Individuell angepasst und auskömmlich finanziert
Das deutsche System der Langfristpflege ist durch zahlreiche Widersprüche geprägt. Gesetzlich normiert ist der Vorrang von häuslicher Pflege, Prävention und Rehabilitation (Pflegeversicherungsgesetz, SGB XI §§ 3, 5, 31). Auf dem Papier wird auch der Anspruch, "die Hilfen (sind) darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten" (Pflegeversicherungsgesetz, SGB XI § 2) großgeschrieben. Die Pflegerealität mit ihren in Einzelsegmente aufgeteilten Strukturen und einer Steuerung, die weniger auf Qualität als auf einen möglichst geringen öffentlichen Mitteleinsatz abzielt, wirkt sich in der Breite jedoch anders aus. Das Pflegesystem ist nicht ausreichend in der Lage, den Ansprüchen einer nachhaltig gesicherten, qualitativ guten Pflege gerecht zu werden. Dies ist auch einer der Gründe, dass trotz Fachkräftemangels mehr Pflegefachkräfte Deutschland verlassen als zuwandern.
In den nordisch-skandinavischen Ländern hat die Pflege und haben soziale Dienstleistungen eine weit höhere gesellschaftliche Wertigkeit. Die öffentlichen Mittel, die von den Gemeinden eingesetzt werden, sind gemessen an der Wirtschaftskraft um ein Vielfaches höher als in Deutschland. Dies gilt auch für die Anzahl der Beschäftigten im Pflegesektor in Relation zu den Pflegebedürftigen. Mit diesem hohen Ressourceneinsatz gelingt es, Pflege und Alltagsunterstützung so zu organisieren, dass beim Service wie bei den Arbeitsbedingungen gleichermaßen gute Qualität die Regel ist. Die weitere Grundausrichtung dieser "Pflege-Highroad"1 und einige wichtige empirische Befunde werden nachfolgend vorgestellt. Mit einher geht die Frage, welche Lehren der Vergleich für die zukünftige Entwicklung in Deutschland bereithält.
Niedrigschwellige kommunale Dienste
Bei der Pflege, Betreuung und praktischen Alltagsunterstützung von Senior(inn)en setzt der skandinavische Länderblock (Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden) auf kommunale Infrastruktur und eine Vergemeinschaftung der Kosten. Es dominiert die professionelle Pflege gemäß individuellem Bedarf mit niedrigschwelligem Zugang. Private Anbieter und Angehörige spielen faktisch und in den Prioritäten der Nutzer eine nachrangige Rolle. Umgekehrt ist das deutsche Pflegesystem in den Familien verankert. Die Familie gilt als Hauptpflegedienst der Nation. In der Praxis wird vorrangig Töchtern und Schwiegertöchtern, zunehmend aber auch Söhnen die Aufgabe zugewiesen, Pflege und Betreuung zu organisieren. Das öffentliche Angebot kommt nachrangig ins Spiel. Das liegt neben den gesellschaftlichen Erwartungen auch an ganz handfesten materiellen Zwängen. Während in den skandinavischen Ländern bei dauerhaften Leistungen der Langfristpflege das Prinzip der Kostenfreiheit gilt,2 deckt die deutsche Pflegeversicherung nur einen Teil der Ausgaben. Dies ist dort der Fall, wo die Pflegebedürftigkeit anerkannt ist. Die Hürden dafür sind jedoch vergleichsweise hoch. Es wird ein täglicher Pflegebedarf aufgrund von vorrangig körperlichen Defiziten vorausgesetzt. Senior(inn)en, die bei der Grundpflege nicht täglich unterstützt werden müssen, haben keinen oder Demenzkranke nur einen eher symbolischen Leistungsanspruch. Sofern sie nicht auf familiäre Ressourcen zurückgreifen können und der Einkauf professioneller Pflegeleistungen aus Kostengründen ausscheidet, bleibt ihre Bedarfsdeckung fragil.
Mit diesem familienbasiert-subsidiären Pflegearrangement erreicht Deutschland das Ziel, öffentliche Ausgaben gering zu halten. Der gesellschaftliche Preis ist allerdings hoch und steigt weiter. Ältere Menschen und ihre Angehörigen bleiben nicht in dem Maße gesund und sozial integriert, wie dies in Skandinavien gelingt. Die Bevölkerung wie die Pflegekräfte sind unzufrieden mit dem Pflegeangebot und mit den Arbeitsbedingungen. Letztere sind durch Personalnot und niedrige Löhne geprägt. Unter dem Regime der Minutenpflege bleibt kaum Zeit für Zuwendung. Häufig arbeiten die Pflegekräfte am Limit. Entsprechend hoch ist ihr Gesundheitsrisiko. Damit nicht genug: Das Zusammentreffen von steigendem Betreuungsbedarf bei gleichzeitig schrumpfenden familiären Ressourcen führt zu einer wachsenden Lücke zwischen formal gesicherter und tatsächlich benötigter Pflege. Geschlossen wird die Lücke auch durch Angebote des grauen Pflegemarktes, etwa Agenturen, die günstige Pflegekräfte aus Osteuropa vermitteln. Die Politik schaut weg und belässt es bei kleinteiligen Reparaturen, die jeweils nur so weit reichen, wie es zur Stabilisierung des Systems nötig erscheint.
Starre, verrichtungsbezogene Pflegestufen kennen die nordischen Länder nicht. Bei den von den Kommunen eigenverantwortlich erbrachten Pflege-Assessments geht es darum, älteren Menschen soziale, alltagspraktische und medizinisch-pflegerische Hilfeleistungen zukommen zu lassen, die für die Gesunderhaltung und ein möglichst selbstbestimmtes Leben erforderlich sind. Häusliche Leistungspakete von wenigen Stunden in der Woche sind die Regel; ein 24-Stunden-Service ist dagegen nicht überall möglich. Obwohl weniger Menschen als in Deutschland multimorbide sind,3 liegt der Prozentsatz Älterer, die formelle Leistungen erhalten, um ein Vielfaches höher. Hierbei handelt es sich um professionell erbrachte Pflegeleistungen im engeren Sinn oder um persönliche Assistenz und praktische Hilfe.
Weit mehr ältere Menschen werden professionell betreut
Bis 2008/2009 hatte Dänemark die höchsten Versorgungsquoten4, rückte dann aber ins skandinavische Mittelfeld. Rund 15 Prozent der ab 65-Jährigen erhielten im Zeitraum 2011/2012 permanente häusliche Unterstützung; bei der 80plus-Bevölkerung war es gut die Hälfte. In Schweden liegen die Anteile etwas niedriger, in Island und Norwegen höher. Island zeichnet sich trotz eines Fast-Staatsbankrotts durch eine in besonderem Maße stabile Versorgungsquote aus. Im Zeitraum von 2004 bis 2012 erhielten jeweils zwischen 20 und 21 Prozent der Älteren kommunale "Home-Help"-Leistungen, also häusliche Unterstützung. Zum Vergleich: In Deutschland werden von den ab 65-Jährigen nur gut sieben Prozent und von den ab 80-Jährigen rund ein Fünftel professionell durch ambulante oder stationäre Dienste versorgt.
Wie auch in Deutschland möchten ältere Menschen in Skandinavien möglichst lange zu Hause umsorgt werden. Wo dies nicht mehr möglich ist, wird nach Alternativen gesucht, die nicht als "Endstation Heim" erlebt werden. Unter der institutionellen Betreuung5, die Anteile zwischen vier (Dänemark) und neun Prozent (Norwegen) der älteren Bevölkerung erreicht, versteht man heute weniger das klassische Pflegeheim, sondern diverse Sonderwohnformen. Die professionelle Betreuung im häuslichen und institutionellen Bereich zusammengenommen erreicht bei den ab 65-Jährigen (Norwegen: ab 67 Jahren) Anteile, die zweieinhalb- bis dreifach so hoch sind wie in Deutschland.
Zum Teil können Dienstleister frei gewählt werden
Abgesehen von Finnland bestand im skandinavischen Raum traditionell ein kommunales Trägermonopol. Anfang der 90er Jahre trieb zunächst Schweden die Öffnung für private Anbieter voran; eine Dekade später (2002/2003) folgte Dänemark. Kommunen können nun Leistungen im Wettbewerb ausschreiben und Pflegebedürftige den Dienstleister teilweise frei wählen. Freie Wahl heißt in Dänemark, dass man sich bei häuslichen Diensten entscheiden kann, diese von der Gemeinde selbst oder von einem nicht gewinnorientierten (beispielsweise kirchlichen) oder gewerblichen Anbieter erbringen zu lassen. Auch Angehörigenpflege ist möglich. Sie basiert auf einem Kontrakt mit der Gemeinde. Er regelt unter anderem die Art der Leistung, den Umfang, die Vertretung bei Krankheit und die Geldleistung.
Bei Heimen gibt es kein Recht, einen privaten Anbieter zu wählen. Die mit Qualitäts- und Effizienzargumenten begründete Marktöffnung führte dazu, dass sich eine Wettbewerbslogik etablierte. In Schweden wie auch in Finnland profitierten davon vor allem gewinnorientierte Akteure. Von den Ausgaben der Gemeinden für den Einkauf externer Pflegeleistungen entfielen in Schweden 2011 87 Prozent auf gewinnorientierte Unternehmen, nur zehn Prozent gingen an den Non-Profit-Sektor und drei Prozent an andere öffentliche Träger. Die Entwicklung verläuft höchst unterschiedlich. Während in Norwegen landesweit noch 2012 keine fünf Prozent der öffentlichen Ausgaben auf privat-gewerbliche Anbieter entfielen und nur sieben Prozent der Gemeinden Ausschreibungen praktizieren, liegt der Anteil in Schweden deutlich höher. Von einem durchgängigen Aufbrechen des kommunalen Versorgungsmonopols kann allerdings auch hier (noch) keine Rede sein. Während private Anbieter in einigen Regionen (etwa im Großraum Stockholm) sehr stark Fuß fassen konnten, existiert in anderen Regionen das kommunale Monopol faktisch fort. Die regional unterschiedliche Entwicklung bewirkt, dass im Durchschnitt immer noch rund 80 Prozent der Versorgung von den Kommunen selbst erbracht werden.
Aus der deutschen Perspektive ist von Bedeutung, welche Versorgungsanteile auf gewinnorientierte und nicht gewinnorientierte Träger entfallen. Die Frage lässt sich nur eingeschränkt beantworten, da die nationalen Statistiken das private Segment überwiegend (noch) nicht differenziert erfassen. Vorliegende Befunde deuten auf Gegenläufiges. In Norwegen führte eine weitgehende Resistenz gegen Tendenzen der Vermarktlichung dazu, dass gewerbliche Träger kaum Terrain gewinnen konnten. Anders in Finnland. Hier wurde die traditionelle Arbeitsteilung - Kommunen betreiben Heime und andere institutionelle Pflegeformen, freigemeinnützige Träger erbringen im Auftrag der Kommunen häuslichen Dienste - aufgebrochen. Wie aus der Tabelle (links) ersichtlich, erreichen gewinnorientierte Anbieter bei der institutionellen Versorgung landesweit zwar nur ein geringes Gewicht. Gegenüber den 90er Jahren konnten sie aber zulasten nicht gewinnorientierter Träger ihre Position ausbauen.
An Deutschland gemessen ist die erfolgte Privatisierung und Vermarktlichung gering, wird aber viel kritischer wahrgenommen.6 Kommunen haben Anteile abgegeben, bleiben aber die zentralen Akteure; vier von fünf der im Pflegebereich Beschäftigten haben einen kommunalen Arbeitgeber. Folglich ist die Tarifbindung für die Pflegekräfte annähernd flächendeckend. Die Refinanzierungsbedingungen sind vergleichsweise gut; die Steuerpolitik ist auf eine wachsende öffentliche Finanzierung hin angelegt. All dies zusammen erklärt, warum die Altenpflege im Norden ein Beschäftigungsbereich ist, der zumindest im institutionellen Bereich überwiegend Vollzeitarbeitsplätze bietet. Anders als in Deutschland wurde er auch nicht in den Niedriglohnsektor abgedrängt.
Der skandinavische Entwicklungspfad lehrt uns, dass es eine Frage des politischen Willens ist, ein System der Langfristpflege zu realisieren, das auskömmlich finanziert ist und ein hohes Niveau an Prävention sowie am individuellen Bedarf ausgerichteter Versorgung bietet. Gleichzeitig sind die Arbeitsbedingungen der gesellschaftlichen Bedeutung angemessen. Um in Deutschland vergleichbare Ergebnisse zu erreichen, müssten die Weichen grundlegend neu gestellt werden. Mit nur kleinen Verbesserungen wird kein Ausweg aus der Negativspirale erreicht. Auch wird nicht für die Zeit vorgesorgt, in der die Familie als größter Pflegedienst der Nation schon deshalb ausfällt, weil es dafür infrage kommende Angehörige immer weniger gibt.
Anmerkungen
1. Grundlage ist eine von der Autorin im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung 2011 erstellte Studie, deren Kurzfassung 2012 unter dem Titel "Auf der Highroad - der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem. Ein Vergleich zwischen fünf nordischen Ländern und Deutschland" als Wiso-Diskurs veröffentlicht wurde. Eine Neuauflage mit aktualisierten Daten ist für Ende 2014/Anfang 2015 geplant. "Highroad" ist ein Begriff aus den Arbeitswissenschaften. Er bezeichnet ein positives Wechselverhältnis zwischen hoher Qualität der Dienstleistungen und der Arbeitsbedingungen.
2. Ausnahmen bestehen in Finnland und Island, wo gewisse Gebühren entrichtet werden müssen.
3. In den nordischen Ländern wird nach Renteneintritt die Restlebensdauer bei Männern und Frauen von gesunden Lebensjahren geprägt. Die Jahre, die mit chronischen Krankheiten zugebracht werden, sind parallel zum Anstieg der Lebenserwartung gesunken, in Deutschland umgekehrt gestiegen. Bei den Frauen etwa, die 2012 65 Jahre alt wurden, lag die Lebenserwartung in Deutschland, Norwegen und Schweden jeweils bei rund 21 Jahren. Auf gesunde Jahre entfallen davon in Deutschland jedoch nur knapp sieben Jahre gegenüber mehr als 15 Jahren in Norwegen und Schweden. Bei den Männern ist der Befund ähnlich. Quelle: Eurostat, Datenbestand "Gesunde Lebensjahre [hlth_hlye]"; Update 24.3.2014.
4. Heintze, Cornelia, 2012, a.a.O., S. 37,
Tab. 4.
5. Institutionell bezieht sich auf den Ort der Leistungserbringung, der hier außerhalb der Wohnung liegt (Heim, betreutes Wohnen, Gesundheitszentrum, Tagespflegeeinrichtung).
6. In Umfragen nach den präferierten Leistungsträgern sprechen sich über 90 Prozent gegen Marktlösungen aus.
Das Beste aus beiden Pflegesystemen
Gut informiert und abgesichert klappt die Betreuung zu Hause
Gut begleitet leben, hoffen und sterben
Qualität messen und vergüten
Eine Caritas wird wieder aufgebaut
Interim-Manager entlasten oder überbrücken Vakanzen
Mehr Spielraum
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