Hand in Hand mit den Bürgern
Im Zuge des demografischen und sozialen Wandels steht die Gesellschaft vor umfassenden Herausforderungen. Gerade in Bezug auf die Lebensphase "Alter" spitzen sich die Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse deutlich zu und zeigen sich als gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Es entstehen auch ganz neue Lebensentwürfe und sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die nachberufliche Phase gestaltet werden kann und sollte.1 Tiefgreifende Veränderungen in den Familienstrukturen und die damit verbundene "Zerbrechlichkeit der innerfamiliären Netzwerke" haben auch für die Gestaltung des Alterns weitreichende Folgen.2 Darüber hinaus brechen mit dem Ausstieg aus dem Berufsleben meist alltagsdominierende räumliche Kontexte und die damit verbundenen sozialen Beziehungen weg. Dadurch wird die Bedeutung des sozialen Nahraums größer. Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung suchen hingegen ihre moderne Definition (oder Vergewisserung) in einer Welt, in der sich alles rasant zu verändern scheint. Intergenerationelle Solidarität, eine vom Gemeinsinn geprägte Mitgestaltung und Mitentscheidung,
Verantwortungsübernahme für die Gemeinschaft wie für den Nächsten gewinnen zunehmend an Bedeutung. Der Sozialraum sollte folglich von einer Kultur geprägt sein, in der Bewohner(innen) "nicht isoliert nebeneinander wohnen, sondern füreinander einstehen [und im Bewusstsein ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein] auch Verantwortung übernehmen".3 Das Projekt "Vega - Verantwortungsgemeinschaft für gelingendes Altern im Freiburger Osten" setzt an diesem gesellschaftlichen Hintergrund an. Es wurde im Jahr 2010 als modellhaftes Kooperationsvorhaben der Heiliggeistspitalstiftung, der Stadt Freiburg (Seniorenbüro) und der Katholischen Hochschule Freiburg initiiert, umgesetzt und prozessbegleitend evaluiert. Nach fünfjähriger Laufzeit kann es auch als Erfahrungsquelle für die Umsetzung anderer sozialraumorientierter Projekte dienen.
In den skizzierten Ausführungen zum gesellschaftlichen Hintergrund und zur inhaltlichen Ausrichtung wird deutlich, wie vielschichtig dieses Vorhaben ist, das sich auf allen Ebenen (zum Beispiel Träger im Quartier, Vereine, Freiwilligeninitiativen oder Nachbarschaft) auswirkt. Dabei herrscht eine natürliche Diskrepanz zwischen der Vision sozialraumbezogener Projekte - also das Erreichen eines Kulturwandels - und den strukturellen Realitäten von Projekten (an Laufzeiten gebunden; partielle Trägerinteressen). Ein so komplexes Vorhaben wie "Vega" (oder ähnliche sozialraumbezogene Projekte) hat unterschiedliche Phasen, die mitunter von Frust (beispielsweise über Stillstand), aber auch von Freude über Teilerfolge gekennzeichnet sind. Durch die regelmäßig reflektierte Vergewisserung (vor allem an den Stolperstellen) gewinnt die gemeinsame Vision aber an Deutlichkeit und findet ihre Umsetzung durch aktive Mitgestaltung.
Bürgerbeteiligung braucht fördernde Voraussetzungen
Schnell wird klar, dass ein solches Vorhaben von den Initiator(inn)en nicht fernab des betreffenden Sozialraumes am "Reißbrett" entstehen kann. Es benötigt Konzepte, die sich an der Einzigartigkeit des einzelnen Quartiers oder des Stadtteils orientieren. Bereits die Erfassung des Sozialraums (Baustruktur: Mietspiegel, öffentliche Flächen, formelle und informelle Netzwerke, lokale Akteure, Aktionsräume, Bedarfe der Bewohner(innen)) erfolgt "Hand in Hand" mit den Akteuren und Bürger(inne)n - denn diese sind die eigentlichen Stadtteilexperten. Gleiches gilt für die Konzeptionierung bis hin zur Umsetzung. Für diese Kooperation und Koproduktion zwischen Profis und Engagierten bedarf es allerdings eines Aufbrechens alter Gewohnheiten, Vorgehensweisen und Rollenzuschreibungen.
In der Zusammenarbeit von Profis und Engagierten auf Augenhöhe nehmen Dialog- und Beteiligungsinstrumente zur Partizipation eine Schlüsselfunktion ein. Um Bürgerbeteiligung zu initiieren, zu aktivieren und zu fördern, müssen diese Instrumente sorgfältig ausgewählt und geplant werden. Bei den Beteiligungsprozessen darf die zu beobachtende soziale Selektion nicht aus dem Blick geraten. Des Öfteren engagieren sich vorwiegend Menschen mit hohem Bildungsstand, gutem Einkommen und gesicherter sozialer Position, wohingegen Bürger(innen) mit Migrationsgeschichte, Jugendliche und bereits stark eingebundene Personengruppen (zum Beispiel pflegende Angehörige) nur schwach vertreten sind. Gerade in Bezug auf eine umfassende Interessenvertretung und Einbindung verschiedener Bedarfe ist auf die mögliche Dominanz von Partikularinteressen zu achten.
Netzwerk managen: initiieren von Prozessen, Moderation und Koordination
Ein zentraler Aspekt sozialraumorientierter Projekte ist die Netzwerkarbeit. Darum müssen auch in diesem Bezug die Netzwerkinitiierung, Implementierung und vor allem die Koordination im Zentrum stehen. Die Erfahrungen aus der Praxis lehren, dass der große Gewinn, der durch ein funktionierendes Netzwerk entsteht, vor allem zu Beginn den Einsatz personaler Ressourcen braucht. Deren Aufgaben müssen in diesem Zuge auch klar beschrieben werden. Ansonsten kann es zu unterschiedlichen Erwartungen kommen, zwischen denen die Koordinationsstelle aufgerieben wird. Transparente Kommunikation ist das Gebot der Stunde - auch damit einzelne Akteure keine Befürchtungen gegenüber einer Kooperation mit großen Trägern entwickeln (Erweiterung des Einflussbereiches).
Prozess begleiten: gemeinsam miteinander und gegeneinander - auf und ab
Über die gesamte Laufzeit sollte eine Prozessbegleitung gewährleistet werden. Konflikte liegen in der Natur der Sache und müssen unbedingt ihren Raum und ihren Rahmen finden. Werden Konflikte ignoriert oder verharmlost, können sich Engagierte daraufhin übergangen fühlen und den Eindruck gewinnen, dass ihre Ideen und Einwände nicht beachtet werden. Dabei entwickeln sie oft einen latenten Widerstand, der den weiteren Verlauf nachhaltig lähmen kann.
Anstoß für interne Veränderungsprozesse
Sozialraumorientierte Projekte wirken sich auch auf die im Quartier bestehenden Einrichtungen aus. Ihre Ausrichtung auf die Kooperation zwischen Profis und Engagierten und die damit einhergehenden neuen Vorgehensweisen im Arbeitsalltag ziehen auch interne Veränderungsprozesse nach sich. Das muss von Anfang an mitgedacht werden.
Verantwortung übernehmen - zur eigenen Sache machen
Die Gefahr, dass Engagierte den Eindruck gewinnen, dass an sie (alleine) wesentliche Arbeit delegiert wird und dass es nicht um eine gemeinsame Gestaltung geht, ist groß. Wenn es dann auch noch keinerlei finanzielle oder infrastrukturelle Unterstützung gibt, führt dies oft zu Überforderung. Deshalb müssen in jedem Fall die notwenigen Ressourcen eingeplant werden.
Prozesse abschließen
Für eine gelingende Umsetzung ist es wichtig, dass auch einzelne Prozesse abgeschlossen und erreichte Teilziele entsprechend gefeiert werden. Dies wird vor allem in den Fällen bedeutsam, in denen beispielsweise im Projekt aktive Teilnehmer(innen) noch während des Verlaufes ausscheiden. Klare Kommunikation, verbunden mit einer symbolischen Geste, kann solch einen Abschluss markieren. Dies ist freilich auch für den Abschluss des Gesamtprojektes von Bedeutung.?Dabei muss der weitere Verlauf klar geregelt sein (wer ist verantwortlich für die Weiterführung?).
Wichtig: Anerkennungskultur schaffen
Kaum etwas ist für ein nachhaltiges Gelingen von so fundamentaler Bedeutung wie eine wertschätzende Anerkennungskultur. Fehlende (zeitnahe) Würdigung und Anerkennung von engagierten Bürger(inne)n führt üblicherweise zu Frust im Stadtteil und zum Nachlassen der Engagementbereitschaft. Häufig werden leider die Anerkennungsformen auch als immer gleich und unpassend empfunden. Darum: Es braucht mehr Mut zum Ausprobieren von neuen und kreativen Anerkennungsformen.
Neoliberalismus versus Solidarität?
Das Projekt "Vega" wurde von den gestaltenden Akteur(inn)en nie als sozialpolitischer Lösungsansatz im Sinne eines neoliberalen Steuerungsmodells gesehen, das Bürgerengagement als nützliche Ressource instrumentalisiert, um damit eine ökonomisch günstige Antwort auf die vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen im Kontext des demografischen Wandels zu entwickeln. Vielmehr wurde in der modellhaften Projektumsetzung ein Gestaltungsauftrag gesehen, in dessen Rahmen die kulturelle und intergenerationelle Erneuerung eines Sozialraums angestoßen werden kann. Lokale Verantwortungsgemeinschaften stellen damit einen zukunftsfähigen innovativen Ansatz zur Stärkung der Menschen und ihrer Ressourcen dar, vor allem auch dort, wo die sozialen Netzwerke und individuellen Unterstützungspotenziale brüchig geworden sind. Sie sind damit Ansätze zur Stärkung von Solidarität in Sozialraum und Quartier.
Anmerkungen
1. Siehe dazu Kricheldorff, C.:?Altern im Gemeinwesen aus sozialgerontologischer Perspektive. In: Reißen, A. von; Beck, C.; Knopp, R. (Hrsg.): Sozialer Raum und Alter(n). Zugänge, Verläufe und Übergänge sozialräumlicher Handlungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, 2015, S. 15-30.
2. Bubolz-Lutz, E.; Gösken, E., Kricheldorff, C.; Schramek, R.:?Geragogik. Bildung und Lernen im Prozess des Alterns. Das Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer, 2010, S. 183
3. Kricheldorff, C., a.a.O., S. 15-30.
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