Die Ökonomisierung des Sozialen – Fluch oder Segen?
Die Arbeitsbedingungen, Finanzierungsarten, Planungsinstrumentarien und auch die Infrastrukturbedingungen im sozialen Bereich in der Bundesrepublik sind so unterschiedlich wie in sonst keiner anderen Branche.
Im Jahr 2003 nahm die Region Heinsberg am Bundesmodellprojekt Implementation des personenzentrierten Ansatzes in der Psychiatrie teil. Der Paradigmenwechsel von der institutionsbezogenen auf die personen-/klientenzentrierte Sicht ist seither leitend für die Hilfeplanung und Dienstleistung. Der konsequent verfolgte Ansatz "ambulant vor stationär" hat dazu geführt, dass sich sogenannte Wartelisten zur Aufnahme in ein stationäres Wohnangebot auflösten. Hilfen wurden schnell und unkompliziert erbracht und für viele Klient(inn)en so erst erreichbar. Vom stationären Bereich wurden die Menschen in den ambulanten Bereich hinübergeleitet.
Eine intensive stationäre Begleitung erhalten nur noch Menschen mit komplexen Hilfebedarfen. Durch die Befristung der Hilfepläne und die ständige Auseinandersetzung mit der in der Planung beschriebenen Zielerreichung ist ein "Durchlauf" in das System der Versorgung von stationär zu ambulant eingekehrt, der seit circa anderthalb Jahren zum Stocken kommt. Dies ist vor allem dem Wohnungsmarkt geschuldet. Es gibt zu wenige finanzierbare Wohnungen, die von Menschen mit Behinderung angemietet werden können. Hier sind wir als Caritas-Einrichtungen gefordert, die Kommunen und die Politik auf die unhaltbare Situation hinzuweisen.
Der Landschaftsverband Rheinland als Kostenträger der Eingliederungshilfe ist sehr ambitioniert unterwegs. Ein Modell jagt das nächste, um die Beschlüsse der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) umzusetzen und in der Praxis zu erproben. Vieles wie zum Beispiel Persönliches Budget aus Sozialhilfemitteln, trägerneutrale Hilfeplanerstellung, Hilfeplanung auf der Grundlage der ICF (internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), Zugangssteuerung, Leben in Gastfamilien, Zuverdienstmöglichkeiten als Alternative zu Tagesstrukturangeboten und zur Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) sei hier nur exemplarisch erwähnt.
Träger waren bisher Garanten für Vermieter
Der Erfolg der Umsetzung des Ansatzes "ambulant vor stationär" war bis dato nur möglich, da die Träger in die Garantenstellung für Investoren und Vermieter getreten sind. Die Kommunen haben die Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus in den letzten zehn Jahren sträflich vernachlässigt. Aufgrund der geringen Zinsen für Darlehen ist es für Investoren unattraktiv geworden, soziale Wohnungsbauförderung in Anspruch zu nehmen und auf diesem Wege zu investieren. Maximierung der Renditen steht im Vordergrund - das Gemeinwohl steht hintenan. So entstehen neue Wartelisten! Zwar werden die Menschen ambulant minimalst begleitet. Es werden jedoch stationäre Wohnangebote von Menschen blockiert, die bei entsprechendem Wohnangebot mit weniger intensiver Begleitung ambulant begleitet werden könnten. Viele Klienten geraten so in die Obdachlosigkeit.
Dienste im Nahbereich bieten eindeutig Vorteile
Die Vorteile der Ausrichtung auf die ambulante Begleitung liegen für die Betroffenen auf der Hand. "Gemeindenahe Versorgung und Begleitung" heißt das Zauberwort. Im unmittelbaren Nahumfeld des eigenen Wohnbereiches erreichbare Dienstleistungen, Angebote zur Tagesstruktur sowie Beratung und Krisendienste im Hintergrund sind in den letzten zehn Jahren entstanden. Viele Menschen nutzen diese Unterstützung.
Gab es vor 2003 nur begrenzt ambulante Plätze im Personalschlüssel 1:12, so ist seit der "Ambulantisierung" die Anzahl der Menschen sehr stark angestiegen, die ambulante Eingliederungshilfe erhalten. Geht man aufrichtig mit den Zahlen um, die als Prognosen in den Vorlagen zum Beschluss angeführt wurden, um den Paradigmenwechsel einzuleiten, so wundert dieser rasante Anstieg der Fallzahlen nicht. Vor 2003 gab es im betreuten Wohnen für geistig und mehrfachbehinderte Menschen nur eine sehr geringe Anzahl an ambulanten Angeboten. Das erwartete Wachstum an stationären Plätzen ist ausgeblieben. Es gab hier vielmehr einen leichten Rückgang.
Bürokratie erschwert den Alltag der Dienstleister
Die neue Institution ist der Hilfeplan. Alles wird den bürokratischen Vorgaben unterworfen. Es muss geplant werden, was nötig ist. Es muss erbracht werden, was gebraucht wird beziehungsweise was geplant ist. Hier gibt es oftmals situative Widersprüche. Reglementarien bei der Erfassung und Dokumentation der Leistungen sind festgelegt. Flexibilisierung und Spontaneität sind nur bedingt möglich.
Der Verwaltungsaufwand hat sich im Vergleich zu früheren Zeiten um ein Vielfaches erhöht. Die komplette Verwaltungsstruktur musste umgebaut werden. Lieferscheine, Quittierungen, Rückläufe, Überprüfungsroutinen, Risikoabwägungen führen zu einer Dominanz der Zahlen im sozialen Versorgungssystem. Und dies vor dem Hintergrund knapper Kassen oder vielleicht gerade deshalb. In dieser Situation ist es nur noch unter Mühen möglich, den Fokus auf Inhalte und Qualität der notwendigen Bedarfe zu richten. Hier brauchen wir eine Kultur des Streitens mit den Leistungsträgern, die der Sache und damit den Menschen dient. Gegenseitige Vorhaltungen und Vorurteile, der eine wolle nur sparen und der andere hätte nur wirtschaftliche Interessen, sind der Sache nicht dienlich.
Die Anzahl der privaten Anbieter für soziale Dienstleistungen nimmt zu. Das Verhältnis der freien Wohlfahrtspflege zum Staat steht auf dem Prüfstand. Der Druck im System wächst stetig an.
Die Ansprüche aller Beteiligten, der Menschen mit Beeinträchtigungen, der Angehörigen, der Kostenträger und der Mitarbeiter(innen), nehmen ebenfalls immer mehr zu und werden deutlicher formuliert als je zuvor. Dies ist auch gut so. Jedoch führen zeitliche Vorgaben, Pünktlichkeit bei der Lieferung der sozialen Dienstleitung, die Vertragsgestaltung nach Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB), der stetig wachsende Termindruck und die fachlich gebotene und zu Recht von Betroffenen geforderte personelle Kontinuität zwangsläufig in eine Sackgasse. Wir verlangen von unseren Mitarbeiter(inne)n immer mehr Flexibilität. Sie sind als "Einzelkämpfer" im Berufsalltag unterwegs. Dies gepaart mit dem Termindruck führt zu Arbeitsbedingungen, die krank machen!
Das System steht vor dem Zusammenbruch
Wir haben in den letzten elf Jahren fast alles auf den Kopf gestellt. Dies gilt nicht nur für uns als Träger von Einrichtungen und Diensten, sondern auch für den Kostenträger Landschaftsverband Rheinland (LVR). Derzeit machen wir Grenzerfahrungen, das heißt, das System in der jetzigen Form ist nicht mehr belastbar. Bei allen im System beteiligten Menschen und Trägern machen sich Überforderungstendenzen breit. Die Anforderungen an Menschen mit Behinderung, die durch die Haltung "ein jeder ist seines Glückes Schmied" überfordert sind - ist doch jeder nicht beeinträchtigte Mensch hiermit bereits überfordert -, lässt viele Menschen durch die Netze fallen.
Wer einmal mit Menschen daran gearbeitet hat, ihr Verhalten zu verändern, dem ist bekannt, dass hierzu ein Umdenken nötig ist. Inklusion ist mittlerweile fast schon zum Reizwort geworden. Die Barrieren in der Gesellschaft sind nicht damit beseitigt, dass man Bürgersteige absenkt und über die inklusive Schule diskutiert. Es geht vielmehr um die Barrieren in den Köpfen der Menschen.
Was wirkt?
Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz, die Kommunalverbände und auch die Leistungsträger fordern immer mehr die Wirksamkeitsüberprüfung von finanzierten Maßnahmen. Hier geeignete Methoden und Instrumente zu entwickeln ist nicht einfach, und es ist fraglich, ob dies überhaupt gelingen kann. Die Frage lautet also: "Was wirkt?" Die Beziehungen zwischen Menschen lassen sich nicht standardisieren! Handlungsansätze und Methoden schon!
Wir haben als Träger in den letzten zwei Jahren ein Forschungsprojekt in Kooperation mit der Hochschule Niederrhein durchgeführt. Hierbei wurden bei mehr als 100 Klienten des betreuten Wohnens die Wirksamkeit der Unterstützungsleistungen abgefragt. Um die Ergebnisse zu bewerten und zu überprüfen, müssten sich jedoch mehr Träger an einer erweiterten Untersuchung beteiligen.
Passgenaue Hilfen sind das A und O
Die Personenzentrierung bietet den klaren Vorteil, dass jeder in den Blick genommen wird - und dies immer wieder! War es in der Vergangenheit so, dass Entwicklungsberichte durchschnittlich alle zwei bis fünf Jahre angefordert wurden, so wird in der Gegenwart in der Regel ein neuer Hilfeplan bereits nach einem beziehungsweise nach dem zweiten Jahr neu erstellt. Im Sinne von "kontinuierlichen Verbesserungsprozessen" (KVP) werden die Entwicklungen bewertet und jeweils neue Ziele sowie der Hilfebedarf eruiert und festgeschrieben.
So erhalten auch die Menschen Hilfe, die bislang mehr oder weniger verwahrt wurden oder durch die Netze gefallen sind. Personenzentrierung bedeutet, individuelle, passgenaue Hilfen zu organisieren. Dabei ist der Qualifikationsmix der Mitarbeiter(innen) wichtig. Wir benötigen hoch qualifizierte Fachleute, aber auch "Menschen aus dem Leben", die eine Begleitung der Menschen mit Beeinträchtigungen sicherstellen. Wir haben flexible Strukturen geschaffen, die eine gemeindenahe Versorgung schnell und zuverlässig ermöglichen. Hierbei ist die Dienstleistungsorientierung der wichtigste Aspekt, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Haltung und Verhalten beherzigen müssen.
Ein wesentliches Problem stellt für alle der enorme zeitliche Druck dar, unter dem der Umbau des Sozialstaates stattfinden soll. Vieles, was sich bewährt hat, wird zu schnell aufgegeben. Das Hauptproblem ist jedoch die zu kleinteilige Diversifizierung der Hilfebedarfe und damit der Leistungen, in der Hoffnung, irgendwo noch Einsparungen machen zu können. Fluch oder Segen? Es liegt, wie bei allem im Leben, bei uns. Wir müssen standhaft bleiben an Stellen, wo es um schnellen, nur der Einsparung dienenden Veränderungsdruck geht. Wir müssen mutig sein, Neues zu wagen und uns in Nebelfelder hineinzubewegen, ohne genau zu wissen, ob es ein gutes Ende nimmt.
Wagen wir einen Blick zurück: Die Ordensgründerin der Dernbacher Schwestern, Katharina Kasper, wusste nicht, ob das, was sie tat, gelingen würde. Die Umstände waren alles andere als "lebensfreundlich". Die Gewissheit, dass der, der etwas in einer guten Absicht tut, und dies mit Umsicht, nicht scheitern kann, stellt eine wichtige Handlungsmaxime in der damaligen und auch heutigen Zeit dar. 1
Anmerkung
1. Grundlage dieses Beitrags ist ein Artikel des Autors im Tagungsband der Tagung der Aktion Psychisch Kranke: "Soziale Teilhabe - Handeln statt Warten auf die Reform", 2012. Zu finden unter:
www.psychiatrie.de/apk/publikationen, "Gleichberechtigt mittendrin - Partizipation und Teilhabe", S. 267-277.
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