Damit Beratung ankommt
Der „Digital Turn“ ist in der psychosozialen Beratung bereits seit geraumer Zeit im Gange. Vor gut 20 Jahren schon startete die Telefonseelsorge mit der Beratung über das Internet. Mittlerweile existiert eine Vielzahl an unterschiedlichen internetbasierten Beratungsangeboten. Insbesondere als Angebotsstruktur in der Kinder- und Jugendhilfe ist Online-Beratung mittlerweile fester Bestandteil. So gesehen hat sich neben der Präsenz- und Telefonberatung die Online- Beratung als dritte Säule in der psychosozialen Beratungslandschaft etabliert – mit differenzierten und methodisch vielfältigen Ansätzen, so dass sich im Lauf der kurzen Geschichte der Online-Beratung neue Angebote für Menschen entwickelt haben, die kaum in ein persönliches Beratungssetting kämen.
Ratsuchende: verändertes Kommunikationsverhalten...
Weitgehend findet Online-Beratung textbasiert statt, so dass die mit der Schriftlichkeit einhergehenden besonderen Vorteile für den Beratungsprozess genutzt werden können: Schreiben ermöglicht Zugänge zu Unbewusstem (Schreibtherapie), bietet sich als selbst-reflexives Medium an, erzeugt eine eigene Wirkmächtigkeit und vermag verdeckte Ressourcen neu zu deuten.
„Telefonieren tu ich nur mit alten Leuten“ (SZ vom 4./5. März 2017). Dieses Statement eines 14-Jährigen zeigt eindrücklich auf, wie sehr sich Kommunikationsmuster innerhalb einer Generation verändert haben. Neben der alltäglichen, sprachlichen Kommunikation ist eine weitere, über digitalisierte Medien vermittelte Online-Kommunikation getreten, für deren Zustandekommen die gleichzeitige Anwesenheit von Personen nicht erforderlich ist.
Die verfügbare „Kommunikationszeit“ verschiebt sich stärker in den digitalen Raum und prägt den gesellschaftlichen Umgang. Dies lässt sich auch an der zunehmenden Zeit ablesen, die täglich im Internet verbracht wird: Im Durchschnitt aller Altersgruppen betrug die Internet-Nutzungsdauer 2018 gut dreieinviertel Stunden täglich (196 Minuten), 47 Minuten mehr als im Jahr zuvor. Dabei verbringt vor allem die Gruppe der bis 50-Jährigen täglich mehr als vier Stunden im Netz. Mit der intensiven Nutzung des Internets geht auch eine Veränderung der Einstellung einher: Das Internet ist mittlerweile zum täglichen Begleiter für alle möglichen Fragen und Themen geworden – und dies in allen Altersgruppen.
Insofern verwundert es nicht, wenn für viele Menschen die digital vermittelte mediale Kommunikation bereits so fest im Alltag verwoben ist, dass der Verzicht darauf in vielerlei Hinsicht einem gesellschaftlichen (Teil-)Ausschluss gleichkommen würde.
...erfordert neue Beratungsangebote
Für die psychosoziale Beratungspraxis bedeutet dies zunächst, dass sie Online­-Beratung vorhalten muss, wenn sie Ratsuchende nicht ausschließen will. Dies zieht konsequenterweise auch einen Wandel der Beratungspraxis nach sich.
Allerdings sind es vor allem die Ratsuchenden, die ihre Anfragen auch über das digitalisierte Kommunikationsnetz stellen, während die Beratungs-Fachkräfte sich mit internetbasierten Beratungs- und Unterstützungs-Angeboten noch etwas zurückhalten. Für den Erziehungswissenschaftler und systemischen Berater Joachim Wenzel ist der „Mythos der Unmittelbarkeit“ der Face-to-Face-Kommunikation eine mögliche Ursache, nach dem „die Beratung von Angesicht zu Angesicht … der Telefonberatung, Mailberatung und Chatberatung … überlegen sei“.1 Entsprechend wurde – und wird manchmal noch – Online-Beratung als Surrogat für die eigentliche Form der Beratung, die Präsenzberatung, angesehen. Dabei sind Empathie und Mitgefühl auch jenseits körperlicher Anwesenheit realisierbar, und Nähe lässt sich gerade in der Online-Kommunikation durch Distanz erleben. Zudem weisen Studien eine intensive Beratungsbeziehung bei internet-basierten Beratungsangeboten nach.
Überwindet man die Dichotomie zwischen Online- und Präsenzberatung, der je nach genutztem Medientypus (Körper, Telefon, digitale Endgeräte) unterschiedliche Realitätsgehalte zugeschrieben werden, wird der Blick auf das Thema „Blended Counseling“ (übersetzt etwa: gemischte Beratung) frei, dem für die Weiterentwicklung von Beratung zentrale Bedeutung zukommt. Die professionellen Interaktionen mit den jeweiligen Klient(inn)en als einheitliche Kommunikationsprozesse zu verstehen, die sich in verschiedenen Medien realisieren, führt dazu, auch den Beratungsprozess mit unterschiedlichen Medien zu gestalten, um die ratsuchenden Menschen mit ihren kommunikativen Möglichkeiten in den Mittelpunkt zu rücken und förderliche Entwicklungen anregen zu können.
Klienten und Fachkräfte profitieren
Für viele Klient(inn)en bietet die Online-Beratung einen lebenswelt-nahen, niedrigschwelligen Zugang zur psychosozialen Beratung. Die zeitliche und räumliche Unabhängigkeit der Online-Beratung erleichtert es manchen Zielgruppen, dann um Hilfe nachzusuchen, wenn es ihnen möglich und wichtig ist. Als zusätzliche Kontaktmöglichkeit neben dem Telefon erleichtert sie den Einstieg in eine Beratung. Durch die Anonymität sinkt die Hemmschwelle, angst- und schambesetzte Themen anzusprechen. Zudem können Impulse nachgelesen und vertieft werden. In der „Blended Counseling“-Variante können während eines Präsenz-Beratungsprozesses auch kurzfristig Kontakte online aufgenommen werden und umgekehrt, bevor sich beispielsweise Problemsituationen zu Krisen auswachsen. Auch nach der Beendigung eines Beratungsprozesses kann ein Onlineangebot eine unkomplizierte und komfortable Möglichkeit sein, Kontakt aufzunehmen, um auftretende Schwierigkeiten sofort zu beheben und den Beratungserfolg nachhaltig zu gestalten.
Von den vielfältigen Zugangs- und Kommunikationswegen der Beratung profitieren die Fachkräfte ebenfalls, bieten diese Wege doch die Möglichkeit, die eigene Arbeitsumgebung flexibler zu gestalten und methodisch vielfältiger zu beraten. Zudem können unterschiedliche mediale Kanäle (Präsenz- beziehungsweise Online-Modus) dazu beitragen, den Beratungsprozess zu stabilisieren und zu intensivieren und damit die Zufriedenheit mit der Beratung zu erhöhen – für Ratsuchende wie Fachkräfte.
Berater brauchen erweiterte Qualifikationen
Eine digitale Transformation der Beratung setzt allerdings sowohl fachliche wie auch organisatorisch-institutionelle Bedingungen voraus. Berater(innen) brauchen eine souveräne Medienkompetenz. Diese umfasst neben dem technischen Umgang mit Online-Beratungs-Tools eine besondere Datenschutz-Kompetenz sowie auch die Reflexions-Kompetenz, die Passung von Beratungszielen und (digitalen) kommunikativen Settings zu klären. Zudem gilt es insbesondere für die Beratungsfachkräfte, ihre vor allem auf dem visuellen Eindruck basierende diagnostische Kompetenz zu erweitern. Es bedarf einer spezifischen hermeneutischen Qualifikation, die in Texte gekleideten Problemlagen, deren Emotionen und Kognitionen lesend zu verstehen und das Beratungsangebot in einer auf die Person des Schreibenden passenden Antwort zu transportieren. Die Bedeutung dieser Kompetenz für einen gelingenden Online-Beratungsprozess wird bei den Fachkräften häufig unterschätzt. In einer internetgestützten Beratung wird für sie zudem eine „konfigurative“ Kompetenz bedeutsam, die darauf zielt, Wissen und Orientierung für die Interaktionen mit dem jeweils individuellen Klienten zu entwickeln, die jeweils einzelne Person konkret bei einer nachhaltigen Problemlösung und Zukunftsentwicklung zu unterstützen und mit Hilfe spezifisch und individuell angewandten Wissens zu mehr Selbstmanagement und Empowerment zu befähigen. Für Beratungsfachkräfte bedeutet dies, in der konkreten Beratungssituation erforderlichenfalls auch zusätzliches Expertenwissen hinzuzuziehen und eine verstärkte Kooperation und Kollaboration mit anderen Fachkräften (trägereigenen wie -fremden) einzugehen, um eine individualisierte Klienten-zentrierte Beratungsleistung erbringen zu können.
Dadurch, dass Informationen und Orientierungen jederzeit im Netz zur Verfügung stehen, steigen die Erwartungen der Klient(inn)en an individualisierte spezifische Beratungs-Konfigurationen. Die erwartete, stark an die jeweils einzelne Person ausgerichtete Problemlösung mit den jeweils individuell organisierten medialen Beratungssettings steht dann im Widerspruch zu den häufig bereits vorgegebenen Problemdefinitionen (zum Beispiel nach Lebenslagen), wie sie organisationalen Kontexten geschuldet sind und sich in einer Versäulung der Beratung nach Problem-Zuständigkeiten wiederfinden. Insgesamt gesehen ergibt sich ein permanenter Qualifikations- und Adaptionsbedarf für die Fachkräfte, denn die Beratungsarbeit wird für sie anspruchsvoller werden.
Neue organisationsbezogene Entwicklungsaufgaben
Netzspezifische Beratungsangebote, die – aus Ratsuchenden-Sicht – die Vorteile des Internets nutzen, müssten weitgehend als netzwerkartiger Zusammenschluss von Einzeleinrichtungen organisiert sein. Die technischen Möglichkeiten, zum Beispiel zu einem Beratungsgespräch weitere (externe) Expert(inn)en hinzuzuziehen, um der Komplexität einer geschilderten Problemlage zu begegnen, oder Peers aufgrund ihrer erhöhten Akzeptanz in die Beratung einzubinden, sind konsequenterweise mit organisatorischen Bedingungen zu hinterlegen. Ebenso beinhaltet der Wechsel zwischen Online-Beratung und Präsenzberatung innerhalb eines Beratungsverlaufs (Blended Counseling) besondere technische wie organisatorische Vorkehrungen, zum Beispiel zur Dokumentation.
Diese Form der Netzwerkstruktur geht weit über die häufig praktizierte Verweisungspraxis zwischen einzelnen Angeboten und Trägern hinaus und würde einen echten Mehrwert für Ratsuchende darstellen. Allerdings nutzen bislang nur wenige Online-Beratungs-Angebote derzeit das Potenzial im Sinne einer netzwerkorientierten Beratung und Unterstützung vollständig aus. So gibt es nur eine geringe Anzahl an Angeboten, die beispielsweise Präsenz- und Online-Beratung systematisch miteinander verbinden, trägerübergreifende und fach- und professions-übergreifende Beratung bieten, oder professionelle Beratung mit Peerberatung und Selbsthilfe verknüpfen.
Hier liegen noch erhebliche organisationsbezogene Entwicklungsaufgaben für die Online-Beratung, denn der augenblickliche Mainstream tendiert eher in eine andere Richtung: Bevorzugt wird eine verbandsspezifische Institutionalisierung der Online-Beratung, bei der die einzelnen größeren Verbände die Online-Beratung nutzen, um „systemintern mit einer jeweils eigenen technischen Plattform sich gegenüber Mitbewerbern am Sozialmarkt mit einem eigenen Profil zu positionieren“.2 Dass einer netzwerkorientierten Beratung und Unterstützung vor allem auch sozialräumlich verplante und zugeteilte Ressourcen im Weg stehen, an deren gebietskörperschaftlichen Grenzen das Netz nicht halt macht, lässt erahnen, wie tiefgreifend eine digitale Transformation der Beratung (wie auch sonstiger sozialer Dienstleistungen) das bisherige wohlfahrtsstaatliche Gefüge durcheinanderrütteln kann.
Eine besondere Herausforderung für Träger einer internetbasierten und netzwerkartig gestalteten Online-Beratung ist die Notwendigkeit, die den Beratungsprozessen folgende Gestaltung der Arbeitsprozesse mit der Technikentwicklung zusammen zu denken und Fachkräfte wie Klient(inn)en in Gestaltungsprozesse einzubeziehen. Soziale Organisationen tragen eine besondere Verantwortung dafür, Arbeitsprozesse klient(inn)en- wie mitarbeiter(innen)-gerecht zu gestalten. Diese Form der „digitalen“ Verantwortung gilt es viel stärker als bisher durch den Einbezug von Mitarbeiter(inne)n und Klient(inn)en in die Gestaltung sozialer (Beratungs)Dienstleistungen einzulösen, denn sie ist einer der wichtigsten fördernden Faktoren für den Erfolg digitaler Dienstleistungen.
Die Caritas hat mit der Neuentwicklung ihrer Online-Beratungsplattform auf die Herausforderungen der digitalen Transformation in der psychosozialen Beratung reagiert. Sie hat damit die Chance, eine innovative, netzwerkorientierte und nutzerzentrierte Beratung für die Ratsuchenden zu organisieren. Wenn die damit verbundenen fachlichen und organisations-bezogenen Entwicklungsaufgaben ebenfalls gemeistert werden, gilt für die Caritas auch in Zukunft der Leitsatz: Nah am Nächsten (s. dazu S. 14 ff. in diesem Heft).
Anmerkungen
Die verwendete Literaturliste kann angefordert werden.
1. Wenzel, J.: Mythos Unmittelbarkeit im Face-to-Face-Kontakt. Weiterentwicklung von Beratung und Therapie durch gezielte methodische Nutzung der Medien. E-beratungsjournal 11/2015 (1), S. 36–54.
2. Gehrmann, H.-J.: Onlineberatung – zwischen Wachstum und Ernüchterung. In: Bauer, P.; Weinhardt, M. (Hrsg.): Perspektiven sozialpädagogischer Beratung. Empirische Befunde und aktuelle Entwicklungen. Weinheim: Beltz Juventa, 2014, S. 65–81.
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Digitalisierung bei der Caritas Schweiz
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Wohlfahrt 4.0: Nur sicher ist sicher
Gegen Missbrauch in Kirche und Caritas
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