Erweiterte Schutzfristen und mehr Gestaltungsspielraum
Wir wissen, wie notwendig es ist, gerade in der Sozialpolitik, etwas für Europa Vorbildliches zu schaffen." Der Satz stammt aus einem Protokoll des Bundestags von 1951. Gegenstand war die Einführung des Mutterschutzgesetzes. "Angesichts der Veränderungen der gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen bedarf das seit 1952 in Kraft befindliche Mutterschutzgesetz einer grundlegenden Reform", zieht die Einführung in den Gesetzesentwurf im Jahr 2017 nach sechseinhalb Jahrzehnten nüchtern Bilanz.1
Die ersten Änderungen gelten bereits seit dem 30. Mai 2017. Zuerst werden die Schutzfristen in zwei Fallkonstellationen erweitert. Der erste Fall betrifft die Schutzfrist nach der Geburt. Schon nach den bisherigen Regelungen dürfen Mütter bis zu acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden. Nur bei Früh- und Mehrlingsgeburten war eine längere Schutzfrist von zwölf Wochen vorgesehen. Neu ist, dass diese längere Schutzfrist auch bei der Geburt eines Kindes mit Behinderung beansprucht werden kann. Dafür müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die Behinderung muss innerhalb von acht Wochen nach der Entbindung festgestellt werden. Außerdem muss die Mutter eines Kindes mit Behinderung die Verlängerung beantragen. Als zweite Neuerung wird ein Kündigungsschutz bei Fehlgeburten eingeführt. Bisher bestand Kündigungsschutz nur während der Schwangerschaft und für vier Monate nach der Entbindung eines Kindes mit einem Gewicht von mehr als 500 Gramm. Entbindung meint die Durchführung der Geburt durch einen Arzt oder eine Hebamme. Endete eine Schwangerschaft durch eine Fehlgeburt, entfiel der Kündigungsschutz. Mit der Reform wird der Kündigungsschutz in gleicher Länge auch bei Fehlgeburten eingeführt. Voraussetzung ist nur, dass die Fehlgeburt nach der zwölften Schwangerschaftswoche eintritt.
Umfassende strukturelle und materielle Änderungen werden zum 1. Januar 2018 wirksam. Strukturell wird die Mutterschutzverordnung in das Mutterschutzgesetz integriert. Zur besseren Lesbarkeit werden einige Regelungen in mehrere Paragrafen aufgeteilt (insbesondere Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit). Die Regelungen zu Mutterschutzlohn und Mutterschaftsgeld werden neu gegliedert. Begleitet wird dies von vereinheitlichten Vorgaben für die Berechnung des durchschnittlichen Arbeitsentgelts.
Mutterschutz nicht mehr an Arbeitsverhältnis gekoppelt
Inhaltlich wird der geschützte Personenkreis ausgeweitet. Dafür wird nicht mehr wie bisher an ein Arbeitsverhältnis angeknüpft. Stattdessen wird der weitergehende Begriff des Beschäftigungsverhältnisses aus dem Sozialrecht herangezogen. Außerdem gilt das Gesetz auch "ohne Beschäftigungsverhältnis" für Schülerinnen, Studentinnen, Praktikantinnen und Frauen in Freiwilligendiensten, Frauen mit Behinderung in Werkstätten für behinderte Menschen sowie für "arbeitnehmerähnliche Personen". Letztere sind überwiegend allein für eine Person tätig und wirtschaftlich von ihr abhängig. In dieser Gestaltung benötigen sie einen ähnlichen sozialen Schutz wie "normale" Beschäftigte. Unterschiede gibt es zum Beispiel beim Mutterschutzlohn.
Schwangere oder stillende Frauen dürfen in einer Woche nur so lange beschäftigt werden, wie es der Arbeitsvertrag vorsieht. Bei der Bewertung kommt es auf die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit pro Woche innerhalb eines Monats an. Die neue Regelung unterscheidet nicht mehr zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigung. Arbeitet eine Frau beispielsweise in einer Woche 30 Stunden, obwohl 20 Stunden vereinbart sind, müssen die zehn zusätzlichen Stunden in den restlichen Wochen des Monats ausgeglichen werden.
Die Regelungen zur Sonn- und Feiertagsarbeit werden von der Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe entkoppelt. Stattdessen ist nun die Bereitschaft der Frau zur Arbeitsleistung maßgeblich. Sie muss ausdrücklich erklärt und kann jederzeit, aber nur mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden.
Strengere Regeln für Schichtarbeit
Änderungen gibt es auch bei der Nacht- und Schichtarbeit. Arbeit zwischen 20 und 6 Uhr ("Nachtarbeit") bleibt unzulässig. Wenn bestimmte Vorgaben eingehalten werden, dürfen schwangere und stillende Frauen aber bis 22 Uhr arbeiten. Dafür muss der Arbeitgeber eine behördliche Genehmigung beantragen und "alle für die Prüfung erforderlichen Unterlagen beifügen". Dazu gehört auch eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen. Die Frau muss sich zur Nachtarbeit bereiterklären, ein ärztliches Zeugnis muss die Unbedenklichkeit der Arbeit bis 22 Uhr bescheinigen und eine Gefährdung durch "Alleinarbeit" muss ausgeschlossen sein. Und schließlich muss das Vorhaben der Behörde unverzüglich gemeldet werden. Lehnt die Behörde den Antrag nicht vorläufig ab, darf die Frau bis 22 Uhr beschäftigt werden. Relevant ist diese Konstellation vor allem für Schichten, die zwischen 20 und 22 Uhr enden. Auch eine Beschäftigung nach 22 Uhr ist möglich, bedarf aber der ausdrücklichen Genehmigung durch die Behörde.
Künftig muss ein Arbeitgeber die Gefährdung für jede Tätigkeit einschätzen, der eine schwangere oder stillende Frau oder ihr Kind ausgesetzt sein könnte. Ein Beispiel für eine gefährliche Tätigkeit ist der berufliche Umgang mit Gefahrstoffen. Bei Mitteilung einer Schwangerschaft oder wenn eine Frau stillt muss er sofort konkrete Schutzmaßnahmen festlegen, die sich an der vorherigen Gefährdungsbeurteilung orientieren müssen. Dies kann etwa der Ausschluss oder die zeitliche Beschränkung bestimmter Tätigkeiten sein. Ausgeschlossen sind Tätigkeiten, die eine "unverantwortbare Gefährdung" für Mutter oder Kind darstellen. Darüber hinaus muss der Frau ein Gespräch über weitere Anpassungen ihrer Arbeitsbedingungen angeboten werden. Natürlich müssen auf das Gespräch gegebenenfalls Taten folgen: die Einrichtung eines gefahrfreien Arbeitsplatzes oder eine anderweitige Beschäftigung. Voraussetzung ist, dass dies dem Arbeitgeber zumutbar ist.
Der Kündigungsschutz wird auf "Vorbereitungsmaßnahmen" des Arbeitgebers ausgedehnt. Plant oder sucht der Arbeitgeber zum Beispiel vor Ablauf der Schutzfristen einen endgültigen Ersatz für die beschäftigte Frau, ist eine Kündigung auch nach Ablauf der Schutzfristen unwirksam.
Das neue Gesetz sieht weitreichende Pflichten zur Information und Dokumentation vor. Festzuhalten sind unter anderem die Gefährdungsbeurteilung, die ergriffenen Schutzmaßnahmen und Angebot und Zeitpunkt eines Gesprächs mit der Frau über weitere Anpassungen der Arbeitsbedingungen. Außerdem muss der Arbeitgeber nicht nur die betroffene Frau, sondern alle Beschäftigten über das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung und die nötigen Schutzmaßnahmen informieren. So soll eine frühzeitige Kommunikation gefördert werden. Als kleine und zeitgemäße Erleichterung reicht es künftig aus, das Mutterschutzgesetz (jederzeit) elektronisch statt wie bisher durch Aushang zugänglich zu machen.
Schließlich wird beim Familienministerium ein Ausschuss für Mutterschutz eingerichtet. Dieser soll das Ministerium in Fragen des Mutterschutzes beraten und praxisgerechte Regeln zur Umsetzung des Gesetzes erarbeiten.
Nachteile durch Mutterschaft vermeiden
Zum 1. Januar 2019 treten die ebenfalls neu strukturierten Bußgeldvorschriften in Kraft. Als "neue" Ordnungswidrigkeiten werden künftig auch Verstöße gegen die Beurteilung der Arbeitsbedingungen, gegen die Dokumentations- und Informationspflichten und gegen das Verbot der Weiterführung einer Tätigkeit vor Ergreifung der notwendigen Schutzmaßnahmen mit einem Bußgeld geahndet. Das spätere Inkrafttreten der Bußgeldregelungen soll Arbeitgebern ausreichend Zeit einräumen, die neuen Regelungen umzusetzen.
Mit der Reform soll das Gesetz an die modernen Arbeitsbedingungen angepasst werden. Zum einen soll es das Schutzniveau verbessern. Zum anderen soll es Frauen eine selbstbestimmte Gestaltung ihrer Erwerbstätigkeit ermöglichen und Nachteile im Zusammenhang mit der Mutterschaft vermeiden. Es gibt aber auch Kritik:2 So sei etwa der versprochene Bürokratieabbau nicht spürbar. Die Regelungen zur Sonntags- und Nachtarbeit könnten dazu führen, dass Frauen sich aus Angst um ihren Arbeitsplatz zu einer Einwilligung drängen ließen. Und der Begriff der "unverantwortbaren Gefährdung" sei zum einen in sich unlogisch, zum anderen im Arbeitsschutzrecht völlig neu. Er bedarf erst der Konkretisierung durch den Ausschuss für Mutterschutz und die Rechtsprechung. Dies drohe den Mutterschutz aufzuweichen.
Bis zum Inkrafttreten am 1. Januar 2018 soll die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern, Behörden und Arbeitgebern Umsetzungshinweise erarbeiten. Sie sollen Arbeitgebern und Behörden eine klare Orientierung bieten.
Anmerkungen
1. Bundestags-Drucksachen 1/2876, 18/11782, http://t1p.de/nf40 und 18/8963, http://t1p.de/1snc
2. Stellungnahmen der Fraktionen im Ausschuss des Bundestages, Bundestags-Drucksache 18/11782, S. 28 ff.; Blattner, J.: Der Betrieb 2017, S. 1031 f.; Smart Mama (Blog): Die Reform des Mutterschutzgesetzes, http://t1p.de/zsc5
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