Chancen für mehr Lebensqualität aller Generationen
Kennen Sie Agnes? Vielleicht kennt der eine oder die andere die DFF-Fernsehserie "Schwester Agnes". Und sicherlich hat die Gemeindeschwester Patin gestanden, als es darum ging, für das Projekt "AGNES - Arztentlastende, gemeindenahe, E-Health-gestützte systemische Intervention" einen eingängigen Namen zu finden. Fachkräfte erledigen in dünn besiedelten Gebieten kleinere medizinische Aufgaben: Sie kontrollieren den Blutdruck, erheben Patientendaten, helfen bei Anträgen oder empfehlen Therapien in Absprache mit der Ärztin oder dem Arzt. Agnes-Fachkräfte sind mobil. Sie fahren durch die Dörfer und sind gleichzeitig an ein medizinisches Zentrum angebunden, das eine größere Region abdeckt. Agnes ist eine Antwort auf den demografischen Wandel, eine Antwort aus dem großen Bereich der Wohlfahrtspflege.
Demografiestrategie im Dialog
Es ist sicherlich kein Zufall, dass das Agnes-Programm in vier ostdeutschen Bundesländern gestartet wurde. In Ostdeutschland verstärkt der demografische Wandel die Auswirkungen des Strukturwandels nach der Vereinigung Deutschlands und macht sich daher früher und intensiver bemerkbar. Langfristig werden aber in ganz Deutschland weniger Menschen leben, und sie werden im Schnitt älter sein als heute. Dazu wird ein größerer Anteil von Menschen einen Zuwanderungshintergrund haben. "Älter, weniger, bunter" lautet die Faustformel, wenn es darum geht, den demografischen Wandel in wenigen Worten zu beschreiben. Gleichzeitig wird es weiter regionale Unterschiede geben: Dünn besiedelte Regionen, in denen es innovativer Ideen bedarf, um die Infrastruktur aufrechtzuerhalten, Ballungszentren, die weiterhin Menschen anziehen, und viele Schattierungen dazwischen.
Deshalb gibt es kein Patentrezept zur Bewältigung des demografischen Wandels. Die Demografiestrategie der Bundesregierung lebt vom Dialog zwischen Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Erfahrungen austauschen, Ideen entwickeln - möglichst konkret und praxisnah -, gemeinsame Vorhaben umsetzen: Auch wenn die Grundlinien des demografischen Wandels bekannt sind, führt kein Weg daran vorbei, immer wieder gemeinsam nach Antworten zu suchen, die dem jeweiligen Bedarf angemessen sind. Das Bundeskabinett hat am 14. Januar vier Zielsetzungen beschlossen, die die Demografiepolitik der Bundesregierung bündeln sollen: das wirtschaftliche Wachstumspotenzial stärken, eine hohe Lebensqualität und gleichwertige Lebensverhältnisse befördern, solide Finanzen sicherstellen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Dieser Rahmen, der auf Bundesebene gesetzt wird, muss auf lokaler Ebene ausgefüllt werden.
Dort, wo Demografiepolitik die Menschen in ihrem Lebensalltag berührt, wird sie lebendig. Dort findet auch Wohlfahrtspflege statt. So verstehe ich die Demografie-Initiative der Caritas, und auch diese Initiative ist richtigerweise auf Zusammenarbeit, auf Dialog, auf eine Öffnung für neue Ideen und neue Partner angelegt.
Wohlergehen und Miteinander aller Generationen
Mir hat vor kurzem ein Mann aus dem Allgäu geschrieben. Er wollte einen Marathon laufen mit 72 Jahren. Die Startplätze wurden ausgelost, er kam nicht zum Zug und empfand dies als Diskriminierung. Diese Momentaufnahme zeigt, welche Chancen die längere Lebenserwartung bietet und wie selbstbewusst ältere Menschen ihr aktives Alter wahrnehmen und einklagen. Man sieht aber nicht nur beim Marathon, dass viele Ältere heute fit sind und Ausdauer haben. Unter den 55- bis 70-Jährigen pflegen 20 Prozent der Menschen eine(n) Angehörige(n). Familien, die Eltern und Schwiegereltern in der Nähe wissen, verlassen sich bei der Kinderbetreuung auf die Älteren, die auch im bürgerschaftlichen Engagement ebenso vertreten sind wie die jüngeren Altersgruppen. Die Zeit, die Kompetenz und die Aktivität einer wachsenden Zahl älterer Menschen sind das große neue Potenzial einer Gesellschaft im demografischen Wandel. Der soziale Bereich, in dem sich viele Ältere engagieren, steht in vorderster Linie, wenn es darum geht, dieses Potenzial zu erschließen und attraktive Formen für das Engagement im Alter zu finden - sicherlich ein Thema für die Demografie-Initiative der Caritas. Die Wohlfahrtsverbände und ihre Einrichtungen sind aber auch Orte, an denen das Leben, der Lebensalltag und die Lebensqualität derjenigen älteren Menschen gestaltet werden, die Unterstützung und Pflege brauchen. Eine wachsende Zahl von Menschen, viele von ihnen demenzkrank, wird in diese Lage kommen, und sie wollen in Würde leben, so lange wie möglich in vertrauter Umgebung, in der Obhut von Menschen, die sich kümmern. Ohne gute Pflege, ohne mehr Zeit für Sorge und Pflege lässt sich der demografische Wandel nicht bewältigen.
Die Teilhabe Jüngerer nicht vergessen
An ältere Menschen denkt man beim Thema demografischer Wandel automatisch. Dabei darf man nicht ausblenden, dass es die heute jungen Generationen sind, die in 20 bis 30 Jahren die Auswirkungen des demografischen Wandels noch stärker erleben werden. Mir war es daher wichtig, in der Demografiestrategie der Bundesregierung auch der Jugend eine Stimme zu geben. Oft stellt sich dann heraus, dass gerade die Jüngeren sensibel sind für die Anforderungen des demografischen Wandels und dass sie der Solidarität zwischen Jung und Alt einen hohen Wert beimessen. Im Alltag mögen unterschiedliche Einstellungen und Lebensweisen gelegentlich aufeinanderprallen. Aber einen tiefsitzenden Generationenkonflikt gibt es nicht, und diese Grundhaltung sehe ich als gute Voraussetzung für die gemeinsame Gestaltung des demografischen Wandels und seiner Folgen.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Auch in den Familien macht sich die demografische Entwicklung bemerkbar. Die Generation der heute 30- bis 50-Jährigen ist eine "Sandwich-Generation": Die Menschen im mittleren Alter wollen etwas leisten, sie wollen Erfolg im Beruf haben - und sie wollen Familie. Im demografischen Wandel stehen die 30- bis 50-Jährigen zwischen den Generationen: Sie kümmern sich um die Kinder. Sie wollen aber auch für ihre älteren Angehörigen da sein, wenn diese Hilfe brauchen. Manchmal kommt alles gleichzeitig: der Pflegefall der Eltern, die Einschulung der Kinder, neue Anforderungen im Job.
Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, dass aus dieser Generation zu viele Menschen aus dem Beruf aussteigen, ob für die Kinder oder für die Pflege. Ebenso wenig kann es sich unsere Gesellschaft leisten, dass diese Generation auf Kinder verzichtet - oder die Pflege der Älteren ganz den professionellen Pflegekräften überlässt (von denen es ohnehin schon zu wenige gibt). Demografiepolitik muss sich also um die Sandwich-Generation der arbeitenden Mitte kümmern.
Diese Generation ist auch eine neue "Generation Vereinbarkeit". Die meisten jungen Frauen wollen Kinder und Berufstätigkeit, viele junge Männer wollen selbstverständlich für ihre Kinder da sein. Mehr Zeit, weniger Stress in der "Rushhour" der mittleren Lebensjahre - darum geht es heute. Mein Vorschlag ist deshalb eine Familienarbeitszeit. Es muss für Männer und Frauen möglich sein, in Familienphasen Teilzeit zu arbeiten, 32 Wochenstunden zum Beispiel, ohne große Nachteile zu haben. Damit würden Eltern deutlich entlastet.
Die beiden Gesetze, die als Schritte hin zu einer Familienarbeitszeit zu Beginn des Jahres in Kraft getreten sind, machen diesen Aspekt deutlich: Das ElterngeldPlus ermöglicht einen längeren und flexibleren Bezug von Elterngeld und unterstützt damit die Teilzeitarbeit jüngerer Eltern. Die Familienpflegezeit erleichtert es, sich als berufstätiges Familienmitglied um pflegebedürftige Angehörige zu kümmern.
Partnerschaftlichkeit stärken
Wenn der demografische Wandel alle Generationen betrifft, muss Demografiepolitik alle Generationen mitnehmen: Das gilt für die Demografiestrategie der Bundesregierung ebenso wie für die Initiativen und Angebote von Kommunen oder Wohlfahrtsverbänden auf lokaler Ebene. Ein ganz konkretes Beispiel aus der Förderung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind die Mehrgenerationenhäuser. 450 Mehrgenerationenhäuser, einige davon in Trägerschaft der Caritas, haben sich zu Knotenpunkten für Menschen aller Generationen entwickelt. Mehrgenerationenhäuser sind Orte der Begegnung, der sozialen Angebote und des Engagements - und zwar ausdrücklich für alle Generationen unter einem Dach. Mehrgenerationenhäuser sind gleichzeitig Knotenpunkte für lokale Partnerschaften. Ein Mehrgenerationenhaus arbeitet heute im Schnitt mit mehr als 80 anderen Einrichtungen und Organisationen zusammen.
Partnerschaftlichkeit kann ein Leitbegriff für die verschiedenen Aspekte der Gestaltung des demografischen Wandels sein. Partnerschaftlichkeit auf der Ebene der Organisationen ist die Chance, über den eigenen Horizont hinauszuschauen, zusammen und nicht mehr bloß nebeneinanderherzuarbeiten, Erfahrungen auszutauschen, gemeinsame Initiativen zu ergreifen. Kräfte auf intelligente Weise zu bündeln, ist nötig, um auch in gering besiedelten Gegenden die sozialen Angebote bereitzuhalten, die gebraucht werden - die Demografie-Initiative der Caritas greift diesen Aspekt ausdrücklich auf.
Partnerschaftlichkeit ist gleichzeitig ein Begriff für menschliches Miteinander. In der Familie: für Väter und Mütter, in der Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Aber auch über die Familie hinaus: Wenn eine ältere Ehrenamtliche im Mehrgenerationenhaus einem Jugendlichen beibringt, was er wissen muss, um das Café im Offenen Treff am Laufen zu halten, wenn dieser Jugendliche sein Wissen wieder an ältere Engagierte weitergibt - dann sorgt Partnerschaftlichkeit auf Augenhöhe dafür, dass die Generationen in Deutschland etwas näher zusammenrücken. Der demografische Wandel stellt uns vor große Herausforderungen, gewiss. Aber er bietet auch die Chance, Partnerschaftlichkeit und Solidarität zwischen Alt und Jung bewusster zu leben und dadurch zu stärken. Wenn wir diese Chance nutzen, kann eine ältere und kleinere Gesellschaft sogar eine bessere Gesellschaft sein.
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