Muslimische Lebenswelten in Deutschland sind selbstverständlich
Ich bin nicht Charlie, ich bin Muslim!" - Mit diesen Worten reagierten zahlreiche junge Muslim(inn)e(n) in sozialen Medien, aber auch in Schule und Jugendeinrichtungen auf die Anschläge in Paris im Januar 2015. In den Augen vieler Beobachter(innen) war dies eine Grenzüberschreitung: War dies nicht gleichbedeutend mit Sympathien für die Attentäter?
Die Reaktionen lassen sich auch anders deuten. Junge Muslim(inn)e(n) beklagen immer wieder, wie selten ihre Perspektiven, Interessen und Erfahrungen in der Öffentlichkeit Gehör finden. Hinter der Weigerung, sich der Aussage "Ich bin Charlie!" anzuschließen, verbarg sich vielfach der Wunsch, auch über Konflikte und Gewalt zu sprechen, die in der deutschen Öffentlichkeit nur selten zur Sprache kommen. Tatsächlich spielen Anschläge in Beirut, Ankara oder Bagdad oder muslimische Opfer des "Kriegs gegen Terror" in deutschen Medien oft nur am Rande eine Rolle.
Der Verein "Ufuq.de" setzt an diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen an und entwickelt Handlungsoptionen, um mit möglichen Konflikten in der pädagogischen Arbeit umzugehen.1 Dem Verein geht es darum, die Vereinbarkeit von "Charlie-" und "Muslimischsein" und die Selbstverständlichkeit von muslimischen Lebenswelten in Deutschland herauszustellen. Zielgruppe sind Jugendliche und pädagogische Fachkräfte. Die Erfahrungen aus der Projektarbeit wird genutzt, um Lernmaterialien und Handreichungen auch zu schwierigen Themen wie der Prävention von Radikalisierungen zu entwickeln.
Protest, Provokation oder Propaganda?
Viele Pädagog(inn)en äußern die Sorge, über Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus nur dann sprechen zu können, wenn sie selbst über umfangreiches Wissen über den Islam verfügen. Diese Sorge ist unbegründet, denn in der pädagogischen Arbeit geht es nicht darum, in detaillierte theologische Diskussionen einzusteigen, sondern darum, das Thema hinter dem Thema auszumachen. Denn auch hinter religiösen Fragen, beispielsweise zum Tragen des Kopftuchs, stehen in der Regel ganz allgemeine Fragen zu Identität, Geschlechterrollen und Körperlichkeit, die für alle Jugendlichen relevant - und die in der pädagogischen Arbeit auch mit nichtmuslimischen Jugendlichen alltäglich sind. In den Fortbildungen für Pädagog(inn)en liegt ein Schwerpunkt darauf, diese allgemeinen Themen zu erkennen und Ansätze aufzuzeigen, wie sie sich in der Arbeit mit jungen Muslim(inn)en aufgreifen lassen. Dies ist auch für die Präventionsarbeit gegen religiös begründete Radikalisierungen von Bedeutung. Auch hier ist es wichtig, zwischen Protest, Provokation und extremistischen Weltbildern in Äußerungen oder Verhaltensweisen von Jugendlichen zu unterscheiden und entsprechend zu reagieren. Denn nicht jede provokative Äußerung ist ein Hinweis auf Sympathien für den "Islamischen Staat" - auch wenn sie in der pädagogischen Arbeit trotzdem ernst genommen werden muss. Ein wichtiges Ziel der Fortbildungen besteht daher auch darin, rote Linien zu bestimmen, anhand derer sich legitime von problematischen Religionsbekundungen unterscheiden lassen. "AAA" ist dabei eine Merkformel, die sich im
- Anspruch auf absolute Wahrheit,
- Antipluralismus,
- Abwertung von anderen
und beschreibt Grenzen, die den meisten aus ihrer pädagogischen Praxis auch mit nichtmuslimischen Jugendlichen bekannt sind. Damit fällt vielen Pädagog(inn)en eine Last von den Schultern: Mobbing, Intoleranz und sozialer Druck sind pädagogischer Alltag. Das Rad muss daher auch in der Präventionsarbeit nicht neu erfunden werden, es geht vielmehr darum, bestehende Erfahrungen und Kompetenzen zu bestärken und für die Präventionsarbeit nutzbar zu machen.
Wie wollen wir leben?
In den Workshops für Jugendliche geht es auch um religiöse Themen, aber nicht darum, eindeutige und theologisch begründete Antworten vorzustellen. Es wird kein Religionsunterricht gehalten, sondern es geht um politische Bildung, in der Reflexionsprozesse angestoßen und eigene Positionen formuliert werden können. Ziel der Angebote ist es, Jugendliche dazu anzuregen, für sich selbst Antworten zu entwickeln, in denen sich religiöse und nichtreligiöse Werte und Normen und persönliche Interessen und Lebensrealitäten verbinden. "Wie wollen wir leben?" ist die Leitfrage, unter der Vorstellungen über Kleidungsregeln, Geschlechterrollen, Zugehörigkeit oder Freundschaft diskutiert werden. So lassen sich Fragen wie "Darf ich als Muslimin einen Freund haben?" oder "Dürfen sich Muslime tätowieren lassen?" in allgemeine Fragen über Werte und Normen übersetzen, in denen religiöse Perspektiven genauso einen Platz haben wie nichtreligiöse Zugänge. Die Erfahrungen aus diesen Workshops in Schulen und Jugendeinrichtungen zeigen, wie wichtig solche Räume sind, um über diese oft schwierigen Themen zu sprechen. Die Tatsache, dass auch unter Muslim(inn)en unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, was religiöse Traditionen für das Hier und Jetzt bedeuten, macht es für Jugendliche leichter, eigene Antworten für sich zu finden.
Mach dir ein eigenes Bild!
Der Islam ist in vielen Bereichen Gegenstand reger Debatten. Dennoch gibt es bis heute wenige Angebote, in denen muslimische Jugendliche Antworten auf lebensweltliche Fragen zur Religion finden können. Bei ihrer Suche landen sie oft nicht in Moscheen, sondern im Internet - und dabei sehr schnell auf salafistischen Websites und Foren. Tatsächlich haben salafistische Akteure in den vergangenen Jahren eine Deutungshoheit in sozialen Medien erlangt, die weit über die eigentliche Szene hinausreicht. Etwa 11.000 Personen wurden Anfang 2018 der salafistischen Szene zugeschrieben, deutschsprachige salafistische Online-Medien kommen auf über 250.000 Nutzer(innen). Vor diesem Hintergrund bietet das Projekt "Bildmachen" Workshops für Jugendliche, die für salafistische Ansprachen im Internet sensibilisieren und zugleich Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, um sich mit eigenen Meinungen und Perspektiven in soziale Medien einzubringen. Dabei geht es nicht darum, einfache Gegennarrative im Sinne von "In Deutschland ist alles bestens!" oder "Der Islam ist Frieden!" zu entwickeln, sondern darum, alternative Narrative vorzustellen, in denen auch Erfahrungen mit Rassismus oder Marginalisierung und unterschiedliche Vorstellungen von Religiosität sichtbar werden. Denn ein zentrales Argument salafistischer Ansprachen besteht gerade darin, eine Unvereinbarkeit von muslimischer Identität und Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu behaupten: Als Muslim(in) sei man zwangsläufig Opfer "des Westens" und Ziel von Anfeindungen und Gewalt von Nichtmuslim(inn)en. Umso wichtiger ist es, entsprechende Erfahrungen ernst zu nehmen und zugleich Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie man auch als Muslim(in) die eigenen Interessen einbringen kann.
In den Workshops entstehen daher Bilder und kurze Videos, in denen Jugendliche eigene Perspektiven darstellen und in sozialen Medien sichtbar machen: Es gibt tatsächliche Probleme und Missstände, aber auch Muslim(inn)e(n) sind nicht sprachlos und ohnmächtig - und den einen Islam gibt es nicht, sondern ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, was den Islam ausmacht.
Anmerkung
1. Weitere Informationen unter www.ufuq.de
Prävention ist alles
Abfrage der Konfession muss begründbar sein
Zum Stand der Salafismusprävention in Deutschland
Zusammenhalt muss erlebbar werden
Individuelle Lebensentwürfe erfordern eine individualisierte Personalpolitik
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