, ist für die Weiterentwicklung der Selbsthilfe in einem modernen Suchthilfeangebot nur förderlich.
Professionelle Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sind eigenständige Hilfeansätze im Bereich der Suchtarbeit. Die beschriebene Differenzierung im Hilfefeld erfordert die konsequente Zusammenarbeit beider Ansätze.
Anmerkungen
1. Im Text wurde der Begriff "professionell" gewählt. In zurückliegenden Veröffentlichungen der Caritas findet sich vielfach der Begriff "beruflich", der inhaltlich synonym zu sehen ist.
2. DHS e.V.: Ziele und Aufgaben der Suchtkrankenhilfe. In: Situation und Perspektiven der Suchtkrankenhilfe, Positionspapier, Hamm, 2001, S. 14-16.
3. S3-Leitlinie "Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen", AWMF-Register Nr. 076-001, 2016.
4. Drucksache Deutscher Bundestag 16/12628, 2009 (Auszug).
5. Körkel, J.: Das Paradigma Zieloffener Suchtarbeit: Jenseits von Entweder-Oder. In: Suchttherapie, 2014, S. 165-173, hier: S. 167.
6. Ebd.
7. Wienberg, G. (Hrsg.): Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen. Köln: Psychiatrie-Verlag, 1992.
8. Vgl. www.skoll.de
9. Vgl. www.caritas-olpe.de/529
10. Vgl. www.halt.de
11. S3-Leitlinie, a. a. O.
12. Brecklinghaus, M.: Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit. In: Konturen online, www.konturen.de/2018
13. Vgl. Holthaus, M.: Die Selbstheilung von Suchtkranken ist möglich. In: neue-caritas-Jahrbuch 2019, S. 30 ff.
14. Rumpf, H.-J.: Selbstheilung bei Abhängigkeitserkrankungen: Was kann man von ihnen lernen? In: Wissenschaftliche Jahrestagung 2010; und Rumpf, H.-J. et al. in: Fachzeitschrift Sucht, Hogrefe 2000, Volume 46, S. 9-17.
15. www.kreuzbund.de
Sozialpädagogik statt Haft
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Kein Raum für Missbrauch und kein Schweigen bei Verdacht
Die Bedürftigkeit zählt, nicht die Herkunft
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